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Rückblick 2014 - Gespräche über die Ukraine (2/2)
"Die EU ist auch selbst sehr labil"

Vier Gespräche mit Schriftstellern aus der Ukraine führte Katja Petrowskaja im Herbst 2014. Sie eröffnen eine teils erstaunliche Weitsicht intellektueller Stellungnahmen. Es ging dabei weniger um die aktuelle Nachrichtenlage zum Euromaidan 2014, als um die realistische Zukunft der Ukraine in Europa.

Oppositionelle demonstrieren am 02.02.2014 auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew
"Wir haben den Westen und die EU maßlos idealisiert" (imago/ITAR-TASS)
Barbara Schäfer: Im Jahr 2014 lud ich die Schriftstellerin Katja Petrowskaja zu einer Reihe von Gesprächen über die Ukraine ein, zu denen sie Kolleginnen und Kollegen aus der ukrainischen Literaturszene traf.
Katja Petrowskaja hatte gerade großen Erfolg mit ihrem Buch Vielleicht Esther, ein Jahr zuvor hatte sie den Ingeborg-Bachmann-Preis mit der Geschichte über die Erschießung ihrer jüdischen Urgroßmutter gewonnen, die 1941 im besetzten Kiew allein in der Wohnung der geflohenen Familie zurückgeblieben war.
Mit Kolumnen wie „Die west-östliche Diva“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung verlieh die gebürtige Kiewerin der Ukraine seit 2011 eine Stimme in den deutschen Medien. Die Autorin, Journalistin und Literaturwissenschaftlerin hat im estnischen Tartu studiert und in Moskau promoviert. Katja Petrowskaja lebt in Berlin, dort trafen wir uns für die Aufnahmen im Deutschlandradio. Sie, die russischsprachig aufgewachsene, die inzwischen auf Deutsch schreibt, wählte den Titel „Tête-à-Tête“ für die Radiogespräche, was auch auf russisch für die Begegnung zu zweit steht.
2014 war ein weiteres Schicksalsjahr in der Geschichte der Ukraine. Im November 2013 verweigerte der amtierende Präsident Janukowytsch unter russischem Druck die Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen mit der EU. Studentenproteste in Kiew folgten. Im Februar 2014 setzte das ukrainische Parlament Janukowytsch ab, der gewaltfreie Protest breiter Bevölkerungskreise auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz (Majdan) führte zum Regierungswechsel, aber die Maidan‑Revolution erlebte bald ihren gewaltsamen Höhepunkt.
Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, studierte Literaturwissenschaft im estnischen Tartu und promovierte in Moskau. Seit 1999 lebt sie in Berlin und arbeitete als Journalistin für russische und deutsche Medien. Für Vielleicht Esther, ihren Erzählband über die NS-Verbrechen in ihrer Heimatstadt, erhielt sie 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis und wurde um 2014 zu einer feuilletonistischen Stimme der Ukraine in den Medien.
Russland annektierte völkerrechtswidrig die Krim und unterstützte die prorussischen Separatisten im Osten des Landes. Am 6. März 2014 verkündete Putin den Anschluss der Krim an Russland.
All das hatte tiefe Spuren hinterlassen, als sich die ukrainischen SchriftstellerInnen zum Tête-à-Tête im Radiostudio verabredeten.
Vor ein paar Wochen, als der Krieg Russlands gegen die Ukraine schon begonnen hatte, holte ich diese Gespräche aus dem Archiv. Natürlich sind sie überholt, von der Geschichte eingeholt, was ihre aktuelle Aussage angeht. Aber dennoch entschied ich mich, sie hier in Ausschnitten noch einmal vorzustellen.
Im Rückblick liegt Weitsicht: Die vier Gespräche aus dem Sommer und Herbst 2014 eröffnen die erstaunliche Weisheit intellektueller Stellungnahmen. Es geht dabei weniger um die aktuelle Nachrichtenlage an sich, als darum, ob Schriftsteller eigentlich geeignet sind, zu den aktuellen Entwicklungen in den Medien sprechen zu müssen. Alle Gespräche drehen sich um einen diskursiven Hintergrund für die realistische und sichere Zukunft der Ukraine in Europa aus der Sicht der Schreibenden. Alle fünf ukrainischen Intellektuellen hatten zu diesem Zeitpunkt Essays und Texte zur Lage der Ukraine verfasst.
Andrej Kurkow wurde 1961 in St. Petersburg geboren, lebt aber seit seiner Kindheit in Kiew. Er absolvierte das Kiewer Fremdspracheninstitut, spricht elf Sprachen und war Zeitungsredakteur, Kameramann und Drehbuchautor. Seit 1996 arbeitet er freier Mitarbeiter bei Radio und Fernsehen und als freier Schriftsteller. Kurkow war Kommentator in internationalen Medien über das politische Leben in der Ukraine. Zuletzt erschien der Roman Graue Bienen (2019) über den Bienenzüchter Sergej, der im umkämpften Donbass lebt. 2018 veröffentlichte Kurkow den Roman Kartografie der Freiheit.
Andrej Kurkow hatte 2014 sein Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests veröffentlicht, Aufzeichnungen über die Ereignisse in der Ukraine rund zehn Jahre nach der Orangen Revolution. Aufmerksamkeit erregte auch die im Februar 2014 von der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt organisierte Veranstaltungsreihe „Bewegliche Territorien“, in der Jurko Prochasko mit Juri Andruchowytsch, Serhij Schadan und Tanja Maljartschuk die Lage und Perspektiven der Ukraine nach der Euromaidan‑Revolution thematisierte.
In diesem Rückblick heute auf die Radiogespräche in Essay & Diskurs, werden uns alle politischen Probleme der Ukraine von heute aus der Sicht von 2014 vor Augen geführt, liegen auch so viele Hinweise darauf, wie wenig viele von uns sich nach 2014 Gedanken gemacht haben über dieses Land, seine Geschichte und seine Bewohner. Obwohl die Krim annektiert wurde und obwohl der Krieg im Donbass Jahr für Jahr zahlreiche Verletzte und Todesopfer kostete. Wir haben nach Kiew geschaut, junge und ältere Menschen im Fernsehen und den Sozialen Medien sagen hören, dass sie auf Europas Nachbarn zählen, und auf das moderne Leben im 21. Jahrhundert, in dem man Konflikte auf diplomatischen Wege löst. Bis zum 24. Februar, bis zum ersten Angriff und Übergriff der russischen Armee.
Juri Bohdanowytsch Prochasko, genannt Jurko, ist ein ukrainischer Essayist, Germanist, Schriftsteller, Übersetzer und Psychoanalytiker. Geboren 1970 in Iwano-Frankiwsk, studierte er Germanistik in Lwiw, Lemberg, wo er seit 2015 ständig lebt. Er schrieb zahlreiche Essays zur Kulturgeschichte Galiziens. Für seine Übertragungen deutschsprachiger Literatur, u.a. Joseph Roth und Robert Musil, wurde er mit dem Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland ausgezeichnet. Prochasko gilt als ein wichtiger kultureller Vermittler zwischen der Ukraine und Deutschland, der sich aktiv für die Einbindung der Ukraine in Europa einsetzt.
Jurko Prochasko ist ein ukrainischer Essayist, Germanist, Schriftsteller, Übersetzer und Psychoanalytiker. Geboren 1970 in Iwano-Frankiwsk, studierte er Germanistik in Lwiw, Lemberg, wo er seit 2015 ständig lebt. Er schrieb zahlreiche Essays zur Kulturgeschichte Galiziens. Prochasko gilt als ein wichtiger kultureller Vermittler zwischen der Ukraine und Deutschland, der sich aktiv für die Einbindung der Ukraine in Europa einsetzt.

Gespräch mit Jurko Prochasko, Erstsendung 23.11.2014
Jurko Prochasko spricht bei der Veranstaltung "Wohin stürmst Du, Russland? Deutsch Russischer Dialog"
Jurko Prochasko bei der Veranstaltung "Wohin stürmst Du, Russland? Deutsch Russischer Dialog" in der Akademie der Künste Berlin am 19. April 2013 (imago/gezett)

Katja Petrowskaja:
Sie hören „Tête-à-tête“ mit Jurko Prochasko und …
Jurko Prochasko: …und mit Katja Petrowskaja. Guten Tag!
Petrowskaja: Sie und ich und viele andere finden, dass eigentlich das Geschehen in der Ukraine vielleicht das europäischste Ereignis in den letzten Jahren in Europa war. Dabei ist Europa nicht wirklich froh über dieses Ereignis oder irgendwie … nimmt das mit Verlegen[heit]. Es gibt natürlich diesen Mainstream, der sagt, wir sind pro-ukrainisch, wir unterstützen Demokratie und so weiter, aber eigentlich ist das Ganze ziemlich schleppend und sehr fragwürdig. Wie finden Sie das, sind Sie mit der Reaktion vom Westen zufrieden, was ist dieser Westen überhaupt?
Prochasko: Nein, das weiß jetzt keiner mehr, was der Westen jetzt ist, das wird sich auch noch herausstellen müssen. Ich habe allgemein den Eindruck, dass der sogenannte Westen eben hier diese unglaubliche Fähigkeit gezeigt hat, die wichtigen Stränge und die wichtigen Entwicklungen mit einer großen Verspätung zu registrieren. Für meine Beobachtung ist es so, dass die Erkenntnis, die für uns oder für meinen Umkreis von Anfang an evident ist, dass es durchschnittlich mit zwei Monaten Verspätung im Westen registriert und verstanden und eingesehen wird. Warum es das ist, also, das hat den Westen, die EU zu einem sehr, sehr ungünstigen Moment getroffen, dieses Ereignis in der Ukraine. Die EU ist auch selbst sehr labil, sehr schwach, sehr verzweifelt, sehr an sich selber zweifelnd, das ist das eine. Sie hat sich kaum noch erholt von der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise und schon droht eine nächste, das ist das andere. Das Dritte ist, es ist sehr gespalten, es gibt keine Einheit mehr, ob man die UNO noch braucht oder es besser wäre, sich zurückzuziehen wieder auf die gewöhnlichen, üblichen, herkömmlichen Muster von partikulären Interessen und Nationalstaaten. Und es gibt keine Begeisterung, aber es gibt auch überhaupt keine Begeisterung, etwas verändern zu wollen. Es ist so, als wäre der Westen erstarrt in der Angst, der Jetzt-Zustand, der Status quo könnte hier abhanden kommen. Deshalb, denke ich, war das zu einem sehr, sehr ungünstigen Augenblick, dass wir uns schlecht gegenseitig verstanden haben. Wir haben am Anfang - wir, wenn ich wir sage, meine ich den Großteil der Ukraine -, wir haben den Westen und die EU maßlos idealisiert. Und dann diese Entdeckungen und diese Einsichten, die wir gemacht haben, als die Reaktionen auf unsere Revolutionen kamen, haben noch nicht zu Ressentiments geführt, aber auch zu Ernüchterung. Weil wir schon diesen Westen nicht mehr idealisieren, aber bessere Verbündete haben wir auch nicht. Also, wir müssen mit den Verbündeten und mit der Orientierung leben, die uns bleiben. Und es ist deshalb aber auch gut, weil es realitätsbezogen ist. Es ist einfach realistischer, einfach nüchterner, es ist viel besser, dass wir verstanden haben, dass der Westen so ist, wie er eben ist, als würden wir ihn weiterhin idealisieren.

"Die Ukraine kann eigentlich nur weiter bestehen, indem sie sich nach Westen orientiert"

Petrowskaja: Ja, es wird ständig über die Ukraine gesprochen, als wäre sie so ein Objekt von Interessen. Und man sagt, ja, natürlich, es wäre sowieso passiert, weil die Ukraine Richtung Westen gegangen ist und mit Russland nicht mehr sein wollte. Dabei ist eigentlich dieser Traum von Europa in der Ukraine und diese Idealisierung von Europa für die Ukraine auf realer Ebene die einzige Garantie, um diese demokratischen Werte zurückzuholen. Und das haben, glaube ich, viele Leute hier nicht verstanden, dass vielleicht Europa in der Vorstellung der Ukraine viel europäischer, viel schöner ist, voller verschiedener Garantien und Ereignisse als das Bild von Europa in europäischen Köpfen.
Prochasko: So ist es, in der Tat, ja. Paradoxerweise ist es auch richtig, wenn man sagt, dass sich die Ukraine nach Westen orientiert und orientieren will und nach Westen gehen will. Nur, das Fehlerhafte dabei besteht darin, dass man darunter das Institutionelle meint, die institutionelle Anbindung, die institutionelle Annäherung, die institutionelle Integration, die ist natürlich enorm wichtig. Und Sie haben absolut recht, wenn Sie sagen, die Ukraine hat überhaupt keinen anderen Weg, nicht nur wenn die Ukraine westlich oder europäisch oder europäischer werden möchte, sondern wenn sie sie selbst bleiben möchte. Auch deshalb. Die Ukraine kann sich unmöglich jetzt verlieren in diesem imperialen, neoimperialen Projekt, denn da hört sie auf zu sein. Sie ist nicht stark genug, sie ist keine eigene Zivilisation, um einen dritten, einen mittleren Weg zu verfolgen. Und sie kann eigentlich nur weiter bestehen, indem sie sich nach Westen orientiert. Aber diesen Westen verstehe ich viel, viel elementarer, viel klassischer, wenn Sie wollen. Westen im Sinne von klassischen liberalen und demokratischen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit, von Bürgerrechten, von Bürgerfreiheiten, von Gewaltenteilungen, von freiem Unternehmertum. Das sind alles Werte, die eben im Westen entstanden sind. Und insofern stimmt es wirklich, dass sich die Ukraine nach Westen orientiert.

"Das genuine Wesen der Ukraine ist diese unglaubliche Vielfalt, diese Pluralität"

Petrowskaja: Das ist eine der schwierigsten Fragen überhaupt, was ist diese Ukraine mit ganz unterschiedlichen kulturellen Einflüssen und Himmelsrichtungen, in welche die Leute sich entwickeln möchten. Sie vertreten die westlichste Ukraine, biografisch und kulturell, Sie sind in Stanislau geboren und haben in Lemberg studiert, und Ihre Ukraine ist auch Richtung Wien gerichtet. Und meine Ukraine war absolut russisch, ich wusste überhaupt nicht mal, dass Leute, irgendwelche Leute um mich herum doch Ukrainisch als Muttersprache hatten, denn alle in Kiew haben Russisch gesprochen. Und zweieinhalb Freunde, die Ukrainisch sprachen, nahm ich immer als Exoten, und wir waren komplett auf Moskau ausgerichtet, wir wussten auch nicht, dass die Geschichte voll von Unterdrückung ist, auf jeden Fall in der Kindheit habe ich das überhaupt nicht wahrgenommen. Und was verbindet uns überhaupt, können Sie mir das erklären?
Prochasko: Ja, für mich ist genau das Wesen, das genuine Wesen der Ukraine diese unglaubliche Vielfalt, diese Pluralität. Und ich bin vielleicht anders als Sie schon mit dieser sehr, sehr großen Pluralität von Anfang an aufgewachsen. Denn es stimmt schon wirklich, dass ich aus dem ukrainischen Ostgalizien komme, und ich bin dort sozialisiert und da hat meine geistige Evolution stattgefunden hauptsächlich. Aber meine Umwelt, meine Lebenswelt war schon sehr, sehr, sehr vielfältig. Das waren zum einen wir, die sich zur ukrainischen Kultur zählten und zur ukrainischen Sprache und zu ukrainischen Visionen, es waren auch die Überbleibsel von der heruntergekommenen Welt von früher, es waren irgendwelche Relikte von der k.u.k. Zeit, aber auch aus der Zwischenkriegszeit. Und zugleich waren es die Sowjets, die sowjetischen Kulturen, die da neu gekommen waren nach ‘39 und dann nach ‘44 zu uns. Und für mich ist deshalb auch das Russische natürlich, nicht nur das Sowjetische, sondern auch das Russische ist das Allernatürlichste dieser Welt. Und ich habe lange geglaubt, nur dieser Teil der Ukraine, oder diese Teile der Ukraine, die früher zur Habsburger Monarchie gehört haben - sprich: Ostgalizien und die Bukowina und Transkarpatien -, die können damit rechnen, sich als Mitteleuropa zu bezeichnen. Also, wir sind Mitteleuropa und das ist gut, der Rest der Ukraine ist eben nicht Mitteleuropa, ja, das ist bloß die Ukraine. Ja, aber was mir sehr, sehr wichtig ist: Diese Revolution, die November-, die Maidan-Revolution, die, wie gesagt, noch weiter geht, ist für mich entscheidend deshalb, weil hier zum ersten Mal in der neueren ukrainischen Geschichte etwas sehr, sehr, sehr deutlich geworden ist, was bis dahin nicht so klar war. Erstens, dass die Werte und die Vorstellungen davon, was Mitteleuropa ist, haben sich sozusagen von nur Galizien oder der Bukowina oder Transkarpatien jetzt für mich auf die gesamte Ukraine erweitert. Wir sind Mitteleuropa. Jetzt ist die ganze Ukraine Mitteleuropa und ich versuche zu erklären, warum: Weil sich für mich Mitteleuropa nämlich aus sehr wenigen, aber sehr, sehr, sehr wichtigen Voraussetzungen zusammenfügt. Erstens ist es eine absolute Absage an Großmacht- und Großstaatlichkeit. Wir sind selber keine Großmacht und das ist gut so. Mitteleuropa und Großmacht sind Begriffe, die nicht zusammenkommen, die nicht zu vereinbaren sind. Wir sind eben keine Großmacht und wir wollen das auch nicht sein und wir wollten das auch nicht sein. Deshalb sind wir auch genuin Mitteleuropa. Und zweitens: Wir sind eine multiple, vielfältige Gesellschaft, und das ist auch sehr mitteleuropäisch. Und das ist jetzt völlig klar geworden, dass diese Konstitution, diese Verfassung für die ganze Ukraine gilt. Das war auch eine multiple und plurale und pluralistische Revolution. Da ging es tatsächlich weder um Ethnien noch um Sprachen, noch um die Frage, was nun die Leitkultur - um zum deutschen Begriff zu greifen - in der Ukraine sein sollte. Nein, es ging um viel, viel bedeutendere Sachen, nämlich um die Frage, wie wir gemeinsam mit unserer ganzen Vielfalt, mit unseren vielen Sprachen, mit unseren unzähligen Hintergründen, Familiengeschichten gemeinsam eine vernünftige Gesellschaft bauen wollen, aufbauen wollen, wo wir uns alle wohlfühlen. Darum ging es. Und das ist für mich auch eminent zentraleuropäisch, mitteleuropäisch.
Petrowskaja: Haben Sie das Gefühl, das wird uns gelingen?
Prochasko: Es könnte gelingen, ja. Also, ich bin nicht gegenüber den vielen, vielen Gefahren, die da lauern aus verschiedensten Richtungen, überhaupt nicht blind, ich bin gar nicht so naiv, um zu glauben, dass alles schon getan ist. Die wichtigen Voraussetzungen sind geschaffen. Aber die Garantie, dass es für immer gefestigt ist, ist natürlich nicht da. Also, das kann auch von verschiedensten Seiten her wieder zerstört werden. Es kann von außen zerstört werden, es kann von innen kaputt gemacht werden, es kann vermasselt werden, es kann radikalisiert und gespalten werden und dann wieder ginge diese Vielfalt und diese Fähigkeit zum Aushandeln, diese Fähigkeit verloren auszutarieren, wenn wir uns radikalisieren. Natürlich ist diese Gefahr auch da, geschweige denn dieser große, konterrevolutionäre Krieg, der genau deshalb losgetreten wurde, um diese demokratische, liberale Bürgerrevolution in der Ukraine zu verhindern.
Gespräch mit Andrej Kurkow, Erstsendung 28.12.2014
Andrej Kurkow auf einer Bühne, hinter einem Mikrofon
Der ukrainische PEN-Präsident Andrej Kurkow (IMAGO/Alex Halada)

Katja Petrowskaja:
Sie hören „Tête-à-tête“ mit Andrej Kurkow …
Andrej Kurkow: … und Katja Petrowskaja.
Petrowskaja: Andrej, ich begrüße dich. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren, und es ist irgendwie selbstverständlich, dass wir auf Deutsch hier reden. Du bist bei Leningrad geboren, du bist in Kiew aufgewachsen und du schreibst auf Russisch. Kannst du kurz beschreiben, wie hat die Rolle der russischen Sprache sich verändert innerhalb dieser Jahre?
Kurkow: Ja, ich erinnere mich, als ich Kind war in Kiew, da sprach praktisch niemand Ukrainisch. Ich lernte Ukrainisch selber im Alter von 15 Jahren, weil ich hatte einen Freund in der Schule, einziger Freund aus einer ukrainischsprachigen Familie. Und das war interessant für mich, weil ich doch damals in der ukrainisch-sowjetischen Republik lebte, aber praktisch sprach in Kiew niemand Ukrainisch. Und heute natürlich sprechen ein bisschen mehr Leute Ukrainisch, aber bis 70 Prozent bis 75 Prozent der Bewohner von Kiew sind bis heute russischsprachig, und die Stadt bleibt sozusagen eine russischsprachige Stadt. Es gab und es gibt keine großen Probleme zwischen Leuten, die verschiedene Sprachen sprechen, weil ich komme zum Beispiel ganz oft … ich spreche beide, aber ich höre oft in Läden, in Geschäften, dass ein Käufer eine Verkäuferin etwas auf Russisch fragt, bekommt eine Antwort auf Ukrainisch, und das Gespräch geht so weiter ohne Probleme, ohne Missverständnisse.

"Sie haben es geschafft, die sowjetische Mentalität zu behalten, bis heute"

Petrowskaja: Eigentlich ist es genauso wie im Parlament, und es gibt sogar mehrere Talkshows im ukrainischen Fernsehen, wo die Teilnehmer ständig zwischen den Sprachen wechseln, und das ist eigentlich eine sehr produktive Situation und beinahe einmalige Situation für eine Stadt, wo die Leute sogar im öffentlichen Fernsehen Sprachen wechseln und alle einander verstehen.
Wie siehst du eigentlich die weitere Entwicklung von diesem sogenannten Konflikt oder sagen wir Krieg zwischen Ukraine und Russland?
Kurkow: Ja, ich glaube, Russland ist interessiert, dass die Situation eingefroren bleibt und unter Kontrolle der russischen Armee und der russischen Politiker, und das bedeutet, dass eigentlich diese 200 Kilometer der Grenze zwischen Russland und dem Territorium, das von Separatisten […] kontrolliert [wird], werden eigentlich sozusagen offen bleiben, und Russland wird alles dorthin liefern, was Russland möchte. Das bedeutet, dass eigentlich die ukrainische Regierung ganz viel Geld für Verteidigung und für die Armee ausgeben muss, weil wir haben jetzt 2.000 Kilometer lang Grenze zwischen Separatisten und uns. Ich habe einfach Angst, dass in dieser Situation die Regierung und der Präsident nicht in der Lage sein werden, über ökonomische Reformen nachzudenken oder andere Probleme, die bei uns existieren.
Petrowskaja: Du bist sehr viel durch die Ukraine gereist, du warst in mehreren Orten und vielleicht überhaupt fast überall. Wie siehst du die Ukraine, wie unterschiedlich ist die Ukraine für dich? Gab es eigentlich einen Grund für diesen Konflikt, was oft als innerer Konflikt in der Ukraine geschildert wird?
Kurkow: Der Grund ist da eigentlich und war immer da, weil ukrainische Politiker, ukrainische frühere Präsidenten wollten eigentlich nicht ein Konzept, eine innere Politik in dem Land zu führen, die alle Regionen eigentlich vereinen oder eine gemeinsame Nationalidee finden oder eine Idee, die eigentlich ein ganzes Land in eine Richtung bringen wird. In diesem Sinne, die russischsprachigen Regionen wie Donbass sind nicht eine oder nur eine Region, es gibt ganz viele russischsprachige überall, in Sakarpatje, in Lemberg, zehn Prozent der Bevölkerung. Das heißt aber, dass die Leute in Donbass von der Lokalmafia und von Oligarchen und Lokalpolitikern konserviert waren. Sie haben es geschafft, die sowjetische Mentalität zu behalten, bis heute, und in diesem Sinne sind sie mehr eigentlich ähnlich zu Russländern, weil dort herrscht bis heute diese Mentalität, fast monarchische Mentalität. Es muss eine Partei sein, ein Präsident, der bis zu seinem Tod bleiben wird, wie ein Zar, und die Leute haben eigentlich keine Lust, aktiv in die Politik einzutreten.
Petrowskaja: Wie, denkst du, wird es sich weiterentwickeln?
Kurkow: Das ist schwer zu sagen, eigentlich glaube ich, nach dem Winter wird es klarer sein, weil die Hauptsache ist jetzt für alle Regionen in der Ukraine, den Winter zu überleben, obwohl der Vertrag mit Russland wegen Gas ist unterschrieben, aber alles kann passieren, weil Russland gibt nie eine Garantie, dass die russische Regierung auch Verträgen folgen wird. Aber ich glaube, auch für Donbass gibt es jetzt Schwierigkeiten. Die sind komplett finanziell, weil natürlich die ukrainische Regierung kein Geld dorthin schicken wird für Renten, für Gehälter, weil es praktisch keine Banken gibt, die dort funktionieren […]. Das heißt, dass jetzt entweder Russland diese Region, besetzte Region die ganze Zeit finanzieren muss, oder es wird neue Probleme für die Bevölkerung dort geben.

Beendete Freundschaften

Petrowskaja: Ich weiß, dass viele Freunde von mir in Kiew eigentlich mit dieser Problematik beschäftigt sind. Sie organisieren große Vereine, um Flüchtlingen zu helfen, um finanzielle Hilfe zu leisten, und es sind mittlerweile Dutzende, Tausende Menschen, die sich damit beschäftigen. Ich hatte von meinen Freunden das nicht erwartet. Ich wollte dir eine Frage über Freunde stellen. Du bist auch in diesem großen sowjetischen Raum aufgewachsen, du hast bestimmt Freunde in St. Petersburg und Moskau. Wie kommunizierst du jetzt mit ihnen, hast du was Katastrophales mit ihnen erlebt, hast du Freunde verloren wegen dieses Konfliktes? Wie siehst du das Ganze?
Kurkow: Ja, vor einiger Zeit habe ich Freunde verloren, eigentlich habe ich fast keine Kontakte mehr, weil auch meine Freunde meine E-Mails nicht mehr beantworteten im Dezember, Januar, März. Nur einige meiner Kollegen, russische Schriftsteller, unterstützen eigentlich Ukraine und mich in dieser Situation, aber diese Schriftsteller sind im Westen bekannt und sind Übersetzer - Wladimir Sorokin, der auch jetzt hauptsächlich, glaube ich, in Berlin lebt, Ljudmila Ulitzkaja, die verbringt mehr Zeit vielleicht in Israel jetzt als in Moskau, und Boris Akunin, Grigori Tschchartischwili, der in Frankreich lebt. Mit diesen Leuten bin ich noch in Kontakt. Die anderen Schriftsteller, ich werde sie nicht nennen, aber sie beantworten keine E‑Mails. Und ich habe auch die Texte von einigen gelesen, die waren ganz anti‑ukrainisch und pro-Putin, ich war wirklich sehr überrascht.
Petrowskaja: Meine Freunde sind doch irgendwie anti-Putin geblieben, und das ist auch ganz klar, aber einige Bekannte sind doch zusammen mit dieser prorussischen, pronationalistischen Bewegung gedriftet.
Kurkow: Ja, ich glaube, einige haben Angst. Die anderen, zum Beispiel Kulturleute, sie verstehen, dass die russische Regierung die ganze Zeit sehr stark russische Kultur gefördert hat, und praktisch sind alle Schriftsteller oder Künstler oder Filmemacher abhängig von der russischen Regierung und dem russischen Budget und bekommen das Geld von dort und wollten eigentlich nicht diese Kontakte oder Möglichkeiten verlieren. So schweigen sie oder sie sind zusammen mit anderen, mit der Regierungspartei. Weil ich erinnere mich, nach der Besetzung von der Krim unterschrieben Hunderte russische Schriftsteller diesen Brief, um Putin zu unterstützen.