In der Debatte um Identitätspolitik hat die SPD-Politikerin und Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission ihren Parteigenossen Wolfgang Thierse in Teilen verteidigt. Der ehemalige Bundestagspräsident hatte sich im Deutschlandfunk und der ″Frankfurter Allgemeinen Zeitung″ für mehr Diskurs und gegen Debattenverbote ausgesprochen und sich damit viel Kritik eingebracht. Thierse sagte, eine pluralistische Gesellschaft könne nur funktionieren, wenn die Unterschiedlichkeiten zu Wort kämen. Er beobachte aber Radikalisierungen des Diskurses, die eher die Konfrontation verschärften. Identitätspolitik von rechts führe zu Hass und Gewalt, Identitätspolitik von links führe zu "Cancel Culture". Das bedeute, man wolle sich nicht mehr mit Menschen anderer Ansicht auseinandersetzen - was "ziemlich demokratiefremd" sei.
In diesem Zusammenhang hatte Thierse auch ″Verordnungen″ von gendersensibler Sprache kritisiert sowie die Umbenennung von Plätzen und Straßen mit kolonialer Vergangenheit. Auch das sogenannte Blackfacing, das Schminken mit schwarzer Gesichtsfarbe, verteidigte er im Dlf. Die Kritik an Thierse hatte daraufhin auch innerhalb seiner Partei Reaktionen ausgelöst. Thierse soll sogar seinen Austritt aus der Partei angeboten haben. Daraufhin gab es ein Telefonat zwischen der Bundesvorsitzende Saskia Esken, ihrem Stellvertreter Kevin Kühnert und Wolfgang Thierse.
- Wolfgang Thierse hat eine Debatte über Identitätspolitik angestoßen, die wir an folgenden Stellen weiterführen.
- Interview mit Wolfgang Thierse (SPD) über Identitätspolitik
- Kommentar von Anna Seibt über Privilegien und Machtpositionen
- Interview mit Meron Mendel über Gefühle und Argumente
- Kommentar von Stephan Detjen über Journalismus als identitätspolitisches Bekenntnis
- Interview mit Andrea Geier über Verschiedenheit
Der Konflikt sei nun beendet, glaubt Gesine Schwan. Die von Thierse angestoßene Debatte sei aber nicht nur eine für die SPD, sondern für die ganze Gesellschaft. Vorrang habe, allen Menschen die gleiche Chance der Anerkennung zu bieten. Es habe keinen Sinn, "immerfort in solche Einzelheiten zu gehen", etwa beim Gendern. Die Welt und die Sprache könne man nicht auf dem Reißbrett entwerfen. Diskriminierung in der Sprache müsse überwunden werden. "Aber das heißt noch nicht, dass wir deswegen eine Durchsystematisierung brauchen von allem und allem, denn das führt zu so viel Künstlichkeiten", so Schwan.
Das Interview in ganzer Länge
Tobias Armbrüster: Die Aussagen von Wolfgang Thierse haben zu einer heftigen Kontroverse geführt, auch innerhalb der SPD. Da schwelt diese ganze Debatte um Identitäten schon etwas länger. Die Co-Vorsitzende Saskia Esken hat deshalb in dieser Woche auch gesagt, sie sei beschämt über das rückwärtsgewandte Bild, das da gerade von ihrer Partei gezeichnet wird. Frau Schwan, schämen Sie sich auch?
Gesine Schwan: Nein, ich schäme mich gar nicht, und ich glaube auch, dass die beiden, die das initiiert haben mit dieser Beschämtheit, ihr Vorgehen inzwischen bedauern, sich auch bei uns entschuldigt haben, dass sie da einen Eindruck erweckt haben, sie würden sich von uns distanzieren. Das ist, glaube ich, beendet. Die Debatte darüber, wie die Chancengleichheit, wie die gleiche Würde aller Menschen in all den verschiedenen Herkünften wirklich gestaltet werden kann, dass das für alle eine Befriedung darstellt, die ist ja nicht nur eine Debatte für die SPD, sondern generell, aber die SPD hat sie auch. Es ist aber keine in dem Sinne parteiinterne Debatte, dass es darüber großen Dissens gibt. Wir haben zwei Konsense, die sind für alle flächendeckend. Das eine ist, dass diese Debatte in der gesamten Gesellschaft geführt werden muss. Und die zweite ist, dass es unsinnig ist, in der Frage der gleichen Würde, der Anerkennung die sozialen, die ökologischen Dinge gegen die kulturellen auszuspielen. Das ist Unsinn! Die gehören zusammen. Wer nicht anerkannt ist, weder im ökologischen, in der Arbeitssituation, noch in seiner Herkunft, seiner kulturellen Identität, dem ist die Chance der gleichen Würde nicht gegeben. Das ist eigentlich das Wichtigste, dass wir das zusammen sehen.
″Da müssen wir positive Antworten dafür finden″
Armbrüster: Das habe ich jetzt nicht so ganz verstanden. Was heißt das jetzt konkret? Heißt das, so eine Debatte zum Beispiel über das Blackfacing, das sehr, sehr viele Menschen als rassistisch bezeichnen, diese Debatte, das kann man in der SPD nach wie vor ganz offen diskutieren?
Schwan: Ja, natürlich! Wir sind eine freiheitliche Partei. Aber das ist nicht der Vorrang unserer Probleme. Der Vorrang ist, dass wir wirklich allen Menschen die gleiche Chance der Anerkennung bieten. Es hat keinen Sinn, immerfort in solche Einzelheiten zu gehen, natürlich auch beim Gendern der Sprache zum Beispiel. Da gibt es überall auch zwischen Männern und Frauen große Unterschiede. Es ist nicht so, dass alle Frauen fürs Gendern sind, und es ist nicht so, dass alle Männer gegen das Gendern sind. Das sind Folgen, etwa diese Sprache. Das sind Folgen dessen, dass unsere Gesellschaft immer bunter wird und auch zugleich immer ungleicher geworden ist, und das hat sehr, sehr viele Verletzungen geschaffen. Das führt zu sehr viel Aggressivitäten, und das gilt nicht nur für unsere Partei, sondern für die gesamte Gesellschaft. Da müssen wir positive Antworten dafür finden.
Armbrüster: Was sagen Sie dann Leuten, die sagen, wir haben hier in Deutschland eine Sprache, die seit jeher bestimmte Menschen diskriminiert, Frauen zum Beispiel, die sich in der Sprache nicht wiederfinden und die jetzt sagen, wir wollen jetzt diesen Punkt setzen und möchten gerne eine Sprache haben, die auch uns Frauen wahrnimmt?
Schwan: Denen sage ich: Diese Diagnose, dass das eine männliche Sprache ist, die Frauen diskriminiert, ist richtig. Es ist auch richtig zu versuchen, das zu überwinden, weil Sprache Bewusstsein prägt. Aber das heißt noch nicht, dass wir deswegen eine Durchsystematisierung brauchen von allem und allem, denn das führt zu so viel Künstlichkeiten, dass viele Menschen davon abgewichen sind. Ich selbst habe da auch Veränderungen durchgemacht. Ich habe zunächst früher das sogenannte inklusive Maskulinum verwendet. Viele Frauen tun das auch heute noch. Heute habe ich mir überlegt, gerade in einer neuen Publikation über Politik trotz Globalisierung, dass ich doch diese Sternchensache anwende. Vielen Freundinnen von mir geht das auf die Nerven. Das verstehe ich. Aber das sind Probleme in der Sache. Die haben mit der SPD nichts zu tun, sondern damit, dass in der Tat Frauen in der Sprache meistens benachteiligt werden. Ich bin Professorin. Da sagt man inzwischen oft Frau Professorin Gesine Schwan. Am liebsten höre ich Gesine Schwan oder Frau Schwan, damit ist Feierabend. Aber wenn überall Minister, Professoren, Doktoren und so weiter in der männlichen Form sind, dann bekräftigt das das Bewusstsein, dass Frauen eigentlich das alles nicht können, und das müssen wir überwinden. Aber wir müssen pragmatisch sein. Die Welt und die Sprache, die kann man nicht nach dem Reißbrett einfach machen.
″In dieser Welt können wir keine perfekten Lösungen finden, auch nicht fürs Gendern″
Armbrüster: Frau Schwan, aber was heißt denn pragmatisch? Heißt pragmatisch jetzt, dass Sie diesen Leuten, die sich da missverstanden fühlen, die sagen, wir wollen jetzt gerne unsere Rechte haben, sagen Sie denen, da müsst ihr euch jetzt noch ein bisschen gedulden, vielleicht noch ein paar Jahre oder Jahrzehnte, bis wir diese Debatte hinter uns haben?
Schwan: Nein! Ich schreibe denen gar nichts vor, sondern ich sage, das ist der Status. Wir haben anerkannt seit langem, dass die Sprache Diskriminierung bekräftigt. Aber es gibt natürlich auch nicht nur die Diskriminierung zwischen männlich und weiblich. Ich habe neulich ein Beispiel gelesen von einer Frau, die sich gegen das Gendern wendet. Die sagt, wir sagen nicht mehr Lehrerzimmer; wir müssen dann sagen Lehrer*innen-Zimmer. Wir müssten dann aber auch sagen, Lehrer*innen jüdisch, christlich, muslimisches säkulares Zimmer. Das heißt, ich will damit sagen, sie führt das ad absurdum. Die soziale Zuordnung zwischen Männern und Frauen, diese Zweiteilung ist eine. Die ist wichtig, aber sie ist nicht die einzige. Wir haben sehr wohlsituierte weiße Frauen und wir haben diskreditierte muslimische Frauen. Wenn wir immer diese Diskreditierung, diese Ungleichheit in allen Sprachbezeichnungen wiederspiegeln wollten, dann würden wir verrückt mit unserer Sprache. Wir können nur sagen was ist. Ja, Sprache hat über weite Strecken die Teilung, die Benachteiligung, die Teilung zwischen Männern und Frauen, die Benachteiligung von Frauen zementiert. Das müssen wir aufmachen. Da ist auch viel Bewusstsein entstanden. Aber wir müssen auf der anderen Seite auch auf dem Teppich bleiben. In dieser Welt können wir keine perfekten Lösungen finden, auch nicht fürs Gendern.
Armbrüster: Aber ist genau diese Haltung, da müssen wir auf dem Teppich bleiben, ist das nicht genau die Ausgrenzung, die die andere Seite sieht?
Schwan: Nein! Das ist, glaube ich, keine Ausgrenzung. Solange wir bei der Wahrheit bleiben, ist das keine Ausgrenzung. Warum? – Wenn wir den Zustand der Schwierigkeit benennen, ist das keine Ausgrenzung. Es gibt doch auch innerhalb der Frauen zum Beispiel ausgesprochenen Streit über das Gendern, und da kann man jetzt nicht sagen, die einen, die das wollen, fühlen sich ausgegrenzt, wenn man sagt, es gibt Streit. Nein, so ist die Wirklichkeit!
″Alle Parteien müssten diese Frage diskutieren″
Armbrüster: Frau Schwan, jetzt haben wir hier schon wieder eine Menge über gendersensible Sprache gesprochen. Das Thema mit der Identitätspolitik geht natürlich noch sehr viel weiter. Da schwingen viele andere Sachen mit: Rassismus zum Beispiel, Rassismus-Vorwürfe. Blackfacing haben wir schon angesprochen. Das sind Dinge, Haltungen, die sich da gegenüberstehen, die eine Menge Krach verursachen. Wie wollen Sie das erreichen, dass da die unterschiedlichen Seiten wieder auf Augenhöhe miteinander sprechen?
Schwan: So, dass die materiellen, sozialen und auch die kulturellen Chancen gleich werden. Es hat ja auch Gespräche gegeben nach unserer Sendung mit Vertretern von ActOut, und denen ist ja auch daran gelegen, dass sie eine konkrete Chancengleichheit haben. Natürlich müssen wir auch am Bewusstsein arbeiten, aber noch mal: Die Sozialdemokratie diskutiert das im Moment im Grunde für die gesamte Gesellschaft. Alle Parteien müssten diese Frage diskutieren. Wie können die, die sich kulturell benachteiligt fühlen, nicht anerkannt fühlen, auch sozialökonomisch nicht anerkannt fühlen – das geht ja immer zusammen -, wer benachteiligt ist, wer ungleich ist, wer nicht anerkannt wird, ist das kulturell und in der Arbeit, wie kann das ausgeglichen werden. Dann wird sich das auch beruhigen. Es wird immer weiter noch auch Auseinandersetzungen darüber geben, aber das sind Sachen, die in einer freien pluralistischen Gesellschaft nicht zu vermeiden sind.
Armbrüster: Frau Schwan, Sie sagen jetzt schon wieder, das wird sich beruhigen. Ich bin mir sicher, dass da sehr viele Leute, die uns jetzt zuhören, aufschrecken und sagen, das ist ja genau der Punkt, das wollen wir genau nicht, dass sich das beruhigt. Ich möchte aber gerne noch auf einen anderen Punkt …
Schwan: Das beruhigt sich erst, wenn wir Verbesserungen machen. Die stehen doch an, die Chancengleichheit zu verwirklichen, materiell, sozial und kulturell.
Armbrüster: Frau Schwan, ich möchte gerne noch auf einen anderen Punkt kommen. Sie haben ihn schon kurz angesprochen. Sie selbst sind ja in den letzten Wochen auch in die Kritik geraten. Sie haben es gesagt: in dieser internen SPD-Diskussionsrunde. Man kann das nach wie vor im Internet nachlesen. Da haben Ihnen einige Teilnehmer anschließend vorgeworfen, Sie würden die Probleme von Schwulen und Lesben und Nichtbinären, von Menschen, die sich weder als Mann, noch als Frau sehen, Sie würden die Probleme dieser Menschen überhaupt nicht wahrnehmen, sich teilweise sogar darüber lustig machen.
Schwan: Das ist Unsinn!
″Wir leben in einer Gesellschaft, wo wir alles im Grunde aushandeln müssen″
Armbrüster: Erkennen Sie bei sich selber, dass Sie da möglicherweise, frage ich jetzt mal ganz offen, Nachholbedarf haben?
Schwan: Nein, habe ich überhaupt nicht. Ich habe in meiner Familie viele Schwule und ich habe wunderbare Verhältnisse zu ihnen und zu den Partnern. Die, die das mir vorwerfen, können das an keiner Stelle belegen, an keiner Stelle. Es gibt einen Fall, wo ich Heinrich Horwitz nicht sofort erkannt habe, dass in seiner Biographie ganz unten stand, seit 2019 erklärt sich Heinrich Horwitz für nichtbinär. Das habe ich in der Biographie überlesen. Ich kannte ihn vorher nicht, ich kannte die Person vorher nicht. Das war eine Umbenennung von Miriam auf Heinrich. Das habe ich jetzt erkannt, eine nichtbinäre Lesbe. Dafür habe ich mich entschuldigt, dass ich das nicht genau gesehen habe. Aber ich habe keinen Nachholbedarf in der kulturellen gleichen Anerkennung. Was da zum Teil über mich behauptet wird – ich habe gestern auch einen Artikel in der taz gelesen -, das ist einfach falsch! Es ist das Gegenteil dessen, was ich auch schriftlich zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung erklärt habe. Wir leben in einer Gesellschaft, wo wir alles im Grunde aushandeln müssen. Das ist schwierig. Nichts ist gesichert, nichts ist selbstverständlich. Es gibt überhaupt keine rassistische Überlegenheit. Wissen Sie, ich bin in einer Familie von Widerstandskämpfern aufgewachsen. Meine Eltern haben eine Jüdin versteckt. Das ist einfach Unsinn! Das ist nicht meine Welt!
Frieden schaffen ist unsere Aufgabe
Armbrüster: Haben Sie denn manchmal den Eindruck, dass Sie zu viel Rücksicht nehmen müssen auf andere Identitäten?
Schwan: Nein! Weil das ist so im Leben. Ich war eine Zeit lang in Belgrad, habe gefragt, wie verhandelt ihr miteinander eure verschiedenen Vergangenheiten. Wir haben eine komplizierte Gesellschaft. Wir müssen Rücksicht nehmen darauf. Ich habe mir das mein Leben lang angewöhnt und habe immer versucht zu überlegen, wie sieht das mit den Augen der anderen aus, wie hört sich das mit den Ohren der anderen an. Das ist das Geheimnis der Verständigung und immer predige ich die Maxime von Immanuel Kant, sich an die Stelle der anderen setzen. Das ist die Voraussetzung von Verständigung und Frieden.
Armbrüster: Und was sagen Sie dann denen, die sagen, uns ist das alles zu viel, wir sind mit dieser Art von Sprache, mit dieser Art von Denkweise nicht groß geworden, das ist uns fremd und uns befremdet das, wenn die SPD jetzt für so etwas eintritt?
Schwan: Denen sage ich, das kann ich sehr gut verstehen, weil es wirklich eine große Anforderung ist. Aber die kommt nicht aus der SPD oder von einzelnen Akteuren, sondern dadurch, dass unsere Welt und unsere Gesellschaften sich völlig verändert haben. Ich bin 1943 geboren. Die Gesellschaft der 50er-, 60er-Jahre war eine ganz andere. Es ist nicht leicht, sich diesen Herausforderungen so zu stellen, dass man Frieden schafft, aber das ist unsere Aufgabe.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.