Nach einer selbst für Brüsseler Verhältnisse denkwürdigen Verhandlungsnacht ist in Europa nichts mehr, wie es einmal war. Machtkonstellationen haben sich verschoben. Brüche und Konfliktlinien sind sichtbar geworden, die noch lange nach diesem Gipfel spaltend wirken werden.
Die Konfliktlinien
Im harten Ringen um den Billionen-Haushaltsrahmen und hunderte Milliarden des Corona-Konjunkturpaktes ging der ursprünglich für zwei Tage angesetzte Gipfel in den vierten Tag. Eine 45-minütige Pause der Plenarsitzung kündigte der Sprecher von Ratspräsident Charles Michel zunächst an. Mehr als sechs Stunden wurden daraus. Die ganze Nacht hindurch setzte Michel die Einzelgespräche mit Staats- und Regierungschefs fort.
Parallel saßen die rivalisierenden Gruppen zusammen: Auf der einen Seite die selbsternannten Frugalen, die im Laufe des Gipfels vom Quartett aus den Niederlanden, Österreich, Dänemark und Schweden zur Fünfergruppe angewachsen waren, nachdem der österreichische Kanzler Sebastian Kurz und der niederländischer Premier Mark Rutte auch die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin auf ihre Seite gezogen hatten. Auf der anderen Seite die Osteuropäer. Von Hass gegen ihn und sein Land sprach der ungarische Regierungschef Viktor Orbán, von Erpressung der Schwächeren durch die Starken der polnische Premier Mateusz Morawiecki.
Man muss weit und in düstere Zeiten zurückdenken, um sich an eine solche Rhetorik in Europa zu erinnern. Nie zuvor war so deutlich geworden, dass die neue Bruchkannte in der Europäischen Union nicht mehr zwischen Nord und Süd, sondern zwischen Ost und West verläuft.
Die "Sparsame Fünf" siegen über deutsch-französische Achse
Die dramatischste Verschiebung der Kräfteverhältnisse in Europa haben Sebastian Kurz und Mark Rutte bewirkt. Als Anführer der selbsternannten Sparsamen haben sie die Macht der deutsch-französischen Achse gebrochen. Dass Angela Merkel im Mai den notorischen Widerstand Deutschlands gegen eine gemeinsame Verschuldung der EU aufgegeben hatte, um gemeinsam mit Emmanuel Macron den Vorschlag für ein 750 Milliarden Euro schweres Konjunkturpaket zu präsentieren, hatte Europa elektrisiert und die Dynamik in Gang gesetzt, die sich an diesem endlosen Wochenende in Brüssel verdichtete.
Am frühen Morgen war klar, dass Merkel, Macron und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen drastische Abstriche an ihren Vorschlägen hingenommen hatten, um ein Scheitern des Gipfels abzuwenden. Kurz und Rutte – so bestätigen mehrere Quellen – ist es gelungen, die Summe der nicht rückzahlbaren Zuschüsse unter die symbolische Grenze von 400 Milliarden Euro zu drücken. Nur noch 390 statt wie von Merkel, Macron und von der Leyen vorgeschlagen 500 Milliarden sollen als reine Zuwendungen an besonders hilfsbedürftige Länder ausgeschüttet werden. Der Rest des Konjunkturpakets muss als Darlehen von den Empfängern zurückgezahlt werden. Das Verhältnis zwischen Zuschüssen und Darlehen würde sich damit umkehren, sollte dies am Nachmittag die Grundlage eines finalen Kompromisses sein.
Von einem "Ergebnis", mit dem "wir sehr zufrieden" sein könnten, sprach Kurz. Die Verhandlungen seien "wieder auf der Spur", sagte Rutte. Mehr als die reinen Zahlen wiegt die Bedeutung dieser Machtdemonstration einer entschlossenen Gruppe kleiner Mitgliedsstaaten gegen das traditionelle Zentrum aus einem erneuerten deutsch-französischen Führungsduo und den Spitzen der Brüsseler Institutionen.