Der Diabetes vom Typ 2 entwickelt sich schleichend. Viele Patienten hatten vorab leicht erhöhte Blutzuckerwerte. Umgekehrt ist der Zusammenhang weniger eindeutig. Nur eine unter zehn Personen mit auffälligen Werten entwickelt auch tatsächlich einen Typ-2-Diabetes. Trotzdem gelten diese Menschen in den USA bereits als krank, als "prädiabetisch". Dieser Begriff hat eine beispiellose Karriere gemacht. Das erste Mal taucht er 2001 auf, wie Charles Piller herausfand, Medizinjournalist bei Science.
"Prädiabetes, das war zunächst ein Marketing-Schlagwort der Amerikanischen Diabetes-Gesellschaft."
Die neue Diagnose erfasste Menschen mit leicht erhöhten HbA1c-Werten. Das ist ein Laborwert, der den durchschnittlichen Blutzuckerspiegel über mehrere Wochen misst. Die Schwelle zwischen "noch normal" und "schon besorgniserregend" wurde immer weiter nach unten verschoben. Heute liegt sie bei 5,7% - damit gelten ein Drittel der erwachsenen Amerikaner als prädiabetisch.
Einer von drei US-Amerikanern gilt als gefährdet
Aber sind sie wirklich krank? Die Deutsche Diabetes Gesellschaft ist da zurückhaltend, erklärt Prof. Andreas Fritsche von der Universität Tübingen: "Das gibt es schon, aber man darf nicht den Fehler machen, das als Krankheit zu bezeichnen."
Auch die Weltgesundheitsorganisation und die Europäischen Fachgesellschaften nutzen den Begriff - allerdings vor allem in wissenschaftlichen Studien. Ganz anders in den USA. Dort entwickelte der Begriff ein Eigenleben. Prädiabetiker würden auf eine gefährliche Klippe zulaufen, warnten etwa die Centers of Disease Control. Amerikas oberste Gesundheitswächter übernahmen 2005 die Definition des Prädiabetes und empfehlen seitdem als erste Maßnahme gesünderes Essen und mehr Sport.
Ärzte verschreiben prophylaktisch Tabletten
Weil das oft nicht fruchtet, verschreiben viele Ärzte Diabetesmedikamente - wohl gemerkt vor Ausbruch einer Zuckerkrankheit. Dafür sind die Pillen aber gar nicht zugelassen. Das findet Charles Piller bedenklich, auch weil große Studien zwar zeigen, dass eine Behandlung den Ausbruch eines Diabetes Typ 2 vielleicht etwas hinauszögert, aber keinen Einfluss auf die wirklich gefährlichen Spätfolgen hat.
"Herzkreislauf-Probleme, Sterblichkeit, Gefäßschäden, da gibt es nur minimale Unterschiede nach Jahren intensiver Programme. Das stellt doch den Nutzen dieses ganzen Ansatzes in Frage."
Dass er in den USA dennoch weiter verfolgt wird, hat für Charles Piller ganz handfeste Gründe: "Die Amerikanische Diabetes-Gesellschaft wird massiv von Firmen unterstützt, die mit ihren Medikamenten und Geräten vom Riesen-Markt der Prädiabetes Patienten profitieren."
Mit der Diagnose Prädiabetes werden Milliarden verdient
44 Milliarden Dollar, das kostete die Behandlung des Prädiabetes das amerikanische Gesundheitssystem im Jahr 2012, schätzt die Amerikanische Diabestes Assoziation. Aktuellere Zahlen liegen nicht vor aber eines ist klar: Tendenz stark steigend. Die Interessenkonflikte hat Piller dokumentiert. In Europa sind sie geringer, meint Andreas Fritsche.
"Die DDG hat extra Kommissionen, die da auf diesen conflict of interest schauen und versuchen da frühzeitig Warnungen zu geben. Also da denke ich, dass in Europa da die Gefahr kleiner ist."
In Deutschland steht eine medikamentöse Behandlung im Vorfeld der Zuckerkrankheit nicht zur Debatte. Es gibt aber durchaus Studien zum Thema. Derzeit läuft die erste Auswertung der Prädiabetes-Lebensstil-Interventionsstudie des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung, dem auch Andreas Fritsche angehört. Dabei zeigt sich, dass Lebensstil-Veränderungen sehr effektiv sein können, so Fritsche, aber eben nicht für jeden, der einen leicht erhöhten Blutzucker hat.
"In dieser riesen Menge von Prädiabetespersonen müssen wir Untergruppen identifizieren, die eben ein besonders hohes Risiko haben - eine besonders schlechte Insulinsekretion oder ein erhöhtes Leberfett oder eine Insulinresistenz. Und denen sollte man dann unbedingt ein Präventionsprogramm zukommen lassen. Um die muss man sich kümmern."
"Millionen für krank zu erklären, ist problematisch."
Gezielte Hilfe für wenige Risikopatienten, das könnte ein effektiver Weg der Vorbeugung sein. Den amerikanischen Ansatz dagegen, große Teile der Bevölkerung vorsorglich für krank zu erklären, hält Charles Piller für problematisch.
"Beim Prädiabetes lautet die Frage: Ist der Vorbeugungsgedanke nicht zu weit getrieben worden? Es macht den Leuten Angst. Sie denken sie haben ein Problem, obwohl das viele Experten für übertrieben halten. In den USA kann diese Diagnose auch die Versicherung verteuern."
Und so kann die Diagnose Prädiabetes indirekt tatsächlich zu einem ernsten Problem für die Gesundheit werden.