Birgid Becker: Zwist unter den gesetzlichen Krankenkassen. Ein erzürnter Chef des AOK-Bundesverbandes wirft seinem Kollegen von der Techniker Krankenkasse vor zu schummeln. "Warum schummelt der TK-Chef", fragt Martin Litsch heute per Pressemitteilung, nachdem zuvor der Chef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" erklärt hatte, die gesetzlichen Krankenkassen, die schummelten alle in großem Stil bei den Leistungen.
Was steckt dahinter und ist der Versicherte womöglich in diesem Konflikt der beschummelte Dritte? Um das zu klären, zu erklären, begrüße ich Stefan Greß, Gesundheitsökonom an der Hochschule Fulda. Guten Tag.
Stefan Greß: Guten Tag, Frau Becker.
Becker: Herr Greß, den Konflikt kann man ja nur verstehen, wenn man ganz kurz versucht zu umreißen, welches System dahinter steckt, und das würde ich jetzt ganz grob versuchen, so zu beschreiben: Aus diesem großen Gesundheitsfonds, in den alle Beiträge der Krankenversicherten fließen, aus diesem großen Fonds erhalten die einzelnen Krankenkassen ihre Gelder nach einem ziemlich komplizierten System, das aber am Ende dazu führen soll, dass es für schwere Krankheiten, die teuer zu behandeln sind, auch mehr Geld gibt als für billigere oder leichtere Krankheiten. Und an der Stelle setzt dann die Sache mit dem Schummeln ein, oder?
Greß: Ja, so ähnlich ist das. Dieser sogenannte Risiko-Strukturausgleich soll verhindern, dass Krankenkassen, die viele kranke, überdurchschnittlich kranke Versicherte haben, finanziell benachteiligt werden und dann höhere Zusatzbeitragssätze nehmen müssen. Das ist ein ziemlich ausgeklügeltes System und die Techniker Krankenkasse ist nun mal eine Krankenkasse, die überdurchschnittlich viel gesunde Versicherte hat, historisch bedingt, und deswegen gehört es sozusagen zur Jobbeschreibung eines TK-Chefs, gegen dieses System vorzugehen.
Becker: Was hätte denn konkret eine Kasse davon, wenn der Arzt eine andere Diagnose erstellt, als tatsächlich gegeben wäre? Wie würde sich das für die Kasse finanziell positiv auswirken?
Greß: Dieser Risiko-Strukturausgleich zielt auf Krankheiten ab, 80 Krankheiten insgesamt, und je schwerer die jeweilige Krankheit ist, desto mehr Geld bekommt die Krankenkasse. Das ist allerdings nicht so ganz einfach für die Krankenkasse, dieses System zu manipulieren, denn erstens geht das über Diagnosen ambulanter und stationärer ärztlicher Diagnosen und zweitens spielen da auch noch Arzneimittelverordnungen eine Rolle. Herr Baas hat ja gesagt, beispielsweise wird bei Diabetes geschummelt; das ist gar nicht so einfach, weil dann müsste der Arzt auch noch eine falsche Arzneimittelverordnung ausstellen, und das halte ich für nicht realistisch.
Becker: Das heißt, dieser Vorwurf, dass Ärzte gelockt würden, schwerwiegendere Diagnosen zu stellen, damit die Kasse des Patienten mehr Geld erhält, so einfach funktioniert das dann doch nicht?
Greß: Nein, so einfach ist das nicht. Wenn, dann müssten die Krankenkassen erst die Ärzte überzeugen, und es wird ja gesagt, für zehn Euro sollten sie das dann machen - halte ich für schwierig. Ich will nicht ausschließen, dass es da Einzelfälle gibt, aber die Zahlen, die Herr Baas da in dem Interview nennt, im dreistelligen Millionen- bis in den Milliarden-Bereich, die sind zumindest nicht belegt.
Becker: Welchen Schaden trägt denn eigentlich in diesem System, wenn es denn manipulationsanfällig ist, der Versicherte davon?
Greß: Grundsätzlich ist das ein Nullsummen-Spiel, volkswirtschaftlich gesehen. Wenn die eine Krankenkasse mehr Geld aus dem großen Topf bekommt, dann kriegt die andere weniger, ohne dass insgesamt weniger Geld zur Verfügung steht. Aber natürlich ist es eine Ressourcenverschwendung aus Sicht des Versicherten, wenn sich die Krankenkassen auf diese Manipulation, wenn es sie denn gibt, konzentrieren und sich nicht auf die Versorgung der Versicherten konzentrieren.
Becker: Sie sagten, es gehöre zur Jobbeschreibung eines bestimmten Typus von Krankenkassenchefs, den Risiko-Strukturausgleich zu kritisieren. Steckt hinter diesem Vorwurf des gegenseitigen sich Beschummelns ein Konflikt der Krankenkassen?
Greß: Ja natürlich! Der Risiko-Strukturausgleich, da werden über 200 Milliarden Euro jährlich verteilt, und selbst wenn es kleine Änderungen in der Systematik gibt, sind das immer Milliarden-Beträge, die da umverteilt werden, und da ist auch zu sehen, dass die Herr Baas oder auch Herr Litsch von der AOK natürlich keine neutralen objektiven Beobachter sind, sondern massive Interessen haben, die jeweiligen Krankenkassenarten vertreten, der eine die Ersatzkassen, der andere die Allgemeinen Ortskrankenkassen.
Becker: Nun schwelt ja seit Monaten innerhalb dieser Kassenlandschaft eine Diskussion darüber, ob die Politik noch vor der Bundestagswahl Änderungen an diesem Finanzausgleich, diesem Risiko-Strukturausgleich vornehmen soll. Soll sie?
Greß: Erstens wird sie nicht. Das wird vor der Wahl die Politik nicht mehr anpacken. Ich halte es auch nicht für sinnvoll, weil das System insgesamt relativ kompliziert ist, und wenn man da nur an einer Stelle was ändert, dann weiß man nicht, was an der anderen Stelle passiert. Deswegen halte ich eine Gesamt-Evaluation des Systems nach der Bundestagswahl für sinnvoll.
Becker: Und den grundsätzlichen Gedanken dieses Risiko-Strukturausgleichs, dass solche Kassen, die mehr kranke Versicherte haben mit erheblichem Behandlungsbedarf, auch entsprechend mehr Geld haben sollen, den ziehen Sie nicht in Zweifel? Der ist schon grundsätzlich richtig nach Ihrer Einschätzung?
Greß: Solange wir der Auffassung sind, dass die Krankenkassen im Wettbewerb miteinander stehen sollen, ist ein gut funktionierender Risiko-Strukturausgleich unentbehrlich.
Becker: Der Gesundheitsökonom Stefan Greß war das zum Schummel-Konflikt um den Risiko-Strukturausgleich, den die gesetzlichen Krankenkassen im Moment austragen.
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