"Der eigentliche Hemmschuh lag und liegt in einer traditionell handelnden Bürokratie, vor allem der Rententräger, die eine extrem restriktive Position gegenüber den Überlebenden des Holocaust eingenommen hat, und dafür letztlich verantwortlich ist, dass es zunächst über 90 Prozent Ablehnungen gab, und die erst unter dem Druck am Ende des höchsten Gerichts in dieser Frage, des Bundessozialgerichts, erkennen musste, dass sie über Jahre falsch entschieden hatte."
Verschleppungstaktik der Rentenversicherer sei das – für Jan-Robert von Renesse geradezu ein Lehrstück deutscher Bürokratie.
"Es ist jetzt die Politik, die im Grunde genommen die Scherben zusammenkehrt, die Bürokratie und Teile der Rechtsprechung hinterlassen haben."
Der 47-jährige Richter war von 2006 bis 2010 beim nordrhein-westfälischen Landessozialgericht in Essen zuständig für Rentenzahlungen an Juden, die in einem Getto arbeiteten und heute in Israel leben. Von dort war es für die Kläger schwierig, gegen ihre abgelehnten Anträge vorzugehen.
"Für die Überlebenden des Holocausts waren diese Verfahren eine weitere tiefe Demütigung und eine schlimme Verletzung ihrer Würde, weil ihnen im Kern nicht geglaubt wurde, und sie wurden nicht gehört."
Diese Praxis konnte absurde Auswüchse annehmen, sagt Jan-Robert von Renesse.
"Selbst in Fällen, wo Überlebende nur wenige hundert Meter von dem Rententräger entfernt wohnen, also etwa in Düsseldorf, hat man, statt mit ihnen zu sprechen, lieber einen Fragebogen verschickt mit sehr juristisch formulierten Fragen. Ein Kollege von mir hat das mal sehr treffend zusammengefasst in Bezug auf die Fragebögen, dass es gar nicht möglich ist, fünf Jahre Hölle in fünf Zeilen zusammen zu fassen."
Richter Renesse besucht Betroffene vor Ort
Entscheidung nach Aktenlage – Richter von Renesse geht einen anderen Weg, um den Einzelschicksalen gerecht zu werden. Er besucht die Kläger in Israel und will genau wissen, wie war das Leben in einem Getto im September 1942 in Ostpolen. Er schaltet zusätzlich einen Kreis von Historikern ein.
"Man findet unglaublich viel. Der Holocaust ist ja in weiten Teilen auch ein Exzess der Bürokratie gewesen und hat eine Flut von Papieren und Dokumenten hinterlassen, trotz aller Versuche der Deutschen, die Beweise zu vernichten. Das heißt, wenn heute Historiker in den Archiven Osteuropas suchen, dann finden sie häufig auch wirklich Spuren zu ganz konkreten einzelnen Menschen, sagen wir mal einer Glaserei im Getto Petrikau, Glaserei Hortensia, da habe ich Verfahren gehabt, wo das gelungen ist, den Namen des Klägers auf der Lohnliste zu finden."
Bis 1997 gibt es überhaupt keine Getto-Renten. Begründung: Arbeit im Getto sei Zwangsarbeit gewesen, und Zwangsarbeit sei bereits aus den Mitteln der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft entschädigt worden. Doch dann erstreitet eine ehemalige Näherin aus dem Getto Lodz zum ersten Mal eine deutsche Rente vor dem Bundessozialgericht in Kassel. Berechtigt, sagt Richter von Renesse.
"Es wurden Sozialversicherungsbeiträge eingefordert mit vorgehaltener Waffe von den Judenräten, und sie wurden auch bezahlt. Das heißt, die Überlebenden haben einen echten Rentenanspruch. Es ist kein Almosen, das ist gutes Recht."
Neuer Gesetzesentwurf der Großen Koalition
Der Bundestag verabschiedet bereits 2002 das Getto-Rentengesetz, das den Überlebenden Altersbezüge rückwirkend ab 1997 zugesteht. 70.000 ehemalige Gettobewohner stellen Anträge. Die Meisten gehen leer aus. Doch dann bringt Richter von Renesse Bewegung in die Sache. Sein Vorgehen beeinflusst das Bundessozialgericht. Dieses macht es für die Betroffenen in einem Grundsatzurteil 2009 leichter, an ihr Geld zu kommen. Die Hälfte der Anträge wird nun bewilligt. Aber die Rentenversicherung stellt sich quer. Sie gewährt Altersgeld rückwirkend erst ab 2005 mit dem Argument, das deutsche Sozialrecht sehe das grundsätzlich nur für vier Jahre vor. SPD, Grüne und Linkspartei wollen im Bundestag sicherstellen, dass die Versicherer ab 1997 auszahlen. Sie scheitern damit 2013 an der damaligen schwarz-gelben Regierung. Der neue Gesetzentwurf der Großen Koalition will das jetzt endgültig festschreiben.
"Der Politik ist im Ergebnis klar geworden, dass diese Frage zu wichtig ist, um sie Bürokraten zu überlassen, und sie hat dann gehandelt."
Auch weil Jan-Robert von Renesse nie aufgegeben hat. Er wird im Bundestag als Sachverständiger gehört. Doch die Richterkollegen des eigenen Landessozialgerichts empfinden ihn als Störenfried. Sie entscheiden weiter nach Aktenlage.
"Ich habe versucht, für meine Auffassung zu werben, und es ist im Ergebnis zu einem großen Konflikt geworden, das ist wahr, bis hin zu einem Disziplinarverfahren."
Dieses schwebt noch. Das Landessozialgericht wirft ihm vor, den Ruf des Gerichts zu beschädigen. Von Renesse dagegen fühlt sich wie im schlechten Krimi. Er wurde 2010 in einen anderen Senat des Landessozialgerichts versetzt. Für die Gettorenten ist er nicht mehr zuständig. Er sieht sich an seiner Arbeit gehindert und seine richterliche Unabhängigkeit eingeschränkt. Von Renesse schaltete die Politik ein, bislang ohne Erfolg. Warum setzt er sich diesem Druck aus?
"Ich habe selber auch nicht nur Täter des Holocaust, sondern auch Opfer in der eigenen Familie, und denen könnte ich nie unter die Augen treten, wenn ich mich nicht so verhalten hätte, wie ich mich verhalten habe."
Für viele Betroffene kommt die neue Regelung zu spät. Sie sind bereits verstorben. Im April will der Deutsche Bundestag das Gesetz verabschieden. Dann könnten die Renten rückwirkend ab 1997 endlich zügig ausgezahlt werden.
"Das kann ich nur hoffen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Verwaltung nicht doch noch Mittel und Wege ersinnt, um hier Sand ins Getriebe zu streuen. Sie kann wieder neue Formulare ersinnen. Der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt, leider. Wenn Sie als Bürokrat ein Verfahren in die Länge ziehen wollen, dann haben Sie im Prinzip bis zu Ihrer Pensionierung Zeit. Ja, das ist leider so."