Michael Köhler: Der EU-Gipfel auf Malta sollte unter anderem die Feierlichkeiten zum Jubiläum der Römischen Verträge vor 60 Jahren vorbereiten. Vor 25 Jahren, am 7. Februar 1992 trat der Maastrichter Vertrag zur Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit in Kraft. Gegenwärtig befindet sich die europäische Staatengemeinschaft in einer Art Selbstfindungskrise.
"Flüchtlingskrise hat den Mangel an Solidarität deutlich gemacht"
Mit der Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan, Kandidatin für das Bundespräsidentenamt 2004 und 2009 und ehemalige Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder, habe ich darüber gesprochen. Zuerst habe ich sie gefragt: Die Geschlossenheit Europas wurde durch die Finanz- und Flüchtlingskrise auf eine harte Probe gestellt. Kommen nun die USA als offene Flanke hinzu?
Gesine Schwan: Ich glaube, dass die Flüchtlingskrise den Mangel an Solidarität, den es seit Jahren, ganz akut seit der Bankenkrise gab, nur deutlich gemacht hat. Es sind nicht die anderen Staaten, die keine Flüchtlinge aufgenommen haben, die einen Mangel an Solidarität hervorgebracht haben, sondern die Solidarität innerhalb der EU ist schon über Jahre lang, und zwar vor allen Dingen durch eine ökonomische Politik, die von der Bundesregierung den Ländern oktroyiert worden ist - natürlich gab es auch immer ein paar wie Niederlande oder Finnland unter konservativer Regierung, die das unterstützt haben -, aber durch dieses und durch den Abweis solidarischer Hilfe ist das schon lange zermürbt worden. Dass jetzt sozusagen noch dazu nach einem Stil, wo Frau Merkel sehr häufig ihre Nachbarländer nicht gefragt hat - weder bei der Energiewende hat sie gefragt, noch bei dieser Flüchtlingspolitik hat sie ja verhandelt mit den anderen -, dass die dann sagen, jetzt schlagen wir sozusagen zurück und wir zeigen Dir mal, was eine Harke ist, ist verständlich gewesen. Aber hier liegt die Ursache nicht jetzt anfänglich einfach bei den anderen Staaten, sondern die liegt schon in der deutschen Bundesregierung, die die größte Macht hat und deswegen auch die größte Verantwortung trägt.
Ich möchte auch darauf aufmerksam machen, dass es auch in Polen zum Beispiel eine ganze Reihe von Initiativen gibt, um Flüchtlinge aufzunehmen, sowohl in Städten als auch in manchen katholischen Gemeinden. Die Gesellschaft ist nicht einfach identisch mit der PiS-Regierung. Aber die Europäische Union ist in der Tat in einer gravierenden Krise, in der größten, die ich erlebt habe, und auch einer, wo es wirklich schlecht ausgehen kann. Der Brexit hat das gezeigt, da ist zum ersten Mal markant die Auflösung und nicht eine weitere Integration geschehen, oder der Auflösungsschritt prophezeit worden oder auch in Gang gesetzt worden. Da ist sehr viel passiert und es muss auch viel passieren, damit diese EU nicht sich noch mehr auflöst.
Köhler: Ich greife einige Stichworte, die Sie genannt haben, gerne auf. Wir wollen jetzt nicht über amerikanische Weltflucht und Protektionismus sprechen, über Antiglobalisierung und antieuropäische Politik. Aber es ist doch zu erkennen: Großbritannien ist ausgeschert, wirft sich gerade durch Regierungschefin May so ein bisschen in die Arme des neuen amerikanischen Präsidenten. Könnten Weitere folgen? Nehmen wir mal das Beispiel Polen. Könnte es einen Polexit geben?
Schwan: An steht akut ja am ehesten mit der Wahl in den Niederlanden, aber vor allen Dingen mit der Präsidentenwahl in Frankreich die Gefahr. Die polnische Gesellschaft ist die, die nach allen Umfragen immer noch am meisten proeuropäisch ist. Ich glaube nicht, dass die PiS-Regierung so einen Antrag stellen wird. Sie würde sich dann auch, was materielle Quellen angeht, …
"Die Situation in Frankreich ist mit den Kandidaten sehr unübersichtlich geworden"
Köhler: Die Ungarn!
Schwan: Auch die Ungarn wollen zwar alle ihre eigenen Süppchen kochen, aber sie wollen zum Beispiel die Unterstützung durch die Europäische Union nicht wirklich verlieren. Und selbst wenn Orbán, der wenigen von uns sympathisch ist, klar versucht, die Demokratie, die auf Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung beruht, abzuschaffen zugunsten einer Machtkonzentration bei ihnen, auch durch alle möglichen anderen Maßnahmen, hat er, glaube ich, im Moment nicht vor, aus der Europäischen Union auszutreten, was aber Marine Le Pen ganz ausdrücklich will. Und die Situation in Frankreich ist mit den Kandidaten sehr unübersichtlich geworden.
Ob sich eine quantitativ sicher vorhandene Mehrheit gegen Marine Le Pen dann politisch auch so organisieren lässt, ist noch sehr die Frage. Da sind große Gefahren und ich glaube, wir müssen sehr schnell gegen diese Rechtstendenzen, die ja ihren Ursprung in erheblichen sozialen und ökonomischen Veränderungen in den Gesellschaften haben und auch Polarisierungen und großen Unterschieden zwischen arm und reich, wir müssen denen so entgegentreten, dass die Bürger ganz handfest merken, dass die Europäische Union ihnen das gibt, was sie eigentlich wollen, nämlich wieder eine politische Ermächtigung, gleichsam. Wieder gestalten können, und das könnte man zum Beispiel tun, indem man ganz massiv in Europa die Gemeinden finanziert, etwa in der Flüchtlingskrise dafür, dass man ihnen Geld gibt dafür, dass sie sich bewerben können für einen Fonds, dass sie Flüchtlinge mit guten Konzepten der Integration und so weiter aufnehmen, und eine selbe Summe noch mal draufgeschlagen wird, dass die Gemeinden auch andere Entwicklungsinvestitionen tätigen können, sodass nicht nur etwas für die Flüchtlinge geschieht, sondern zwischen Flüchtlingen und Gemeinde eine gemeinsame Weiterentwicklung geschehen kann. Das wäre jetzt ein handfest spürbarer Schritt, da muss man sehr drum kämpfen.
"Die Nato hat sich überhaupt nicht erübrigt"
Köhler: Ich höre da raus, Ihnen reicht jetzt nicht, wenn Donald Tusk sagt, die EU soll jetzt ihren Stolz zeigen. Lassen Sie uns doch vielleicht für die nächsten paar Minuten mal versuchen, einen Gedanken zu wagen, einen wagemutigen. Ich weiß es von den Schwarzmeer-Ländern, von Rumänien, für die war die NATO immer wichtiger als die EU. Für Deutschland ist Europa ein identitätsstiftendes Friedensbündnis, für Osteuropäer vielleicht weniger. Sind die NATO, Frau Professor Schwan, und die EU noch zeitgemäß, oder sind sie Kinder der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts?
Schwan: Das ist jetzt im Moment, wie ich den Eindruck habe, eine Mode in verschiedenen politischen Couleurs, so zu tun, als sei alles das, was im 20. Jahrhundert entstanden sei, nicht mehr zeitgemäß, und dabei dann im Grunde zu provozieren eine Auflösung in Richtung Renationalisierung und Nationalstaaten und damit zurückzugehen ins 19. Jahrhundert, statt nach vorne zu schreiten ins 21. Jahrhundert. Es gibt eine ganze Reihe von Punkten, die zu reformieren sind. Nehmen wir die NATO. Die NATO war nicht nur ein Bündnis gegen die Sowjetunion; es war immer auch eine Organisation, die verhindern sollte, dass auch in Europa die Nationalstaaten gegeneinander noch mal Krieg führen können. Wir haben gemeinsame Korps und so weiter.
Das heißt, die Einbindung der Nationalstaaten gegen Dynamiken, ökonomische oder militärische Dynamiken, die sie wieder gegeneinander richten könnten, ist eine wichtige Funktion der NATO immer gewesen, und sie bleibt. Sie hat sich überhaupt nicht erübrigt, auch wenn es keine Sowjetunion mehr gibt, auch wenn man auf längere Sicht versuchen muss, wieder zu Verständigungen auch mit Russland zu kommen, aber nicht einseitigen Verständigungen oder Erpressungen.
Köhler: Dem Westbündnis - Entschuldigung, wenn ich dagegenhalte - ist doch gewissermaßen der Osten abhandengekommen.
Schwan: Ja! Aber ich sage doch: Das Westbündnis hatte immer die Idee, von vornherein bei der Entstehung, zum Beispiel Deutschland einzubinden. Das war immer. Das wurde natürlich nicht propagiert, weil man Deutschland ja brauchte, und man wollte Deutschland nicht diskreditieren. Aber, wenn ich das jetzt verallgemeinere, es unmöglich zu machen, dass die Nationalstaaten durch alle möglichen Dynamiken, die von innen passieren können und die wir im Europa der letzten Jahre ja gemerkt haben, mit nationalen Vorurteilen, die wieder erwacht sind und mobilisiert worden sind, dass diese Nationalstaaten durch eine gesellschaftliche auch zum Beispiel Verzahnung der Armeen, durch gemeinsame Headquarters von Polen und Deutschen und so weiter, dass diese Nationalstaaten daran gehindert werden, wieder in die alte 19. Jahrhundert Dynamik reinzurutschen, was immer passieren kann, weil dieser Nationalismus einfach ein Bedürfnis nach Ressentiments und so weiter bedient, das umso größer wird, je schlechter die soziale Situation von Teilen der Gesellschaft ist.
Wir stehen doch vor der Jahrhundertaufgabe, dass ein ungezügelter Kapitalismus, der einfach nicht zum sozialen Ausgleich führt, sondern zum Gegenteil, im 20. Jahrhundert durch Nationalstaaten gebändigt worden ist, vor allen Dingen nach dem Zweiten Weltkrieg, aber damit auch Dynamik der Nationalstaaten wieder verstärkt werden kann. Und das ist keine Möglichkeit, diese Dynamik, diese sozialzerstörerische Dynamik, die der ungeregelte Kapitalismus hat, einzudämmen. Wir brauchen dazu eine globale politische Regelung. Die ist komplizierter als eine nationalstaatliche, aber die ist notwendig und alles, was zurückgeht ins 19. Jahrhundert, führt zu Explosionen.
Köhler: Höre ich da richtig raus, wir sollten uns weniger Gedanken über den Spaltpilz USA machen als vielmehr darüber, wie wir den Wohlfahrtsstaat stärken?
Schwan: Ganz sicher! Wohlfahrtsstaat klingt wieder nationalstaatlich. Aber wie wir die soziale Sicherheit der Menschen auch transnational stärken und so, dass sie es merken, aber nicht nur die soziale Sicherheit, dass sie eine Rente kriegen, sondern auch, dass sie selbst mitgestalten können. Globalisierung zum Beispiel im Klimaschutz wird ja auch auf Gemeindeebene gestaltet und damit entstehen Zusammenhänge. Damit begreift man viel mehr was passiert, wenn bestimmte Inseln im Pazifik untergehen. Das merkt man ja normalerweise nicht, wenn man hier in Deutschland ist, außer man verreist dahin.
"Es gibt so eine fatale Dynamik"
Köhler: Hat Peter Glotz immer schon gesagt: Den sauren Regen kann man nicht in Hessen alleine lösen.
Schwan: So ist es, genau das, und das alles sind Aufgaben, die wir nicht nur transnational machen müssen, sondern wo wir auch wiederum auf der Ebene der Kommunen sehr viel mehr machen können, weil die nationalen Staaten und Regierungen ja leider - das ist auch nicht ganz einfach zu vermeiden - in dem Machtwettbewerb und den nationalen Wahlen immer auf ihr nationales Publikum gucken, was sie manchmal übrigens in der Einsicht unterschätzen. Ich glaube, dass die Deutschen zum Beispiel bei Weitem mehr großzügig denken würden, eine gewisse Großherzigkeit auch in Europa aufbringen würden, wenn ihnen nicht immer so eine engstirnige Geschichte erzählt würde über die Schuld der Südländer und so weiter. Da ist viel mehr möglich, aber es gibt so eine fatale Dynamik, auch zum Beispiel in Frankreich immer nach Le Pen zu gucken oder bei uns bei der AfD und dann sich selbst zu radikalisieren und zu meinen, damit gewinnt man die zurück.
Das ist ja eine Dynamik, die weit über das Gewicht der Rechten hinausreicht. Die Herausforderung besteht darin, die globale Entwicklung, ein ungezügelter Kapitalismus, erst recht Finanzkapitalismus, die Diskrepanzen zwischen arm und reich verstärkt und verschärft und damit sozialen Explosionsstoff schafft, diese Entwicklung zu gestalten zugunsten von mehr Gerechtigkeit und mehr Gleichheit. Wohlfahrtsstaat war eine nationalstaatliche Regelung; wir müssen das transnational machen und da sollten auch die Gemeinden und die Aktivität der Bürgerinnen und Bürger eine große Rolle spielen.
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