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Rückblick 2014 - Gespräche über die Ukraine (1/2)
"Dieses Gewissen Europas ist heute die Ukraine"

Vier Gespräche mit Schriftstellern aus der Ukraine führte Katja Petrowskaja im Herbst 2014. Sie eröffnen eine teils erstaunliche Weitsicht intellektueller Stellungnahmen. Es ging dabei weniger um die aktuelle Nachrichtenlage zum Euromaidan 2014, als um die realistische Zukunft der Ukraine in Europa.

Eine Übersichtsaufnahme über das Protestcamp am 09 12 2013 auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew
"Die Ukraine und ihre Gesellschaft haben das freie demokratische Modell ausgewählt" (imago/Markus Heine)

Barbara Schäfer: Im Jahr 2014 lud ich die Schriftstellerin Katja Petrowskaja zu einer Reihe von Gesprächen über die Ukraine ein, zu denen sie Kolleginnen und Kollegen aus der ukrainischen Literaturszene traf.
Katja Petrowskaja hatte gerade großen Erfolg mit ihrem Buch Vielleicht Esther, ein Jahr zuvor hatte sie den Ingeborg-Bachmann-Preis mit der Geschichte über die Erschießung ihrer jüdischen Urgroßmutter gewonnen, die 1941 im besetzten Kiew allein in der Wohnung der geflohenen Familie zurückgeblieben war.
Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, studierte Literaturwissenschaft im estnischen Tartu und promovierte in Moskau. Seit 1999 lebt sie in Berlin und arbeitete als Journalistin für russische und deutsche Medien. Für Vielleicht Esther, ihren Erzählband über die NS-Verbrechen in ihrer Heimatstadt, erhielt sie 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis und wurde um 2014 zu einer feuilletonistischen Stimme der Ukraine in den Medien.

2014 ein ukrainisches Schicksalsjahr

Mit Kolumnen wie „Die west-östliche Diva“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung verlieh die gebürtige Kiewerin der Ukraine seit 2011 eine Stimme in den deutschen Medien. Die Autorin, Journalistin und Literaturwissenschaftlerin hat im estnischen Tartu studiert und in Moskau promoviert. Katja Petrowskaja lebt in Berlin, dort trafen wir uns für die Aufnahmen im Deutschlandradio. Sie, die russischsprachig aufgewachsene, die inzwischen auch auf Deutsch schreibt, wählte den Titel „Tête-à-Tête“ für die Radiogespräche, was auch auf russisch für die Begegnung zu zweit steht.
2014 war ein weiteres Schicksalsjahr in der Geschichte der Ukraine. Im November 2013 verweigerte der amtierende Präsident Janukowytsch unter russischem Druck die Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen mit der EU. Studentenproteste in Kiew folgten. Im Februar 2014 setzte das ukrainische Parlament Janukowytsch ab, der gewaltfreie Protest breiter Bevölkerungskreise auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz (Maidan) führte zum Regierungswechsel, aber die Maidan‑Revolution erlebte bald ihren gewaltsamen Höhepunkt.
Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, studierte in Lemberg und Moskau und lebt nach Aufenthalten in Westeuropa und den USA heute wieder in Iwano-Frankiwsk. Er debütierte als Lyriker, publizierte Essays und zahlreiche Artikel zu aktuellen Themen. Drei Romane erschienen in den 1990er Jahren. 2006 wurde er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Völkerverständigung ausgezeichnet. 2020 erschien Die Lieblinge der Justiz. Parahistorischer Roman sowie 2016 Kleines Lexikon intimer Städte. Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik.
Russland annektierte völkerrechtswidrig die Krim und unterstütze die prorussischen Separatisten im Osten des Landes. Am 6. März 2014 verkündete Putin den Anschluss der Krim an Russland.
All das hatte tiefe Spuren hinterlassen, als sich die ukrainischen SchriftstellerInnen zum Tête-à-Tête im Radiostudio verabredeten.
Vor ein paar Wochen, als der Krieg Russlands gegen die Ukraine schon begonnen hatte, holte ich diese Gespräche aus dem Archiv. Natürlich sind sie überholt, von der Geschichte eingeholt, was ihre aktuelle Aussage angeht. Aber dennoch entschied ich mich, sie hier in Ausschnitten noch einmal vorzustellen.
Tanja Maljartschuk, geboren 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine, schloss an der dortigen Prykarpattia National Universität ein Philologiestudium ab. Sie arbeitete einige Jahre als Journalistin bei verschiedenen Fernsehsendern in Kiew. Seit 2011 lebt sie in Wien. 2009 veröffentlichte sie den Erzählband Neunprozentiger Haushaltsessig, begeistert aufgenommen als der „kraftvolle, poetische Ruf einer ukrainischen jungen Autorin, der gehört werden muss“. 2019 erschien der Roman Blauwal der Erinnerung über den vergessenen ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj.
Im Rückblick liegt Weitsicht: Die vier Gespräche aus dem Sommer und Herbst 2014 eröffnen die erstaunliche Weisheit intellektueller Stellungnahmen. Es geht dabei weniger um die aktuelle Nachrichtenlage an sich, als darum, ob Schriftsteller eigentlich geeignet sind, zu den aktuellen Entwicklungen in den Medien sprechen zu müssen. Alle Gespräche drehen sich um einen diskursiven Hintergrund für die realistische und sichere Zukunft der Ukraine in Europa aus der Sicht der Schreibenden. Alle fünf ukrainischen Intellektuellen hatten zu diesem Zeitpunkt Essays und Texte zur Lage der Ukraine verfasst.
Heute hören Sie Tanja Maljartschuk und Juri Andruchowytsch, er hatte 2014 das Buch Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht herausgegeben. Ein Maljartschuk-Essay ist darin enthalten, von ihr war 2013 die Biografie eines zufälligen Wunders erschienen.
In diesem Rückblick, der uns alle politischen Probleme der Ukraine von heute aus der Sicht von 2014 vor Augen führt, liegen auch so viele Hinweise darauf, wie wenig viele von uns sich nach 2014 Gedanken gemacht haben über dieses Land, seine Geschichte und seine Bewohner. Obwohl die Krim annektiert wurde und obwohl der Krieg im Donbass Jahr für Jahr zahlreiche Verletzte und Todesopfer kostete. Wir haben nach Kiew geschaut, junge und ältere Menschen im Fernsehen und in den Sozialen Medien sagen hören, dass sie auf Europas Nachbarn zählen, und auf das moderne Leben im 21. Jahrhundert, in dem man Konflikte auf diplomatischem Wege löst. Bis zum 24. Februar, bis zum ersten Angriff und Übergriff der russischen Armee.
Gespräch mit Juri Andruchowytsch, Erstsendung 28.09.2014
Juri Andruchowytsch
Der ukranische Schriftsteller Juri Ihorowytsch Andruchowytsch vor der Verleihung der Goethe-Medaillen 2016 (picture alliance / dpa / Michael Reichel)
Katja Petrowskaja: Tête-à-Tête mit Juri Andruchowytsch und …
Juri Andruchowytsch: … Katja Petrowskaja
Petrowskaja: In deutschen Medien wird die Ukraine immer noch so beschrieben, als wären es zwei Ukrainen, Ost und West, und sie ist durch die Sprachen geteilt. Als hätten die Menschen in der Westukraine nur ukrainisch gesprochen, und im Osten nur russisch und als wäre das die Haupterklärung für alle ideologischen und kulturellen Probleme.
Andruchowytsch: Ja, diese Sicht ist erstens sehr veraltet, aber auch in älteren Zeiten war diese Tatsache nicht wirklich entscheidend und aktuell. Sprachprobleme gibt es überhaupt keine in der heutigen Ukraine. Und der zweite Maidan, also die Revolution von 2013/2014, das war keinesfalls eine Revolution um eine Ethno‑Identizität oder um eine Sprache, welche Sprache dominieren muss. Das war eine Revolution, wo es um die sozialpolitischen Werte ging, also die Demokratie, die Freiheit, die soziale Gerechtigkeit, die europäische Zukunft des Landes. Und der Kiewer Maidan war irgendwie absolut, ich würde auch sagen, ideal zweisprachig. Die russischsprachigen Ukrainer und die Ukrainer, für die Ukrainisch Muttersprache ist, die standen beieinander mit ihren Molotow-Cocktails oder mit europäischen und ukrainischen Fahnen, und die Entwicklung der Situation war die Invasion Russlands, die Aggression auf der Krim zuerst, jetzt im Donbass, paradoxalerweise hat das die Ukraine noch mehr vereinigt. Ich denke, wir sind jetzt in einem solch unglaublich interessanten historischen Moment, wo es keine Westukraine und keine Ostukraine mehr gibt. Es gibt die einzige Ukraine, die gegen Putin-Land kämpft, und es gibt einen kleinen Zipfel im Osten, so glaube ich, zwei oder drei Prozent des ukrainischen Territoriums, von pro-Putinschen Separatisten kontrolliert. Aber wenn man sagt, jetzt gibt es in der Ukraine einen Krieg, wo die russischsprachige Ostukraine gegen die ukrainischsprachige Westukraine kämpft - das ist absolut, hundertprozentig falsch.
Petrowskaja: Aber es gibt noch mehrere komischste Äußerungen, auch in Deutschland, zum Beispiel aus dem linken Lager wird die Ukraine überhaupt als Objekt verschiedener Interessen dargestellt, als wäre die Ukraine kein großes Land, das einen eigenen Willen hat, sondern nur irgendwie ein Puffer zwischen amerikanischen und russischen Interessen. Und man muss noch schauen, wie eigentlich man mit diesen großen Mächten umgehen soll. Weißt du, warum solche Meinungen entstehen?

"Niemand hatte eine Ahnung, dass wir so eine Gesellschaft heute sind"

Andruchowytsch: Ja. Was erstaunlich ist, ist, dass das nicht nur die linke Sicht ist, auch die rechte.
Petrowskaja: Ja, sie finden sich wieder zusammen, und es ist auch sehr …
Andruchowytsch: Ja, die europäischen Rechten und die europäischen Linken sind absolut einig in der Frage, und das ist sehr, sehr beunruhigend. Ja, warum so eine Sicht überhaupt existiert, da bin ich wieder nicht verantwortlich, aber - wie kann ich das erklären, wie kann ich das begründen? Vor allem sprechen wir wahrscheinlich über ein ganz klischiertes Bewusstsein. Die Ukraine ist etwas, was dieses Repertoire sozusagen, dieses Klischee, ganz schön zerstört. Also: Niemand hat uns erwartet auf dieser Szene, auf dieser Bühne. Niemand hatte eine Ahnung, dass wir so eine Gesellschaft heute sind, die so mutig und selbstopferisch für die Werte aufstehen kann. Und Europa hat quasi diese Werte schon längst sich zugeschrieben. Und in Wirklichkeit, gefällt mir sehr so eine Äußerung, in Wirklichkeit interessieren die Europäische Union keine Werte mehr - es geht um die Preise, nicht um die Werte. Dieses Wortspiel ist sehr schön auf ukrainisch: Die Werte sind цінності [cinnosti] und die Preise ціни [cine]. Also keine цінності [cinnosti] - Werte, sondern ціни [cine] - Preise. Wie teuer Erdgas ist, wie viel Geld kann man für den Mistral von Russland bekommen, und so weiter und so fort. Wo liegen die Werte? Ach, die Werte, das ist - dieses Gewissen Europas ist heute die Ukraine, und man mag das nicht. Mit dem eigenen Gewissen zu kämpfen, ist immer sehr schmerzhaft. Es ist viel leichter und einfacher, zu sagen: „Schweig, mein Gewissen, ich kann dir nicht helfen.“
Petrowskaja: Meinst du, dass in der Ukraine jetzt Konflikte und Werte hochgekommen sind, also sich zeigen, die eigentlich Grundlage für Europa sind? Auch diese Konflikte mit Russland?
Andruchowytsch: Ich kann heute nur glauben, dass diese Werte irgendwie also eine Grundlage für Europa bilden. Aber natürlich geht es um ein ganz, ganz anderes gesellschaftliches Modell. Die Ukraine und ihre Gesellschaft haben das freie demokratische Modell ausgewählt. Was Russland ausgewählt hat, etwas, was absolut dagegen steht. Und das ist das Drama von, ja, ich würde sagen, von zwei Weltanschauungen auch. (…)
Petrowskaja: Ich wollte dich noch fragen: Du hast in Moskau studiert, Anfang der '90er, und du hast ein wunderschönes Buch, Moskowiada, das auch auf Deutsch erschienen ist. Ich habe es vor einigen Wochen durchgeblättert, und ich war geschockt, weil da die einzelnen Sachen als Prophezeiung irgendwie erscheinen. Also dieses skurrile Land, das wieder unerklärlich nach anderen Ländern greift und wieder zum Totalitären sich entwickelt - hattest du das erwartet?
Andruchowytsch: Jetzt kann ich sagen, ja. Aber ich denke immer noch, dass ich kein Prophet bin…

Antiwestliche, antidemokratische Rhetorik in Russland

Petrowskaja: Lass uns hoffen!
Andruchowytsch: Aber ich habe wahrscheinlich ein gutes Gefühl für die sozialpolitische Realität im ganzen postsowjetischen Raum, würde ich sagen. Vielleicht, ich vermute es. Ein Prophet zu sein, das wäre natürlich so eher eine mystische Erklärung, und ich möchte, dass wir bei der Realität bleiben. Diesen Roman habe ich Anfang '92 geschrieben, und, ja, heute, 22 Jahre später, gibt es diese - manchmal bekommt man das Gefühl, dass die Zeit stehengeblieben ist, manchmal, dass das doch etwas anderes ist, die heutige Lage, aber das irgendwie nach dem gleichen Modell, dass dieses Modell doch als die Grundlage immer aktuell bleibt.
Petrowskaja: Kannst du dieses Modell beschreiben?
Andruchowytsch: Oh, ja. Das ist vor allem ein imperiales Modell mit einer starken Tendenz zur menschlichen Unterdrückung, wo die einzelne menschliche Persönlichkeit überhaupt keinen Wert hat. Das bedeutet, etwas hierarchisch strukturiert, das ganze System so strukturiert, dass dort an der Spitze immer so ein Zar steht und das ganze System um ihn kreist. Und dass das irgendwie als ein durchaus positives System betrachtet wird. Eine antiwestliche, antidemokratische Rhetorik, die heutzutage in Russland überall präsent wird, ist ein Teil von dem Programm. Also, man spricht heute, das machen keine unausgebildeten Leute, das Gegenteil ist der Fall, das sagen die Vertreter - der Uni-Professor, die Historiker, die gesellschaftlichen Forscher, die Soziologen wie in einem Chor. Das Beste, was es als gesellschaftliches Modell in der Welt gibt, ist dieser russische Totalitarismus.
Schäfer: Die Ukraine im Gespräch – Sie hören eine Archivaufnahme von Gesprächen, die die in Berlin lebende Schriftstellerin Katja Petrowskaja 2014 für den Deutschlandfunk mit ukrainischen Autorinnen und Autoren führte.
Gespräch mit Tanja Maljartschuk, Erstsendung 26.10.2014
Tanja Maljartschuk
Tanja Maljartschuk nach der Verleihung des Usedomer Literaturpreises (picture alliance / dpa / Stefan Sauer)
Katja Petrowskaja: Tête-à-Tête mit … Tanja Maljartschuk
Tanja Maljartschuk: … und Katja Petrowskaja.
Petrowskaja: Ja, Tanja, guten Tag. Wir werden vielleicht heute wieder „du“ sagen. Das ist dann nicht so künstlich, weil wir uns ein bisschen schon kennen. Hallo!
Maljartschuk: Für mich ist die Heimat… bedeutet was anderes, das Wort „Heimat“.
Petrowskaja: Was genau bedeutet das Wort Heimat?
Maljartschuk: Das ist vielleicht die Sprache. Die Sprache und Geschichte und Kultur und Beziehungen und Leute. Etwas in mir drinnen. Also, ich trage meine Heimat immer mit mir.
Petrowskaja: Das bedeutet, du lebst in Wien, und du hast die Ukraine mitgenommen?
Maljartschuk: Ja. Leider kann man nicht die Heimat einfach so wie einen Mantel ausziehen und einen anderen probieren. Das geht nicht. Und jetzt bin ich mehr Ukrainerin als früher. Diesen Mangel an Identität haben wir alle, und das ist sehr tragisch, eigentlich, weil für viele Ukrainer jetzt auch im Osten zum Beispiel noch immer nicht klar ist, ob sie Ukrainer sind oder nicht. Es geht nicht um Nationalismus. Es geht um einfache Identität, also, zu welcher Gesellschaft gehörst du?
Petrowskaja: Wir kommen aus ganz unterschiedlichen Ukrainen. Du bist in Iwano‑Frankiwsk geboren, du bist 13 Jahre jünger als ich. Ich habe noch voll diese sowjetischen Zeiten im Guten und Bösen genossen sozusagen. Und ich bin ziemlich früh nach Moskau gegangen, und ich bin russischsprachig aus Kiew. Wir haben tatsächlich ganz unterschiedliche Ukrainen. Meine Ukraine ist eher Kiew, ich hatte eher so als Tourist in der Westukraine einige Sommer verbracht, aber für mich gibt es keine Frage, auf welcher Seite ich stehe und wen ich verteidigen soll, weil es um ganz deutliche Werte geht in diesem letzteren Konflikt und nun im Krieg. Und ich glaube, viele Leute auch in Deutschland verstehen das nicht, dass es nicht das Problem der Sprache ist oder irgendwelcher Grenzen, die sich durch die Sprache durch die Ukraine zieht, sondern es gibt ganz, ganz andere Sachen.
Maljartschuk: Genau. Viele denken noch immer, dass die Sprache die nationale Identität ist, und das ist falsch. Die Ukraine ist ein mehrsprachiger Staat. Also, das bedeutet nicht gleichzeitig, dass sie Russen sind. Das ist die Frage. Und wir haben das vielleicht noch immer nicht erklärt, dass Russischsprachige sind auch Ukrainer. Wer Russisch spricht, der gehört zur russischen Welt - das stimmt nicht.
Petrowskaja: Ja, vielleicht gehört auch - es ist letztendlich kein Widerspruch, aber es bedeutet nicht, dass man automatisch sozusagen -
Maljartschuk: Automatisch gehört - das wollte ich sagen, genau.

"Für mich war alles Russische immer sehr, sehr fremd und sogar feindlich"

Petrowskaja: - dass man automatisch bestimmte Werte verteidigt. Und ich meine, es gibt Leute, die zu verschiedenen Identitätsgruppen gehören können. Trotzdem bedeutet das nicht, dass man die mit Waffen verteidigen soll, besonders, wenn sie das nicht möchten. Also, es gibt diesen berühmten blöden Witz über zwei Odessiten: Einer sagt zum anderen, lass uns lieber auf Ukrainisch sprechen, und der andere sagt, meinst du, du hast Angst vor dieser Banderovci aus Kiew? Und er sagt, nein, nein, ich habe Angst, dass Putin hört, dass wir Russisch sprechen, und er kommt, uns zu verteidigen. Also das ist wirklich eine ganz komische Situation, heutzutage.
Petrowskaja: Du hast übrigens mehrere Texte darüber geschrieben, über deine Liebe, Hass zu Russland, und dein Buch Biografie eines zufälligen Wunders fängt eigentlich damit an, dass ein kleines Mädchen, die eigentlich Olenka heißen soll, auf Ukrainisch Lena heißt. Sie ist so ein bisschen verliebt in ihre Erzieherin in der Kita, im Kindergarten, die nur Russisch sprechen kann und nur Russisch sprechen möchte. Und sie versucht sogar, ab und zu Ukrainisch zu reden in der Zeit, als alle, jetzt wirklich alle Ukrainisch reden, und es klappt bei ihr nicht. Auch durch dieses Buch zieht sich diese russische Intonation, weil die Hauptfigur Lena heißt in dieser ukrainischen Welt. Und sie ist absolut ukrainisch, sie heißt nur Lena.
Maljartschuk: So wie Tanja, eigentlich. Das ist auch die russische Version der Tatjana.
Petrowskaja: Genau. Kannst du ein bisschen erklären, was aus deiner Sicht oder aus Sicht eines gebildeten Menschen aus Iwano-Frankiwsk diese russische Welt ist - ich meine jetzt russische Welt nicht terminologisch, sondern diese russische Literatur einerseits, diese russische Kultur andererseits und dieses Putin‘sche Russland. Was für ein Gebilde ist das, wie fühlt man als Ukrainer gegenüber diesem Konflikt?
Maljartschuk: Für mich war alles Russische immer sehr… sehr fremd und sogar feindlich. Oder gibt es ein Wort …
Petrowskaja: Feindselig. [die Red.]
Maljartschuk: Ja. Weil ich wurde so erzogen, eigentlich. Und es gibt noch immer viele Scherze, viele Witze über böse Russen und so weiter. Wobei, ich habe das nie wirklich - ich habe natürlich mitgespielt, als Kind auch, aber - in Galizien war das immer so. Wir sind leichte Anti-Russen, das stimmt. Und die alten Großväter und Großmütter, sie haben auch damals, als ich klein war, immer gesagt, dass die Russen nicht gut sind, - weil sie Gründe dafür hatten, sie erinnerten sich noch sehr gut an die Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg zum Beispiel.

"Weil die Russen nie unser brüderliches Volk waren"

Petrowskaja: An was genau haben sie sich erinnert?
Maljartschuk: Man gräbt noch immer viele Leichen …aus [die Red.] - in Iwano‑Frankiwsk zum Beispiel aus den Kellern - vor Kurzem gab es ein neues Ereignis, also in einer Schule, in einem Keller wurden viele Skelette gefunden, die von ukrainischen Intellektuellen aus dem Jahr 1939, als die Russen Galizien erobert haben. Und dann haben sie nur aber wenig Zeit, haben sie nur ein Jahr gehabt, dann sind die Deutschen gekommen. Und in Galizien, sie waren so erschrocken, was die Russen da gemacht haben, dass sie dann die Deutschen mit Brot und Salz erwartet haben und auf der Straße willkommen [geheißen, die Red.] haben. Und das - es gibt viele Bilder, und das war auch immer ein Grund zu sagen, dass wir aus dem Westen der Ukraine immer profaschistisch waren, was eigentlich nicht stimmt, die Menschen waren einfach froh, nichts mehr mit Russen zu tun zu haben. Und dann eben, was nach dem Zweiten Weltkrieg passiert ist in Galizien, bis in die 50er-Jahre gab es noch diese Partisanenbewegung, aber nicht nur in Galizien, sondern auch im Norden, in der Zentralukraine - es gibt eine Legende, dass der letzte Partisan 1991 aus dem Wald gekommen ist, und - wirklich - er hat seine verrostete [die Red.] Pistole oder was auch immer abgegeben mit den Worten: Die Ukraine ist unabhängig, ich gebe meine Waffe auf. Und das ist das, mit dem ich aufgewachsen bin. Und wir hatten nie einen Grund, wirklich die heutigen Russen zu hassen. (….) Wir wollen das nicht, unser Weg ist anders. Jetzt aber, als dieser Krieg angefangen hat, haben viele gesagt, was habt ihr eigentlich erwartet? Wir Ukrainer haben uns immer vorbereitet, dass das wieder kommt, weil die Russen nie unser brüderliches Volk waren. Das stimmt nicht. Wir sind einfach nur kolonialisiert.
Petrowskaja: Das ist natürlich deine Sicht. Aber ich komme aus Kiew, und ich habe ganz, ganz andere Vorstellungen, wie die Welt sich entwickelt hat. Also, es gab irgendwann Byzanz, und Kiew wurde eigentlich von Konstantinopeler Künstlern gebaut - also, man kann jetzt ganz unterschiedliche Theorien der Entwicklung dieses Teils der Welt erzählen. Aber eines ist einfach Tatsache, dass die Sophienkathedrale von Konstantinopeler Künstlern gebaut ist, dass wir in Kiew Fresken und Mosaiken haben, die mit diesem Ostbyzanz oder dem Ostchristentum sehr viel zu tun haben. Die sogenannte russische Sprache, das sogenannte Christentum ist in Kiew entstanden, es ist halb legendär, halb historisch, und dann wurde diese Kultur weiter nach Norden transportiert sozusagen. Und Kiew war dann eigentlich nach dem 13. Jahrhundert nicht mehr so mächtig und ist schwach geworden. Und ich bin aus diesem Kiew. Wie soll sich ein Mensch aus Kiew fühlen …
Maljartschuk: Das ist aber schön, nicht, das ist auch schön, dass die Ukraine so unterschiedlich ist, so multikulturell. Und das war sie auch immer - welches Jahrhundert du auch nimmst, das ist immer so. Es gab vieles, auch religiös, auch sprachlich und kulturell, und dann auch mit der Geschichte - es ist immer sehr unterschiedlich, aber trotzdem gab es immer diese Kräfte, die die Ukraine zusammengebracht haben, immer, wobei eben - wir hatten immer unterschiedliche Sprachen und Religionen und Geschichte - das ist interessant. Und nur das können wir jetzt auch wieder verteidigen. (…) Nur das können wir jetzt so anbieten, welche Zukunft die Ukraine hat. Also multikulturelle Zukunft, nicht dass nur alle jetzt Ukrainisch sprechen werden oder alle plötzlich Russisch wieder - das alles ist nicht wichtig, wichtig ist nur der Weg und eben die Suche nach etwas, was uns verbinden kann und nicht auseinander bricht.