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Gespaltene Gesellschaften
"Die Europäische Union wird sich stark verändern"

Wissenschaft und Politik seien auf eine Desintegration Europas zu wenig vorbereitet, meint der Historiker Dominik Geppert. Zu lange habe man sich der Illusion eines Fortschrittsautomatismus zum Guten und Schönen hingegeben. Doch die europäische Integration sei mitnichten irreversibel.

Dominik Geppert im Gespräch mit Michael Köhler |
    Der Potsdamer Historiker Dominik Geppert blickt direkt in die Kamera.
    Zu lange habe man das Thema Desintegration in der EU außer Acht gelassen, kritisiert der Bonner Neuhistoriker Dominik Geppert im Dlf (picture alliance / dpa / Uwe Zucchi)
    Michael Köhler: Mitte kommender Woche beginnt in Münster der dreitägige Historikertag. Er hat ein aktuelles Titelthema gewählt: "Gespaltene Gesellschaften".
    In einer Sektion geht es um das Große Spaltungsprojekt, nämlich die Rolle von Volksbefragungen, Referenden und die gesellschaftliche Akzeptanz des europäischen Einigungsprozesses. Entgegen der ursprünglichen Absicht spaltet das europäische Einigungs- und Integrationsprojekt nämlich die Gesellschaften im 21. Jahrhundert.
    Sektionsleiter ist der Bonner Neuhistoriker Dominik Geppert. Ihn habe ich gefragt, sehen wir anhand von Sezessions- und Spaltungsbewegungen, Stichwort Brexit, Populismus und Europa-Skepsis, dass die EU-Integrationsgeschichte nicht nur eine Fortschrittgeschichte ist?
    Dominik Geppert: Ich glaube, wir haben uns in jedem Fall zu lange fast ausschließlich Gedanken über Integration und zu wenig über Desintegration gemacht. Das heißt, wir sind wissenschaftlich-politisch nicht genug vorbereitet auf das, was passiert. Was passiert, glaube ich, gerade für uns Deutsche ist, dass unsere Vorstellung, wir als deutsche Nation händigen alle Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten, die wir mit der Nation haben, die übergeben wir auf die europäische Ebene, und da haben wir ein Projekt, was gleichsam naturgesetzmäßig in Richtung dem Guten und Schönen sich fortentwickelt. Und diese Gewissheit oder diese Illusion, die zerbröckelt.
    Das heißt nicht, würde ich sagen, dass wir automatisch oder auch nur höchstwahrscheinlich auf eine völlige Desintegration der Europäischen Union uns hinentwickeln. Ich glaube ziemlich sicher, die Europäische Union wird sich stark verändern. Sie wird sich auch in eine Richtung verändern, die wir vorher für nicht wünschenswert oder für falsch gehalten haben – jedenfalls diejenigen, die glaubten, wir würden auf der Ebene eines europäischen Bundesstaates enden. Wir haben ziemlich sicher eine größere Rolle von Nationalstaaten auf die absehbare Zukunft, als das viele in Deutschland geglaubt oder vielleicht auch gehofft haben lange Zeit.
    Köhler: Ich höre da heraus – korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege -, dass es keinen Automatismus des Integrationsprojektes gibt, und dass das für Sie als Historiker (und ich rede mit Ihnen als Historiker und nicht als Politikwissenschaftler) bedeutet, dass es vielleicht jetzt eine Zäsur gibt, wo wir uns daran gewöhnen müssen, die EU-Geschichte nicht nur als eine Fortschrittsgeschichte zu lesen?
    Geppert: Ja. Helmut Kohl hat nach der deutschen Einheit viele Reden gehalten, in denen er gesagt hat, es ginge jetzt darum, die europäische Integration irreversibel zu machen, unumkehrbar zu machen. Da ist man bei aller Sympathie, die man politisch mit diesem Projekt hat, als Historiker immer auf der Hut und sagt, unumkehrbar, irreversibel, es ist klar, wo der Fortschritt hingeht, das haben wir eigentlich in der Geschichte nicht, das kennen wir aus der Geschichte nicht, und es wäre unwahrscheinlich, wenn das in diesem Falle anders wäre. Diese Skeptiker, zu denen wir als Historiker per Zunft gehören, die sind momentan weniger überrascht als andere, würde ich sagen.
    Europäische Einigung ein "Produkt des Friedens"
    Köhler: Sie entmutigen mich ein bisschen. Vor 60 Jahren reichten sich, wenn ich es richtig erinnere, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer am symbolträchtigen Ort in Reims die Hände. Sie wussten, dass das Zukunftsprojekt EU ein Friedensprojekt ist. Kommt auch das damit an ein Ende, wenn wir feststellen, dass wir immer mehr Spaltungstendenzen haben, Sezessionstendenzen haben, dass wir immer mehr Referenden auch haben? In der kommenden Woche wird Mazedonien im sogenannten NATO-Referendum darüber abstimmen. Das sind ja gleichzeitig Spaltungs-, aber gleichzeitig auch Unabhängigkeits- und auch Fortschrittsbewegungen, oder nicht?
    Geppert: Ich glaube, da müssen wir die Dinge ein bisschen auseinanderhalten. Ich glaube, wenn Sie mit Blick auf das deutsch-französische Aussöhnungsprojekt sprechen, das gehört zu den großen Errungenschaften und Erfolgsgeschichten auch der europäischen Einigung. Und im historischen Rückblick betrachtet überraschend erfreulich schnell eine Aussöhnung, ein auskömmliches Miteinander-Leben dieser beiden sogenannten Erbfeinde des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das gehört eindeutig zu den Erfolgsgeschichten der europäischen Einigung. Wie im Übrigen auch später dann die friedliche Einbeziehung der ostmitteleuropäischen Länder auch zu den vielfach unbesungenen oder zu wenig gepriesenen Erfolgsgeschichten der europäischen Einigung gehört.
    Die Ausnahme sind die Kriege auf dem Balkan im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren gewesen, wo sich die europäischen Länder nicht mit Ruhm bekleckert haben, sodass ich sagen würde, der Friede in Europa ist nicht nur oder in erster Linie ein Produkt der europäischen Einigung.
    Die europäische Einigung ist zunächst einmal ein Produkt des Friedens, den es in Europa gegeben hat nach '45, aus einer ganzen Reihe von Gründen, zu denen, glaube ich, die Supermacht-Konfrontation und das nukleare Patt einen ganz entscheidenden Beitrag geleistet haben, aber auch die Erkenntnisse und das Leiden aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das die europäischen Völker nicht wiederholen wollten.
    Das war die Ausgangsbedingung oder der Rahmen, in dem die europäische Einigung erfolgreich sein konnte.
    "Wir sind doch letztlich im selben Boot"
    Köhler: Ist vielleicht nicht der Rhein Europas Jordan, wie Heinrich Heine noch sagen konnte, also zwischen Deutschland und Frankreich die große Grenze, sondern ist Europas Jordan vielleicht der Kanal, der Channel? - Ich merke, Sie schmunzeln schon. Ich will auf die Sonderrolle Englands hinaus. Der Brexit ist ja doch mehr als nur eine englische Angelegenheit.
    Geppert: Ja. Das ist für jemanden wie mich, der sich viel und lange mit der deutschen und der britischen Geschichte beschäftigt hat, in der Tat eine hoch spannende Frage der Gegenwart und für die Zukunft und eine Frage, auf die ich noch keine eindeutige Antwort habe. Ich würde sagen, es gibt sicherlich Fassetten der politischen Thematik der Gegenwart, wo man sagt, der Kanal ist eine entscheidende Grenze. Das ungebrochene Verhältnis zur eigenen Nationalgeschichte, das ist etwas, was die Briten haben, sich bewahrt haben, möglicherweise auch in zugespitzter Form, was sie unterscheidet von uns Deutschen, aber auch der Tendenz von vielen anderen europäischen Ländern, die gerade in der Zeit des Zweiten Weltkriegs Besatzungserfahrung haben, Kollaborationserfahrung haben, eine Erfahrung mit dem Scheitern ihrer politischen Eliten. Das alles haben die Briten nicht gehabt und in der Folge ein sehr viel ungebrocheneres Verhältnis zur eigenen Nation, auch ein vielleicht selbstbewussteres Verhältnis dazu, wie man sich in den Fährnissen der Geschichte alleine behaupten kann.
    Viele andere Dinge, die wir gegenwärtig erleben – Stichwort Populismus, Stichwort die Frage, was soll auf europäischer Ebene, was auf nationalstaatlicher Ebene behandelt werden -, das sind Fragen und Probleme, die die Briten nicht exklusiv haben. Das betrifft natürlich andere Länder in Europa auch in unterschiedlichen Formen. Aber hier, würde ich sagen, gibt es doch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten und Gesamtentwicklungstendenzen auf europäischer Ebene, vielleicht sogar im größeren westlichen Rahmen, inklusive der USA, die dann sagen, wir sind doch letztlich im selben Boot und wir haben doch gemeinsame Grunderfahrungen. Und dann ist der Kanal doch nicht so breit, wie er aussehen könnte.
    Köhler: Wenn ich es richtig weiß, leiten Sie auf dem Münsteraner Historikertag eine Sektion über gespaltene Gesellschaften, und ich will natürlich auf etwas hinaus. Könnte es sein, dass die Referenden, die wir ja nicht nur in England erleben, die wir ja nun überall erleben als probates gegenwärtiges Mittel des Ausdrucks des politischen Willens – man kann von Repräsentationslücken in der Demokratie sprechen, man kann von vielen solchen Dingen sprechen. Meine Frage: Sind die Referenden weniger die Lösung als das Problem?
    Geppert: Zunächst einmal: Die Beobachtung ist, Referenden nehmen zu. Referenden werden disruptiver, gerade auch auf europäischer Ebene. Das ist aus deutscher Sicht immer ein bisschen im Hintergrund gewesen, weil wir keine Referenden kennen oder kaum Referenden kennen in Deutschland. Aber Referenden haben die meisten anderen Länder in der Europäischen Gemeinschaft und dann in der EU schon immer begleitet. Sie sind aber lange Zeit relativ unproblematisch Bestätigungen gewesen dessen, was die politischen Führungen ausgehandelt hatten – Referenden, die es gegeben hat bei Beitrittsrunden, Referenden, die es gegeben hat, wenn der französische Präsident ein bestimmtes Projekt sich per Plebiszit bestätigen lassen wollte.
    Das wird seit, ich würde sagen, etwa der Jahrtausendwende problematischer. Da gehen Referenden zunehmend anders aus, als die Regierenden, die politischen Eliten das wollten. Das ist etwas, was wir beobachten können, und das deutet aus meiner Sicht darauf hin, dass wir es hier mit einem Phänomen zu tun haben, das auch mit den gespaltenen Gesellschaften, die das Leitthema des Historikertages sind, eng zusammenhängt.
    Das finden wir natürlich nicht nur auf der europäischen Ebene. Sie finden gespaltene Gesellschaften auch auf nationalstaatlicher Ebene. Sie haben die Diskussion über neue politische Frontverläufe und Verwerfungen, die nicht mehr so ohne weiteres zwischen links und rechts unterscheiden, wie wir das kennen, ökonomische Fragen präfigurieren das politische Tableau, es gibt eine Linke, progressiv für die Arbeiter und die Unterprivilegierten, und es gibt eine Rechte, konservativ beharrend, die eher von den Verteidigern der bestehenden Verhältnisse bestückt wird. Diese Rechts-Links-Spaltung oder dieser Frontverlauf in der politischen Landschaft wird zunehmend obsolet und etwas anderes tritt an ihre Stelle.
    Köhler: Wir sehen es in Italien, wie sich linke und rechte Extreme zu einer Regierung bilden. Da hätte man früher auch gesagt, wie kann das sein.
    Geppert: Ganz genau. Die italienische Regierung wäre ein wirklich sinnfälliges Beispiel dafür, was wir hier haben, und die Frage ist, wie erklärt man das. Wo sind die Kriterien, das analytische Instrumentarium, mit dem man das fassen kann. Da gibt es ganz unterschiedliche Deutungsangebote. Das Schlagwort Populismus ist sicherlich das bekannteste. Was genau das ist, ist eigentlich immer noch unklar. Es gibt Leute, die sagen, wir haben es hier auf der einen Seite zu tun mit illiberalen Demokraten à la Orbán und undemokratischen liberalen Eliten, die auf der anderen Seite dieser Verwerfung stehen. Der britische Publizist David Goodhart hat gesprochen von den "Anywheres" und den "Somewheres", also den kosmopolitischen Bürgern des Irgendwo und den heimatverbundenen Bürgern eines ganz bestimmten Ortes.
    Auch das ist, glaube ich, ein mögliches Erklärungsmuster, um zu sagen, wie ist der Brexit zustande gekommen, wie erklärt sich die neue Landschaft in Italien, nämlich diejenigen, die sagen, Italy first, Britain first, America first, die sind die Verteidiger dieser "Somewheres".
    Wie gesagt, das ist alles noch etwas tastend, aber es sind Deutungsangebote, die doch in eine bestimmte Richtung weisen und denen wir dann auf dem Historikertag in meiner Sektion etwas genauer nachgehen wollen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.