Das Gesundheitsamt Köln schafft es wie viele andere Gesundheitsämter in Deutschland nicht mehr, Kontakte von mit dem Coronavirus infizierten Menschen nachzuverfolgen. Daher sei er froh, dass jetzt ein neuer Lockdown komme, sagte der Leiter des Kölner Gesundheitsamtes, Mediziner Johannes Nießen. Dadurch würden auch weniger Menschen sterben. Krankenhäuser, Altenheime und Betriebe, wo das Virus sich aufgrund der Nichteinhaltung von Vorsichtsmaßnahmen verbreite, seien derzeit zusammen mit privaten Feiern die Hauptinfektionsherde. Ein großen Unterschied zum Beginn der Pandemie sieht Nießen bei der Auskunftswilligkeit der infizierten Menschen, die vom Gesundheitsamt angerufen und zu ihren Kontakten befragt werden. Diese seien anfangs froh gewesen, wenn jemand vom Gesundheitsamt sich gemeldet habe. Das sei nun nicht mehr der Fall, sagte Nießen.
Heinemann: Herr Nießen, können Sie die Infektionsketten noch nachverfolgen?
Nießen: Seit einer Woche sind wir übers Limit hinaus und schaffen es nicht mehr, täglich die neuangesteckten Menschen zu informieren. Das ist leider so. Das hängt damit zusammen, dass das Wachstum exponentiell ist. Wir sind zwar vorbereitet für den Herbst gewesen, aber in solchen Maßen hatten wir nicht damit gerechnet, dass so viele Steigerungsraten damit einhergehen.
Heinemann: Wie wichtig ist diese Nachverfolgung?
Nießen: Die Nachverfolgung ist das A und O. Das ist unser schärfstes Instrument. Wenn wir nicht wissen, woher das Virus gekommen ist, dann können wir auch nicht entsprechend intervenieren. Das heißt, wir müssen insbesondere jetzt bei den jüngeren Menschen gucken, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Wachstumsraten so exponentiell sind, dass wir sie weiterhin aufklären. Aber der Lockdown kommt uns da ja sehr entgegen.
Heinemann: Bundes- und Landesregierungen wollen die Infektionszahlen verringern und damit gleichzeitig die Verbreitung des Virus. Halten Sie das für den richtigen Weg?
Nießen: Wir sind froh, dass der Lockdown jetzt kommt. Wenn wir noch gewartet hätten bis November oder möglicherweise Weihnachten, dann wäre die Welle viel größer gewesen und wir hätten viel mehr Probleme gehabt, da wieder vor die Welle, sage ich immer, zu kommen. Momentan versuchen wir, die Welle zu brechen mit dem Lockdown, und wir sind guter Dinge, dass wir so entsprechend dann die Pandemie wieder in den Griff bekommen.
"Unser Hauptziel sind die Risikogruppen in Seniorenheimen"
Heinemann: Herr Nießen, der Virologe Professor Hendrik Streeck sagt, der Schutz der Risikogruppe, also von älteren Menschen oder von vorerkrankten Personen, der käme bei den neuen Maßnahmen zu kurz. Teilen Sie diese Kritik?
Nießen: Es kann sein, dass in verschiedenen Städten in Deutschland es nicht geschafft wird, insbesondere ältere Menschen so zu schützen, wie es jetzt nötig ist. Wir in Köln haben es geschafft, schon seit Beginn der Pandemie einmal im Monat das Heimpersonal in allen Kölner Heimen zu testen, und wenn ein Ausbruch war, dann entsprechend auch die Bewohnerinnen und Bewohner zu testen. Wir sind jetzt, glaube ich, in der siebten Runde. Das heißt, wir sind weiter dran, und unser Hauptziel ist, gerade diese Risikogruppen in Seniorenheimen zu schützen. Dazu kommen noch die Flüchtlingsunterkünfte und Behinderteneinrichtungen. Auch dort sind wir dran.
Heinemann: Was würde es für Ihr Gesundheitsamt und für eine Stadt wie Köln bedeuten, wenn sich Bund und Länder vorgestern nicht auf neue Beschränkungen oder Sicherheitsmaßnahmen geeinigt hätten?
Nießen: Da muss ich mal tief durchatmen. – Wenn das gekommen wäre, dann hätten wir die Auslastung des Gesundheitswesens in deutlicherer Form erleben müssen. Wir sind zwar in Deutschland besser aufgestellt als in Nachbarländern mit drei- bis viermal so vielen Intensivbetten, aber jetzt ist es ja schon so, dass die Intensivstationen sich darüber beklagen, dass sie an der Grenze ihrer Belastbarkeit sind. Von daher sind wir froh, dass es jetzt so ist, wie es ist.
Heinemann: Wenn nichts getan würde, das heißt wenn die Infektionszahlen weiter steigen würden, was bedeutete das dann für die Anzahl der Corona-Todesfälle?
Nießen: Die Infektionszahlen steigen ja und auch damit die einhergehenden Sterbefälle. Das ist so! Wenn wir jetzt den Lockdown machen, werden wir auch sehen, dass weniger Menschen sterben werden. Wir hatten im Sommer kaum Verstorbene. Das war gut so und da möchten wir auch wieder hin. Das geht nur durch den Lockdown.
Heinemann: Gibt es da eine klare Korrelation? Das heißt, steigende Infektionszahlen gleich steigende Anzahl von Todesfällen? Kann man das so sagen?
Nießen: Das kann man so sagen. Ja, das ist so, bedauerlicherweise, aber das geht damit einher. Gerade ältere Menschen sind durch das Virus besonders gefährdet. Bei vorherigen Erkrankungen sind sie eher geschwächt und können sich nicht ganz so wehren wie jüngere Menschen, die oft das Virus abwehren können.
"Bei jedem fünften jüngeren Menschen sind Folgeschäden da"
Heinemann: Wer erkrankt denn im Augenblick am meisten, welche Gruppe?
Nießen: Es sind nicht mehr 60- bis 80jährige, sondern es sind die 20- bis 50jährigen, die maßgeblich dazu beitragen, dass die Infektionswelle oder dass die Pandemie so weiter voranschreitet. Das sind die Feiern am Wochenende, wenn ich das noch mal sagen darf. Wir haben ganz viel appelliert, aber es hat leider nicht die entsprechende Wirkung gezeigt.
Heinemann: Gibt es Erkenntnisse über längerfristige Folgeschäden bei jungen Menschen, die sich mit dem Virus angesteckt haben?
Nießen: Wir wissen, dass bei jedem fünften jüngeren Menschen, der infiziert war, auch Folgeschäden da sind. Das sind Herzrhythmus-Störungen, Erschöpfung, Müdigkeit, Luftnot, Konzentrationsstörungen. Das zieht sich dann oft auch über Monate hin. Das ist besorgniserregend und von daher müssen wir auch gerade jüngere Menschen dazu bringen, dass sie sich schützen.
Heinemann: Welches sind zurzeit die problematischsten Infektionsherde?
Nießen: Momentan haben wir inzwischen auch einige Krankenhäuser, nicht nur Altenheime, aber auch verschiedene Betriebe, wo das Virus sich aufgrund der Nichteinhaltung von Vorsichtsmaßnahmen fortgepflanzt hat, wenn ich das mal so sagen darf, zum einen. Zum anderen gibt es aber immer wieder Ausbrüche nach Familienfeiern, nach Partys. Das sind die Hauptinfektionsherde, wenn ich das so nennen möchte.
Heinemann: Die Gastronomie haben Sie jetzt nicht genannt. Was ist über die Häufigkeit von Ansteckungen in Restaurants, in Gaststätten oder Hotels bekannt?
Nießen: Die Gastronomie hat ja ausgefeilte Hygienekonzepte vorgelegt. Wir hatten nur einzelne Fälle, wo in Restaurants auch Ausbrüche stattgefunden haben. Von daher trifft es sie besonders hart momentan, wenn sie jetzt schließen müssen, aber wir wollen alle möglichen Infektionsherde beseitigen. Man muss gucken, wie man nach dem Lockdown gezielt auch wieder öffnet, und da haben wir in der Vergangenheit auch sehr gute Erfahrungen mit der Gastronomie gemacht, die den Forderungen von uns nachgekommen sind, wirklich ausgefeilte Hygienekonzepte nicht nur vorgelegt haben, sondern auch umgesetzt haben.
"Schulen und die Kitas nur ganz selten Infektionsherde"
Heinemann: Wenn ich Sie richtig verstehe, ist die Schließung von Hotels und Gastronomie nicht zwingend notwendig aus Ihrer Sicht?
Nießen: Es ist eine erweiterte Vorsichtsmaßnahme. Sie war aber bisher nicht so im ersten Fokus, weil in der Vergangenheit wir gesehen haben, dass die Gastronomie und das Hotelgewerbe sich sehr an die Hygienekonzepte gehalten haben. Von daher muss man sehen, wie man nach dem Lockdown damit umgeht.
Heinemann: Wie gefährlich im Sinne von Ansteckungsherden sind Schulen und Kindertagesstätten?
Nießen: Die waren bisher nicht so sehr im Fokus. Wir haben mit der allgemeinen Steigerung der Infektionszahlen auch merken müssen, dass auch Schule und Kita nachgezogen haben. Aber die Schulen und die Kitas waren bisher nur ganz selten Infektionsherde, Hotspots, an denen sich das Virus verbreitet. Es kam immer der Eintrag von außen. Das heißt, einzelne Lehrer und Schülerinnen oder Schüler haben das Virus von außen in die Schule eingetragen oder reingebracht.
Heinemann: Herr Nießen, sind die Menschen noch auskunftsbereit, wenn Sie versuchen, die Kontakte nachzuverfolgen? Gibt man Ihnen noch die entsprechenden Informationen?
Nießen: Die Compliance, die Auskunftswilligkeit hat im Laufe der Pandemie deutlich nachgelassen. Am Anfang war es so: Da war man froh, wenn jemand vom Gesundheitsamt anrief, und sehr bereit, das zu hören oder umzusetzen, was man gesagt bekam. Inzwischen ist es so, dass wir bei den Anrufern – und wir haben am Tag tausende von Anrufen zu tätigen – doch feststellen müssen, dass deutlich weniger Erinnerungsvermögen da ist, dass die Menschen auch nicht mehr so recht alles preisgeben wollen, was sie möglicherweise falsch gemacht haben. Da können wir nur appellieren: Bitte helft uns! Bitte sagt uns das, was passiert ist, damit wir die Infektionsquellen erkennen.
Heinemann: Was erwartet die Bürgerinnen und Bürger ab Dezember?
Nießen: Die Wachstumskurve wird nach unten verlaufen. Das ist die gute Nachricht. Und wir müssen dann gezielt gucken, wo sind noch einzelne Herde aufgetreten, damit wir entsprechend dann ganz gezielt dort intervenieren können. Ich sehe dem optimistisch entgegen, weil diese Maßnahme jetzt zu diesem Zeitpunkt, der Lockdown jetzt, der wird uns sicherlich sehr helfen, die Infektionsherde und auch damit die Pandemie deutlicher wieder in den Griff zu bekommen.
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