Archiv

Gespaltene Stadt
Keine Lösung für Hongkong

Seit einem halben Jahr halten pro-demokratische Demonstrationen und Proteste Hongkong in Atem. Ausgelöst durch ein Auslieferungsgesetz, haben sich die Proteste inzwischen zu einer Massenbewegung entwickelt, die immer häufiger auch in Gewalt ausartet. Daran stoßen sich nicht nur Peking-Befürworter.

Von Ruth Kirchner |
Vermummte Menschen in Hongkong
Ein Problem der Protestbewegung: Es gibt niemanden, der Verantwortung übernimmt (AFP / Lillian SUWANRUMPHA)
Seit Monaten hallen die Rufe durch die Straßen von Hongkong: "Kämpft für die Freiheit, steht zu Hongkong." Mal auf Englisch, mal auf Kantonesisch. Und der andere Schlachtruf der Protestbewegung: Fünf Forderungen, keine weniger.
Was im Juni als Protest gegen ein geplantes Auslieferungsgesetz mit China begonnen hatte, ist heute eine breite, teils diffuse Protestbewegung – gegen die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam, gegen den Einfluss der kommunistischen Pekinger Führung in Hongkong, für mehr Demokratie und eine Aufarbeitung des von vielen als brutal empfundenen Vorgehens der Polizei.
Wo steht die Protestbewegung nach sechs Monaten? Wieviel Rückhalt hat sie in der Bevölkerung? Gibt es Chancen für einen Dialog oder wird Peking doch noch eingreifen? Und warum sorgt ausgerechnet diese Protestbewegung für Schlagzeilen in der ganzen Welt?
Systemkonflikt im Brennglas Hongkong
In Hongkong geht es um große Fragen: Um Freiheit und Nationalismus, um Grundwerte, um die ideologischen Gräben zwischen den liberalen westlichen Gesellschaften und dem autoritär-diktatorischen Gesellschaftsmodell der Kommunistischen Partei Chinas. Im Brennglas Hongkong nimmt dieser Systemkonflikt Gestalt an. Was am besonderen Status der Stadt liegt, die weitgehend autonom regiert wird, aber doch Teil Chinas ist: Sie liegt genau am Schnittpunkt der Systeme. Anders als die Menschen in Festlandchina genießen die Hongkonger viele Bürgerrechte, fürchten aber um genau diese Freiheiten. Auf den Straßen der Stadt hört man das immer wieder, viele Demonstranten haben, so wieder dieser Mann, Angst vor der Zukunft:
"Wir müssen die Freiheiten Hongkongs verteidigen. Man kann ja jetzt schon sehen, dass Hongkong immer mehr wie das kommunistische China wird. Noch können wir uns frei äußern. Aber wie lange noch? Wir wollen frei sein von Angst."
Dabei hat es nicht mit großen politischen Fragen angefangen, sondern mit einem Mord. Vergangenes Jahr soll der damals 19-jährige Chan Kong-tai in Taiwan seine schwangere Freundin getötet haben. Anschließend floh er zurück in seine Heimat Hongkong. Da es zwischen Hongkong und Taiwan kein Auslieferungsabkommen gibt, kann Chan bis heute nicht nach Taipeh überstellt und dort vor Gericht gestellt werden.
Demonstranten auf dem Victoria Peak in Hongkong.
"Glory to Hongkong" - Eine Hymne wird zum Symbol der Protestbewegung
Tausende Hongkonger singen aus Protest. Den Song hat ein Unbekannter komponiert, übers Internet wurde der Text kollektiv verfeinert. Die Botschaft: nicht aufgeben, weiter kämpfen für Demokratie und Freiheit.

Unter Berufung auf diesen Mordfall wollte Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam ein Gesetz durchdrücken, das erstmals die Auslieferung von Verdächtigen nach Taiwan, Macau und Festlandchina ermöglich hätte.
Doch nach Jahren der schleichenden Aushöhlung des Prinzips "Ein Land, zwei Systeme" war der Gesetzentwurf für viele Hongkonger das Symbol für den übergriffigen langen Arm aus Peking. Chinas Gerichte werden von der Kommunistischen Partei kontrolliert, Hongkong hat eine unabhängige Justiz. Mit diesem Gesetz, so die Angst, würden Hongkongs Bürger der chinesischen Willkür ausgeliefert.
Demonstrant: "Wir machen weiter bis zum Ende"
Es gab Widerspruch, Proteste, ab Juni Großdemonstrationen mit hunderttausenden Teilnehmern. Ein Misstrauensvotum der Straße gegen die Regierung. Carrie Lam legte das Gesetz auf Eis, zog es später ganz zurück. Doch das war zu wenig und zu spät. Die Menschen protestieren jetzt im siebten Monat – für viel weitergehende Forderungen nach politischen Reformen:
"Wir machen weiter, wir machen weiter bis was passiert, bis Peking und die Hongkonger Regierung nachgeben. Und selbst wenn nicht, auch dann machen wir weiter. Wir werden unsere Anliegen weiter vorbringen.
"Ich habe Vertrauen in die Menschen in Hongkong, dass wir weitermachen, bis die Regierung auf unsere Forderungen eingeht. Nicht wie 2014 –als wir gescheitert sind. Wir machen weiter bis zum Ende."
Dass Anfang Dezember erneut Hunderttausende friedlich auf die Straße gingen, zeigt: Die Protestbewegung hat viel Rückhalt. Trotz der schweren Zusammenstöße der vergangenen Monate, trotz der Gewalt und des Chaos, das die Aktionen eines radikalen Kerns der Aktivisten zeitweise angerichtet haben. Es flogen Steine und Brandsätze, Geschäfte wurden zertrümmert, Straßenbarrikaden gingen in Flammen auf. U-Bahnen fuhren nicht mehr, die Schulen blieben zu. Zeitweise lagen Tränengas-Schwaden über ganzen Straßenzügen. Mehrere Hochschulen, zuletzt die Polytechnische Universität, wurden unter den Augen der internationalen Medien besetzt, eingekesselt, dann geräumt.
Konflikt spaltet Familien und Generationen
Hongkong hat harte Monate hinter sich – und bleibt doch eine gespaltene Stadt. Der Riss geht durch Familien, durch Generationen. Die Stadt ist polarisiert.
Denn es gibt auch harsche Kritik. Regina Ip etwa, eine der führenden Konservativen und Vorsitzende der Peking-treuen New People’s Party ist empört über die Gewalt auf den Straßen der sonst so friedlichen Wirtschafts- und Finanzmetropole. Sie wirft den radikalen Demonstranten eine faschistoide Haltung vor
"Es ist eine Schande, dass diese Leute, die vorgeben für Freiheit und Demokratie zu kämpfen, unsere Universitäten zerstören. Sie machen aus unseren Universitäten Waffenlager, stellen tödliche Brandsätze her. Auf den Campus gibt es einen neuen Faschismus. Ich meine damit die Angriffe auf chinesische Studenten vom Festland und die Zerstörung von Geschäften, die Verbindungen mit China haben. Das ist eine Schande und ist das Gegenteil der demokratischen Werte, die die diese Demonstranten vorgeben zu vertreten."

Harte Vorwürfe, die andere so nicht übernehmen wollen. Deutlich gemäßigter die Kritik von Händlern und Gewerbetreibenden. Sie fürchten vor allem um ihre Geschäfte. Wegen des verlangsamten Wachstums in China läuft die Hongkonger Wirtschaft nicht rund, aber wegen der Proteste bleiben seit dem Sommer auch die Touristen weg, vor allem die Festlandchinesen. Zu spüren bekommen das nicht nur die Luxusläden im Zentrum – Gucci, Versace, Armani – sondern auch Händler an der Peripherie. Zum Beispiel im Stadtteil Sham Shui Po:
Gleich neben einem kleinen Straßenmarkt, wo Billigklamotten und Kurzwaren gehandelt werden, verkaufen der alte Herr Wu und sein Sohn seit Jahren Hochzeitsschmuck: breite Armreifen aus Gold, große Geschmeide mit Schweinemotiven – ein Symbol für reichen Kindersegen. Doch seit die Proteste im Sommer auch Sham Shui Po erreichten, sind die Umsätze eingebrochen.
"Es kommen viel weniger chinesische Kunden. Das Geschäft läuft nicht gut. Vor den Protesten war es viel besser."
Auf die Proteste der vor allem jungen Hongkonger angesprochen, gerät sein Sohn Patchy, immerhin auch schon 60, in Fahrt:
"Was diese Kids machen, ist doch Blödsinn. Die können doch gar nicht selbstständig denken, die werden vom Ausland angestiftet, von den USA, die werden bezahlt um Unruhe zu stiften. Diese Kids haben völlig falsche Vorstellungen."
Für seine Behauptungen gibt es keine Beweise, aber in den Staatsmedien in Festlandchina wird dem Ausland, vor allem den USA, regelmäßig vorgeworfen, die Proteste in der Sonderverwaltungszone organisatorisch und finanziell zu unterstützen. Manche Hongkonger Politiker argumentieren ähnlich.
Demonstranten in Hongkong verbrennen Holz und Abfälle, um eine Straße zu blockieren.
Demonstranten in Hongkong verbrennen Holz und Abfälle, um eine Straße zu blockieren. (AP Photo/Kin Cheung)
Protestbewegung will anonym bleiben
Aber Fakt ist – das Peking-freundliche Lager kann nicht im gleichen Maße mobilisieren wie die Protestbewegung. Besonders augenfällig: die Peking-Befürworter sind eher älter, die Demokratiebewegung von jungen Leuten geprägt – Schüler, Studierende, junge Angestellte. Angehörige der Mittelschicht.
Demonstriert wird im pro-demokratischen Lager mit Gesichtsmasken, die Nase und Mund verdecken. Ein zeitweiliges Vermummungsverbot wird ignoriert. Die Anonymität der Bewegung ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Es gibt keine Führungspersonen, keine identifizierbaren Sprecher. Zwar halten Vertreter der Protestbewegung regelmäßig sogenannte "Bürger-Pressekonferenzen" ab – Anfang Dezember etwa sprach im Zentrum Hongkongs ein Vermummter über die Gefahren von Tränengas, redete über eine "humanitäre Krise" und bezeichneten die Stadt als "Gaskammer". Für Fragen stand er nicht zur Verfügung.
Die Anonymität hat einen Grund: 2014, nach den Regenschirmprotesten für mehr Demokratie, wurden im Anschluss zentrale Figuren vor Gericht gestellt. Aus diesen Erfahrungen hat die neue Protestbewegung gelernt.
Bekannte Gesichter, wie der 22-jährige Joshua Wong, 2014 einer der prominentesten Vertreter der Demokratiebewegung, sind eine Ausnahme. Er tritt zwar oft öffentlich auf – aber findet im Ausland mehr Beachtung als in Hongkong, wo er eine Randfigur bleibt.
Joshua Wong, einer der führenden Köpfe der Demokratiebewegung in Hongkong, läuft vor Reportern.
Hongkonger Aktivist Joshua Wong - Das Gesicht der Demokratie-Bewegung
Der Hongkonger Demokratie-Aktivist Joshua Wong ist seit seiner Rolle bei den "Regenschirm-Protesten" 2014 weltberühmt. Auch in Berlin hat er bereits um politische Unterstützung für die Massenproteste in seiner Heimat geworben.
"Die Protestierenden sprechen für sich selbst, ich spreche nur als Hongkonger Bürger und hoffe, dass die Stimme Hongkongs auch international gehört wird."
Ein Problem der Protestbewegung: Es gibt niemanden, der Verantwortung übernimmt oder die Demonstrationen in politisches Handeln überführen könnte. Das Spektrum reicht von radikalen, gewaltbereiten Aktivisten bis zu gemäßigteren Kräften, die in den pro-demokratischen Parteien aktiv sind, aber nicht für die gesamte Bewegung sprechen können.
Das ist auf der Seite der Kontrahenten, die Hongkonger Regierung, die Polizei und die Führung in Peking anders. Sie haben eine klare Strategie:
Was Regierungschefin Carrie Lam politisch nicht lösen kann oder will, lässt sie auf den Straßen Hongkongs ausfechten.
Die Polizei greift hart ein
Die Statistik der örtlichen Polizeibehörde liest sich ernüchternd: 6.000 Festnahmen seit Juni. Knapp 1.000 Anklage-Erhebungen. 16.000 Kanister Tränengas hat die Polizei seit dem Frühsommer abgefeuert und 10.000 Gummigeschosse.
Demonstrationen verbieten, bekämpfen, weg knüppeln: Das Vorgehen der Polizei empfinden viele Hongkonger als skandalös, so wie dieser 30-Jährige:
"Sie halten sich einfach nicht an die Gesetze. Sie verhaften willkürlich Leute; mit dieser Polizei gibt es weder Recht noch Ordnung in Hongkong."
Eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt zählt zu den zentralen Forderungen der Protestbewegung. Aber ob es wegen der Polizeieinsätze wirklich Tote gegeben hat, wie viele Demonstranten behaupten, ist unklar. Auch der Fall Alex Chow ist ungeklärt. Chow wird von der Bewegung wie ein Märtyrer behandelt. Der 22-Jährige stürzte Anfang November vom Deck eines Parkhauses und starb später an seinen schweren Verletzungen. War er auf der Flucht vor der Polizei geschubst worden oder war sein Tod ein tragischer Unfall? Die genauen Umstände sind weiter im Dunkeln.
Schon wegen des tiefen Misstrauens gegen die Polizei wäre eine unabhängige Untersuchung wichtig. Nur: Regierungschefin Carrie Lam mauert. Ende November stellte sie zwar ein Komitee in Aussicht, allerdings mit anderem Auftrag als von der Protestbewegung gefordert:
"Um die Ursachen der sozialen Unruhen zu erkunden, die tieferliegenden sozialen, wirtschaftlichen, auch politischen Gründe. Und sie wird der Regierung Vorschläge unterbreiten."
Klare Mehrheit für das demokratische Lager
Regierungschefin Lam ist Teil des Problems. Sie hat keine politische Strategie, findet nicht den richtigen Ton, wirkt distanziert, wenig empathisch. Die Statthalterin Pekings hat ihre ohnehin geringen Spielräume nicht genutzt.
Wo also steht die Stadt insgesamt politisch sechs Monate nach Beginn der Proteste? Das demokratische Lager sieht sich weiter im Aufwand. Zumal demokratische Parteien bei den einzig wirklich demokratischen Wahlen in Hongkong, den Bezirkswahlen Ende November, fast 90 Prozent der Sitze in den 18 Bezirksräten gewannen. Deren politischer Einfluss ist zwar gering, aber die Symbolkraft der Abstimmung war groß, sagt der neugewählte Bezirksrat Kelvin Lam, der keiner Partei, aber dem pro-demokratischen Lager angehört:
"Die Bürger haben sehr deutlich gemacht, dass sie unzufrieden sind mit der Art und Weise wie die Regierung mit den Protesten der vergangenen Monate umgegangen ist. Die Menschen in Hongkong sollten das Wahlergebnis jetzt auch als Druckmittel nutzen um mehr Demokratie in der Zukunft zu fordern."
Die Mitglieder des Legislativrates in Hongkong, Xiu Chung-Yim, Sixtus Leung und Yau Wai-ching protestieren am 12.10.2016 für die Unabhängigkeit Hongkongs von China.
Demokraten nach Wahlsieg - Hongkong bleibt gespalten
Der Sieg bei den Bezirkswahlen hat dem demokratischen Lager Auftrieb gegeben. Doch ihr Einfluss auf die Entwicklung der chinesischen Sonderverwaltungszone bleibt eher gering. Gleichzeitig wächst der Druck von mehreren Seiten.
Die neuen Bezirksräte selbst haben nicht die Macht, politische Reformen durchzusetzen. Sie sind für lokale Angelegenheiten zuständig nicht für politische Grundsatzentscheidungen. In der Protestbewegung wurden die Ergebnisse der Bezirkswahlen daher zwar mit Jubel aufgenommen. Aber an ihren konkreten Forderungen nach Veränderungen des politisch-institutionellen Systems Hongkongs ändern die Wahlen nichts, sagt etwa diese junge Frau:
"Denn es geht um die Probleme des gesamten politischen Systems, um die Wahlen zum Legislativrat, um die Wahl des Regierungschefs. Wir haben unsere Ziele noch lange nicht erreicht."
Konkret geht es etwa um den Posten des Regierungschefs. Dieser wird in Hongkong nicht durch allgemeine Wahlen bestimmt – das macht ein Wahlkomitee. Die Kandidaten müssen zuvor von Peking abgenickt werden. Und im Legislativrat wird nur die Hälfte der Sitze frei gewählt.
Ein militärisches Eingreifen gilt noch als unwahrscheinlich
Dennoch haben die Bezirkswahlen neue Perspektiven eröffnet – auf lokaler Ebene, vielleicht sogar darüber hinaus. Das sagt zumindest Christine Loh. Sie selbst will sich weder vom pro-demokratischen noch vom Peking-freundlichen Lager vereinnahmen lassen. Inmitten der aufgeheizten, polarisierten Stimmung appelliert die frühere Abgeordnete im Legislativrat und Mitglied in der Vorgängerregierung Lams an alle Parteien jetzt zusammenzuarbeiten.
"Wenn man an diesem besonderen Punkt ist, an dem so viel Energie freigesetzt wurde und die Leute darauf warten, dass etwas geschieht, vielleicht sogar Peking erkennt, dass es eine andere Strategie braucht, das sind Zeitpunkte, an denen sich neue Möglichkeiten auftun – diese Chancen darf man nicht durch Dummheiten verspielen."
Loh setzt auf die Zivilgesellschaft, auf einen breiten Dialog über die Zukunft der Stadt – zunächst in Hongkong selbst, letztlich aber auch mit Peking. Was für eine Stadt will Hongkong sein? Noch ist sie wichtig für China – als Finanzplatz, als Scharnier zwischen dem chinesischen Staatskapitalismus und den Weltfinanzmärkten. Schon deshalb gilt ja ein Eingreifen Pekings – etwa militärisch – nach wie vor als unwahrscheinlich. Aber wie lange noch?
"Ich denke, was die große politische Frage der Beziehung zwischen Hongkong und Peking angeht, müssen wir in Hongkong akzeptieren, dass ein Dialog mit Peking wichtig ist. Wir haben das System "Ein Land, Zwei Systeme". Wir in Hongkong schauen vor allem darauf, wie wir "Zwei Systeme" erhalten können. Peking legt die Betonung auf "Ein Land.". Wir kommen nur voran, wenn wir auch hier in Hongkong über "Ein Land" nachdenken."
China will keine freien Wahlen in Hongkong
Ein Land? Damit können die Demonstranten nichts anfangen. Kaum einer fordert die Unabhängigkeit Hongkongs, aber mit China identifizieren mag sich niemand. Vor allem aber: In der entscheidenden Grundsatzfrage gibt es keine Annäherung. China will keine freien Wahlen in Hongkong, will auch in Zukunft maßgeblich mitbestimmen, wer in der Stadt das Sagen hat. Ein allgemeines Wahlrecht sei völlig unrealistisch, warnte Carrie Lams Vorgänger C.Y. Leung kurz nach den Bezirkswahlen bei einem seiner seltenen öffentlichen Auftritte – im Hongkonger Club der Auslandspresse:
"Es ist sinnlos und unverantwortlich, wenn Politiker inner- und außerhalb Hongkongs Hunderttausende auf die Straßen treiben und glauben, damit könne man Peking zu Zugeständnisse zwingen und volle Autonomie – ohne Mitwirkung Pekings – durchsetzen."
Auch Regina Ip, die Peking-freundliche konservative Politikerin im Legislativrat, schlägt in diese Kerbe. Bei Fragen nach der Zukunft bleibt sie jedoch wie viele Pro-Establishment-Politiker vage. Bis 2047, wenn die Übergangsfrist für "Ein Land, zwei System" ausläuft, habe man ja noch 27 Jahre Zeit.
"Das ist noch eine sehr lange Zeit. Das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" hat es noch nie gegeben, das ist ein Experiment. Wir müssen zusammenarbeiten um für Hongkong die beste Lösung zu finden und für China."
Demonstranten, die Regenschirme tragen, ziehen bei einer Anti-Regierungs-Demonstration
Hongkong - Weltstadt im Protestmodus
1997 übergab Großbritannien Hongkong an China. Das damals vereinbarte Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" wird von Peking aufgeweicht. Dagegen regt sich Protest: meistens friedlich, teils gewaltsam.
Auf Zeit spielen, das kommt im demokratischen Lager nicht gut an. Viel zu lange schon habe man für mehr Demokratie gekämpft und sei doch immer wieder nur vertröstet worden, heißt es in den demokratischen Parteien und in der Protestbewegung. Zugleich dehnt Peking seinen Einfluss auf Hongkong aus – auf gesellschaftlich-wirtschaftlicher Ebene: in den Schulen bei der Gestaltung der Lehrpläne, an den Unis, in der Wirtschaft. Wir verlieren unsere Freiheit schleichend Stück für Stück, heißt es oft in Hongkong. Der Druck Pekings werde nach dem Protestjahr 2019 weiter steigen, fürchtet auch der neue Bezirksrat Kelvin Lam.
"Die Eingriffe Pekings in die bürgerlichen Freiheiten Hongkongs könnten jetzt noch stärker werden. Ähnlich wie 2014 nach den Regenschirmprotesten. Die Kommunistische Partei hat sich ja nicht geändert – sie will Ordnung und Kontrolle. Mit demokratischen Ideen wird sie sich nicht anfreunden."
So zeichnet sich für die Krise in Hongkong keine Lösung ab. Der Druck der Straße bleibt, die Proteste gehen weiter. Die Bezirkswahlen haben Hoffnungen geweckt, die jedoch schnell wieder in Frust, Wut und neue Gewalt umschlagen können. Wie lange die ungeliebte Carrie Lam noch im Amt bleibt, ist ungewiss. Aber einer politischen Lösung käme die Stadt selbst mit ihrem Rücktritt kaum näher – denn wer kommt dann? Letztlich laufen die Fäden immer in Peking zusammen. Und dort heißt es: Hongkong ist Teil von China. Was heißen soll: Keine Zugeständnisse. Egal, wie viele Menschen auf die Straße gehen.