Archiv


Gespaltenes Südtirol

In ihrem neuen Buch "Stillbach oder die Sehnsucht" widmet sich die 1963 in Meran geborene Sabine Gruber der Geschichte ihrer zwischen den Nationalitäten zerrissenen Herkunftsregion Südtirol.

Von Michaela Schmitz |
    Ob man auf der richtigen Seite steht, merkt man erst, wenn's vorbei ist. Was aber, wenn es nie aufhört? Wie der Faschismus zum Beispiel. Oder wenn man sowohl zur einen als auch zur anderen Seite gehört? Wie die Menschen aus Südtirol. Und wenn man noch dazu nicht aktiv am Kampfgeschehen beteiligt, sondern nur passiv Betroffener ist? Wie in aller Regel die Frauen.

    "Stillbach oder die Sehnsucht" erzählt die Geschichte dreier Frauen aus Südtirol. Stillbach heißt ihr fiktiver Heimatort. Ihre Muttersprache ist deutsch, ihr Pass italienisch. Emma gehört mit Jahrgang 1916 zur Großmuttergeneration der deutlich jüngeren Frauen Ines und Clara; 2011 sind diese über 50. Dennoch teilen alle drei Frauen ein gemeinsames Gefühl: nirgendwo richtig dazuzugehören.

    Alles war in Stillbach aus mindestens zwei Richtungen gekommen, dachte Emma. Wer hinzuhören gelernt hatte, vernahm nicht nur das Echo. (...) Die österreichische Monarchie, der Faschismus mit seinem deutschen Sprachverbot und schließlich die Schulbücher und Touristen aus der Bundesrepublik hätten ihre Spuren hinterlassen.

    Im gespaltenen Südtirol reicht das Echo des Italo-Faschismus und Deutsch-Nationalsozialismus bis in die Gegenwart. Der Roman "Stillbach oder die Sehnsucht" zeichnet diesen Widerhall in vielen seiner Nuancen auf.

    Geografisches Zentrum der Geschichte ist Rom. Clara, Ines und Emma verschlägt es aus unterschiedlichen Gründen in die Heilige Stadt. Mit Claras Reise über die Alpen in die italienische Metropole beginnt die Geschichte. Sie soll dort den Nachlass ihrer gerade verstorbenen Lebensfreundin Ines auflösen. In deren Wohnung stößt sie auf ein Manuskript. Darin erzählt Ines aus der Ich-Perspektive von ihrem Ferienjob als Zimmermädchen in einem römischen Hotel im Jahr der Ermordung Aldo Moros 1978.

    Die Chefin des Hotels heißt Emma Manente. Deren eigene Geschichte wird im perspektivischen Wechsel in Ines Erzählung eingeflochten. Emma selbst war als junges Mädchen aus der armen Bergregion nach Italien gekommen, um dort als Dienstmagd zu arbeiten. Sie ist Zimmermädchen in Rom, als im März 1944 ihr Stillbacher Verlobter Johann bei einem Partisanen-Anschlag in der Via Rasella ums Leben kommt. Kurz darauf wird sie schwanger, heiratet den italienischen Hotelierssohn und wird in Rom alt.

    ... es kam Emma in letzter Zeit oft so vor, als gäbe es das Hintereinander nicht mehr, als geriete alles durcheinander, dabei war schon der Gedanke kaum auszuhalten, dass Stillbach neben Rom weiterexistierte, dass ihre Brüder, während Emma jetzt hinter der Rezeptionstheke stand, die Felder bestellten. (...) Es war alles noch da, auch das, was längst gewesen.

    Der Roman macht Emmas alterstypische Verschiebung der Wahrnehmung hin zur immer größeren Präsenz des Vergangenen zum erzähltechnischen Stilmittel. In "Stillbach oder die Sehnsucht" lebt das längst Gewesene allgegenwärtig weiter. Im Fokus steht die faschistische Vergangenheit, quer durch alle Nationalitäten, gesellschaftliche Institutionen und soziale Zuordnungen.

    Paul fungiert dabei als trans-historischer Intermediär. 1978 verliebt sich Ines in den Geschichtsstudenten, der damals im Hotel Manente wohnt. 2011 führt er als Reiseleiter durch die faschistischen Spuren Roms. Clara und er kommen sich nahe, als er ihr beim Auflösen von Ines Haushalt hilft. Für den "gescheiterten Berufserinnerer" ist der Faschismus in Italien nach wie vor lebendig.

    So lebendig wie der noch 2011 in Rom unter Hausarrest stehende bald hundertjährige Nazi-Verbrecher Erich Priebke. Als Stellvertreter des Kommandeurs der deutschen Sicherheitspolizei in Rom, Herbert Kappler, war er maßgeblich am Massaker in den Adreatinischen Höhlen beteiligt. Bei diesem grausamen Vergeltungsschlag für die Toten der Via Rasella wurden 335 Menschen brutal hingerichtet. In der Fiktion spaziert Priebke mit seinem Hund im Park an Clara und Paul vorbei. Die Realität ist noch unfassbarer: 2010 war der ehemalige SS-Führer als Kandidat der NPD für die Nachfolge von Bundespräsident Köhler im Gespräch.

    Pauls pathologisch historischer Blick kennt die faschistische Vergangenheit zu jedem noch so alltäglichen Detail. Sogar die süßen Baci-Pralinen haben in seinen Augen einen präfaschistisch bitteren Beigeschmack. Die in Liebesnachrichten eingewickelten Schokoladennüsse wurden 1922, im Jahr von Mussolinis Marsch auf Rom, erfunden. Für Paul ist Gegenwart gelebte Geschichte. Der Faschismus lebt darin weiter - offen und versteckt.

    Es hört nicht auf. Es hört nie auf. (...) Alle Erfahrungen leben in irgendeiner Form weiter.

    Aus dieser Erkenntnis hat die gebürtige Südtirolerin Sabine Gruber ihren hochpolitischen Roman "Stillbach oder die Sehnsucht" entwickelt. Allerdings, ohne Täter oder Opfer auf nur einer Seite zu suchen. Es ist nicht immer leicht, sich in den unüberschaubar in den Roman eingeflochtenen historischen Fakten zurechtzufinden. Eins aber wird klar: Faschismus gibt es überall.

    Sabine Gruber hat sich in "Stillbach oder die Sehnsucht" der großen Herausforderung gestellt, sehr viele fundiert recherchierte Geschichts-Daten in eine komplex konstruierte Erzählung zu integrieren. In Form eines Romans im Roman schachtelt die Erzählerin die Geschichten von Emma, Ines und Clara wie bei einer Babuschka-Puppe. Alle drei Frauen spiegeln sich ineinander und ihre Sehnsucht nach der verlorenen Heimat Stillbach in einer unerfüllten Liebe.

    Manch einer mag vielleicht statt der mit geschichtlichen Fakten gespickten Liebesgeschichten lieber eine sachliche historische Dokumentation lesen. Aber es gibt sicherlich viele Leser, die ohne diesen Roman nie etwas über die durch ihn erzählte historische Vergangenheit erfahren hätten. Das vor allem macht "Stillbach oder die Sehnsucht" zu einem wertvollen Buch.

    Sabine Gruber: "Stillbach oder die Sehnsucht".
    C.H. Beck Verlag 2011. 378 Seiten, 19,95 Euro.