Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sind nur 50 Prozent der Patienten therapietreu. Die andere Hälfte der Behandelten befolgt die ärztlichen Ratschläge nicht. Die Variationsbreite insgesamt liegt zwischen 0 und 100 Prozent.
“Alles in Allem war ich bisher immer zufrieden mit Ärzten und hab auch immer brav gemacht, was die sagen. Liegt aber auch wahrscheinlich an meiner Erziehung. Meine Mutter ist Krankenschwester und meine Schwester auch und da gab’s keine Widerworte damals und von daher leg ich mich da voll und ganz in deren Hände. Durch meinen Beruf in der Pflege habe ich mitgekriegt, dass ganz viele Entscheidungen von wirtschaftlichen Faktoren abhängen und sehr wenig mit dem Patienten zu tun haben. Das hat mir viel vom Vertrauen in die ärztliche Kunst genommen. Ich geh gar nicht erst zum Arzt. Im Groben und Ganzen bin ich mit dem, was meine Ärzte mir verschreiben oder sagen, zufrieden und tu das auch.“
“Compliance bedeutet das Ausmaß an Übereinstimmung zwischen dem, was der Patient wirklich tut und dem, was dem Patienten vom Arzt verordnet wurde, sprich Diät, Medikamente, Verhaltensmaßnahmen“, sagt die Pharmakologin Professor Petra Thürmann von der Helios-Klinik Wuppertal, dem Lehrkrankenhaus der Uni Witten-Herdecke.
“Der Begriff Compliance kommt eigentlich aus einem sehr paternalistischen Bild einer Arzt-Patienten-Beziehung und man verwendet heute lieber den Begriff “Adhärenz“. Das bedeutet nicht nur, dass der Patient das tut, was der Arzt ihm verordnet hat, sondern dass der Patient sich an das hält, was er mit dem Arzt gemeinsam festgelegt hat.“
"Ich weiß nicht, warum ich diese blöden Tabletten nehmen soll"
Das gemeinsame Festlegen auf Therapieziele erfordert vom behandelnden Arzt Zeit und kommunikative Fähigkeiten, letztere werden mittlerweile nicht nur in den Reformstudiengängen der Medizin gelehrt. Doch nicht nur der Arzt sollte kommunikative Grundregeln beherrschen und anwenden.
“Es ist ja auch so, dass in der Arzt-Patienten-Beziehung der Patient sich scheut, dem Arzt die Meinung zu sagen und anstatt: Mensch, ich hab Nebenwirkungen oder: ich vertrag das nicht oder ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich diese blöden Tabletten nehmen soll, dann tut der Patient dem Arzt lieber den Gefallen und behauptet, er hätte die Medikamente genommen. Das gibt es ganz oft, dass die Patienten dem Arzt nicht sagen, dass sie die Medikamente nicht nehmen und der Arzt wundert sich, warum ist der Blutdruck immer noch nicht gut eingestellt und verordnet das nächste Medikament.“
Eine ähnlich unbefriedigende Situation zeigt sich bei der Verordnung von Antibiotika. Ist der Patient unzuverlässig oder uneinsichtig und nähme das Präparat nicht nach Anweisung, blieben Erkrankung und Beschwerden bestehen, was wiederum zur Verordnung eines anderen Antibiotikums führt und letztendlich zu Resistenzen beim Patienten. Ein Drehtüreffekt mit unkalkulierbaren Folgen. Das Non-Compliance oder nicht-adhärente Patientenverhalten tritt allerdings seltener bei akuten als vielmehr bei chronischen Krankheiten auf.
“Es gibt natürlich Krankheiten, wo die Adhärenz in der Regel relativ schlecht ist, und zwar Dinge, die nicht weh tun und wo man auch nicht gleich sofort Erfolge merkt, wie beispielsweise Blutdrucksenker oder Cholesterinsenker. Ein erhöhtes Cholesterin tut nicht weh und das einzige, was man vielleicht spürt, ist in einigen Jahren ein Herzinfarkt oder Schlaganfall. Aber auch das sieht der Patient nicht in direktem Zusammenhang mit einer Medikamenteneinnahme.“
Frauen halten sich besser an denb Rat der Männer
Bei akuten Notfällen, starken Schmerzen oder wirklich lebensbedrohenden Krankheiten wird ein Patient höchstwahrscheinlich ohne Zögern alles tun, was der Arzt verlangt: er sucht dringend Hilfe und Erlösung von seinem Leiden. Bei chronischen Erkrankungen sieht das anders aus: Komplizierte Medikation möglicherweise mit unerwünschten Nebenwirkungen, strikte Diät, Bewegungsverordnung oder Rauchverbot hätten es schwer beim Patienten, so Petra Thürmann. Eine zweite schwer kalkulierbare Variable sei der Mensch selbst, der “Typus“ von Patient.
“Generell ist es so, und das sind auch Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation, dass je niedriger der soziale Status ist, desto schlechter ist auch die Adhärenz, ansonsten gibt es immer die Aussage, dass Frauen sich besser daran halten als Männer, aber wirklich bewiesen ist das nicht. Man kann auch nicht davon ausgehen, dass gerade sehr gut gebildete Menschen immer eine sehr hohe Adhärenz zeigen, weil die natürlich verständlicherweise auch dazu neigen, ihre eigene Meinung zu haben und häufig dem Arzt oder Therapeuten sagen: ja und es dann doch nicht tun.
“Mittlerweile diskutiere ich das schon aus, dass ich mir zum Beispiel das Antibiotikum auf Rezept verschreiben lasse und sage: ich würde das gern bis zum Wochenende mit meinen Hausmitteln ausprobieren. Wenn ich dann keine Verbesserung merke, dann nehme ich es auch und dann nehme ich es auch zu Ende. Unterschiedlich ist es, wenn man als alter Mensch vom Arzt behandelt wird. Ich habe mitgekriegt im Pflegeheim bei meiner Tante, dass die Ärzte etwas verordnet haben, haben aber mit dem Patienten überhaupt nicht gesprochen. Die haben sich mit dem Pflegepersonal unterhalten und danach dann aufgeschrieben, was der Patient nehmen soll.
Patienten wünschen sich vom Arzt sehr viel mehr Erklärungen
Bei mir selbst ist es eben so, dass ich gar nichts mehr runterschlucke, von dem ich nicht weiß, was es ist. Es ist im Krankenhaus so, dass man die Medikamente unverpackt bekommt und wenn ich dann nachfrage: was ist das für eine Tablette, das auf ein großes Unbehagen stößt. So nach dem Motto: schlucken Sie das mal runter, der Arzt hat das gesagt. Es hat mal eine Situation gegeben, da habe ich nicht das getan, was der Arzt gesagt hat; denn der Arzt hat mir die Diagnose gestellt, ich müsste ganz schnell operierte werden, weil ich vermutlich einen Schilddrüsenkrebs habe und der Zeitpunkt der Operation passte gar nicht und da habe ich mir eine zweite Arztmeinung eingeholt. Es ist letztlich zu einer Operation gekommen, aber zu einem Zeitpunkt, den ich selber bestimmen konnte und nicht sofort und es war auch nicht nötig. Es ist zum Glück dann auch kein Krebsbefund festgestellt worden.“
“Selbstverständlich durch Internet, durch Zeitschriften wissen viele Patienten sehr gut Bescheid über bestimmte Erkrankungen, wünschen sich vom Arzt sehr viel mehr Erklärungen. Das bedeutet also, dass der Arzt heute, wenn er wirklich ein gutes Bündnis mit dem Patienten schließen möchte, sehr viel mehr Zeit oder auch Sorgfalt darauf verwenden muss, eine gute Beziehung herzustellen, was dann auch wiederum in einer guten Adhärenz mündet.“
Denn mangelnde Adhärenz oder Non-Compliance und Arzt-Hopping sind ernst zu nehmende Kostenfaktoren im Gesundheitswesen. Allgemeingültige Statistiken gibt es darüber nicht. Die deutsche Gesellschaft für bürgerorientiertes Versorgungsmanagement spricht von 38 bis 75 Milliarden Euro pro Jahr nach einer Untersuchung aus dem Jahr 2012 von Booz und Bertelsmann.