Wie groß das Einsparpotential im Gesundheitswesen noch sei, wisse wohl niemand, schätzt Wasem. In den einzelnen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Rehakliniken und Arztpraxen sei man schon relativ weit gekommen, die Wirtschaftlichkeit voranzutreiben. Weiteren Verbesserungsbedarf sieht er in der Zusammenarbeit, etwa wenn ein Patient zwischen Arzt und Krankenhaus wechsle. Wenn dies verbessert werde, wirke sich das auch auf die Kosten aus.
Allerdings, betonte Wasem, sei dieses Thema "ein ganz dickes Brett". Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte seien relativ starke Akteure im deutschen Gesundheitswesen. Zwischen ihnen hätten sich im Grunde feste Grenzen etabliert. Beide Seiten sähen es Bedrohung an, wenn man nun an diesen Grenzen ansetzt. Wasem fügte hinzu, er beobachte aber, dass in der Politik die Bereitschaft größer werde, an dieser Stelle zu handeln. Ein wichtiger Schritt wäre zum Beispiel eine stärkere Angleichung der Bezahlung innerhalb und außerhalb der Krankenhäuser.
Auch die Digitalisierung könne dabei helfen, die Zusammenarbeit zwischen Krankenhäusern, Ärzten, Haus- und Fachärzten zu verbessern. Wasem bezeichnete etwa die geplante elektronische Patientenakte als einen wichtigen Baustein dafür. Diese werde sicherlich auch ein Punkt sein, den sich die Politik in die Wahlprogramme und auch in den Koalitionsvertrag schreiben werden.
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Die gesetzlichen Krankenkassen haben sich diese Woche zu Wort gemeldet. Sie hatten verschiedene Botschaften, unter anderem natürlich die Kosten im Gesundheitswesen werden tendenziell weiter steigen angesichts einer alternden Bevölkerung zum Beispiel. Auf der anderen Seite gibt es Reformbedarf, und je nachdem, welche Reformen man macht, hat das auch wieder Auswirkungen auf die Kosten. Über all das wollen wir reden, und wir wollen es wägen: Was steht an zum Beispiel in der nächsten Legislaturperiode im Gesundheitswesen? Darüber wollen wir reden mit Jürgen Wasem, dem Gesundheitsökonomen, den ich jetzt erst mal am Telefon begrüße. Guten Morgen, Herr Wasem!
Jürgen Wasem: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Wasem, als Erstes die Frage an den Gesundheitsökonomen: Kosten werden weiter steigen – ist die Botschaft so einfach?
Wasem: Wir beobachten eigentlich seit Jahrzehnten, dass die Ausgaben der Krankenkassen für die Leistungen etwas stärker steigen als die Einkommen der Versicherten, und das heißt logischerweise, dass die Zusatzbeiträge steigen werden oder der Beitrag an dem Gesundheitsfonds, und ich sehe auch überhaupt nicht, dass das anders werden würde. Die aktuelle Regierung hat, wie die letzte auch, ja eher auch ausgabensteigernde als kostendämpfende Gesetze beschlossen, zum Teil sicherlich auch sinnvolle Sachen. Aber das ist klar, die Beiträge der Versicherten werden weiter steigen.
Zurheide: Die Frage ist ja, ist das eher ein Schreckensszenario? Wir diskutieren das ja in der Regel so als Schreckensszenario. Man könnte andersherum auch sagen, das zeigt, wenn wir denn möglicherweise eine bessere Versorgung kriegen, dann ist das eben seinen Preis wert. Ich weiß, die Frage ist allgemein so schwer zu beantworten, aber ordnen Sie das noch mal ein.
Wasem: Ich würde Ihnen da völlig Recht geben. Das muss man sich differenziert angucken. Zum Beispiel haben wir in der letzten Krankenhausreform, die in 2015 beschlossen worden ist, ja ein Programm aufgelegt für mehr Pflegekräfte. Eine Milliarde im Jahr wird da mehr ausgegeben, um Krankenpfleger, Krankenschwestern in den Krankenhäusern zusätzlich einstellen zu können. Da war dringender Handlungsbedarf, da waren wir europäisch ganz unten am Schnitt, wie viele Pfleger sich einen Patienten beziehungsweise wie viele Patienten sich einen Pfleger teilen müssen. Da war es dringend notwendig, mehr Geld auszugeben. Von daher, das ist – und auch die Pflegeversicherungsreform, die wir ja dann gemacht haben, die ja am Anfang dieses Jahres in Kraft getreten ist, wo für die Demenzkranken erstmals eine Gleichstellung mit den Pflegebedürftigen wegen körperlicher Ursachen erreicht worden ist. Auch das hat viel gekostet, mehrere Milliarden pro Jahr zusätzlich. Aber auch das ist sicherlich gut investiertes Geld.
"Wir sind relativ weit gekommen in den einzelnen Einrichtungen"
Zurheide: Auf der anderen Seite taucht immer wieder die Frage auf, wo gibt es oder gibt es im System Reserven, sogenannte Effizienzreserven? Wir alle kennen die Grundannahmen, dass es Über-, Unter- und Fehlsteuerungen im System gibt. Wie groß ist das noch, oder ist das eine Schimäre?
Wasem: Wie groß das wirklich ist, weiß niemand wirklich. Seehofer war ja früher mal Gesundheitsminister, und er hat so einen legendären Satz gesagt: Wenn man alle Einsparpotenziale zusammenzählt, dann kriegen wir sogar noch was raus. Nur kommen die immer für die anderen Bereiche. Das gilt, denke ich, nach wie vor. Wir sind relativ weit gekommen in den einzelnen Einrichtungen, in den Krankenhäusern, in den Reha-Kliniken, in den Arztpraxen die Wirtschaftlichkeit voranzutreiben. Wo sicherlich noch Verbesserungsbedarf ist, das sagen uns auch internationale Beobachter wie die OECD oder die WHO, ist in der Zusammenarbeit der Sektoren, also etwa, typisches, klassisches Beispiel, das Zusammenspiel zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern. Wenn der Patient reinkommt, wenn er rausgeht aus der einen Sphäre in den anderen Bereich, da ist nach allem, was wir so wissen, noch Verbesserungsbedarf, einmal, was die Qualität angeht, aber das hat auch positive Auswirkungen auf die Kosten.
Sektorenübergreifende Zusammenarbeit
Zurheide: Ich hab genau dieses Stichwort hier auf meinem Zettel stehen. In der Tat, diese berühmte sektorübergreifende Zusammenarbeit. Da wird natürlich in Fachkreisen, und Sie gehören dazu, ich weiß nicht, wie lange schon geredet. Ich habe auch bei verschiedenen Krankenkassen in diesem Jahr immer wieder das Stichwort gelesen, sektorübergreifende Zusammenarbeit müsste forciert werden. Ich glaube, der Tatbestand ist richtig, wie so oft in Deutschland, die Erkenntnis ist da. Die Frage ist, wann wird es endlich umgesetzt. Oder an Sie die Frage: Was müsste passieren, damit man zum Beispiel die Krankenkassen in die Lage versetzt, diese starren Sektoren, die wir haben zwischen niedergelassenen Ärzten und Fachärzten auf der einen Seite und den Krankenhäusern auf der anderen Seite, zu verbessern?
Wasem: Das ist in der Tat ein ganz dickes Brett. Ich erinnere mich selbst auch, ich hab Anfang der 80er-Jahre mit Gesundheitsökonomie angefangen, und einer meiner ersten Aufsätze war genau über die Sektorengrenzen, und die Starrheit dazwischen, das ist ein ganz dickes Brett.
Zurheide: Das macht jetzt keinen Mut, Herr Wasem.
Wasem: Ja, in der Tat. Der letzte größere Versuch ist vor vier, fünf Jahren gestartet worden noch unter Daniel Bahr als Gesundheitsminister. Da ist man den Weg gegangen, für Spezialleistungen von Fachärzten einen eigenen neuen Sektor zu schaffen, spezialärztliche Versorgung, der von Krankenhäusern und Niedergelassenen gleichermaßen bespielt werden darf. Das hat zu dicken Antragsbüchern, aber ganz wenig Erfolgen bisher geführt. Es ist unheimlich schwer, weil die Krankenhäuser und die niedergelassenen Ärzte jeweils relativ stark sind im deutschen Gesundheitswesen und eben immer das Ansetzen an der Grenze als Bedrohung von sich selber empfinden. Ein Weg, den Sie eben angesprochen haben, könnte sein, die Krankenkassen stärker zu machen, dass die an dieser Grenze mehr spielen dürfen. Aber da haben natürlich sowohl die Krankenhäuser als auch die Niedergelassenen Angst vor. Von daher, das bleibt ein dickes Brett, aber ich merke, die Bereitschaft der Politik, daran was zu tun, ist größer geworden. Ein wichtiger Schritt wird sein, dass man die Bezahlung stärker angleicht. Dass, wenn ich die gleiche Sache im Krankenhaus und außerhalb des Krankenhauses mache, sollte die Vergütung […]
"Digitalisierung ist ein wichtiger Baustein in der Zusammenarbeit"
Zurheide: Jetzt wird die Telefonleitung ganz schlecht. Ich weiß nicht, wo Sie sich gerade hin bewegt haben. Das kann dann mal passieren. Das war schlecht. Ich will noch eine weitere Frage oder einen Aspekt einbringen, Stichwort Digitalisierung. Viele sagen ja, natürlich, die Vernetzung im System und die Digitalisierung muss dringend vorangetrieben werden. Während wir in der Industrie über Industrie 4.0 reden, in den Krankenhäusern und in vielen Bereichen bewegen wir uns noch bei Health 1.0 oder 2.0. Das ist wahrscheinlich eine richtige Beobachtung. Kann denn diese Digitalisierung helfen, auch die Zusammenarbeit zu verbessern, dass da ein Druck reinkommt? Oder ist das eine Illusion?
Wasem: Nein. Die Digitalisierung ist ein ganz wichtiger Baustein einer besseren Zusammenarbeit zwischen Krankenhäusern und Niedergelassenen und auch zwischen Hausärzten und Fachärzten, Stichwort elektronische Patientenakte. Das würde vieles erleichtern, wenn wir in der Lage sind, die Patientendaten, natürlich unter Wahrung des Datenschutzes und mit Einverständnis der Patienten, digital von einer Einrichtung des Gesundheitswesens zur anderen zu bringen. Das hat Sicherheitsaspekte, es hat Qualitätsaspekte, das hat Kostenaspekte. Da bin ich auch nicht so pessimistisch, muss ich sagen, da hat es in dieser Wahlperiode ja auch ein E-Health-Gesetz gegeben, das Minister Gröhe auf den Weg gebracht hat. Das geht für die Experten in der IT dann viel zu langsam, die beobachten, das Gesundheitswesen ist langsam. Und die IT ist sehr schnell, das sind Welten, die da aufeinanderknallen. Aber da wäre ich optimistisch, dass wir in der nächsten Wahlperiode reinkommen. Und ich glaube, das wird auch ein Punkt sein, neben der Zusammenarbeit zwischen den Sektoren, den die Politik sich in die Wahlprogramme und dann auch in den Koalitionsvertrag schreiben wird.
Zurheide: Letzte Frage mit der Bitte um eine kurze Antwort, es ist eher eine politische Frage: Die Krankenkassen sagen, wir brauchen wieder die Parität bei der Finanzierung. Wie sieht das der Gesundheitsökonom?
Wasem: Das ist letztlich eine rein politische Entscheidung, ob man die Arbeitgeber mit rein nimmt oder nicht. Aus wissenschaftlicher Sicht kann man dafür und dagegen argumentieren. Letztlich muss man das politisch entscheiden.
Zurheide: Das wird dann also den Politikern vorbehalten sein. Das war der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem zu den Herausforderungen im Gesundheitssystem. Herr Wasem, ich bedanke mich für das Gespräch. Auf Wiederhören!
Wasem: Tschüs nach Köln!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.