In einem seiner Essays hat Daniel Kehlmann die großen Romane der Weltliteratur in zwei Gruppen eingeteilt: Im ersten Typus, dem Roman à la Flaubert, ist alles bis ins Letzte durchgearbeitet, alles perfekt, der einzelne Satz ebenso wie der Bau des Ganzen. Der zweite Typus, der Roman à la Rabelais, lässt eher Fünfe gerade sein, besticht dafür durch seine Großzügigkeit und verschwenderische Überfülle. Der ästhetische Mainstream der Gegenwart bevorzugt klar den Flaubert'schen Typus. Deshalb wirkt ein Autor wie der Bulgare Vladimir Zarev so exotisch für die Leser hierzulande.
Zarev, 1947 geboren, lebt seit Langem in Sofia. Bei uns wurde er bekannt durch den grandiosen Wenderoman "Verfall", der zum Allerbesten gehört, was über den europäischen Epochenbruch von 1989 überhaupt geschrieben wurde. An Umfang noch übertroffen wird der auch schon opulente "Verfall" von der Weltschew-Trilogie, die der Deuticke-Verlag verdienstvollerweise auf Deutsch herausbringt, hervorragend übersetzt von Thomas Frahm, der seit Jahren in Sofia lebt und das Bulgarische gewissermaßen auf der Straße gelernt hat.
2009 erschien "Familienbrand", der erste Band der Trilogie, in dem die Geschichte der fünf Söhne des alten Assen Weltschew von der Jahrhundertwende bis ins Jahr 1945 erzählt wurde. "Feuerköpfe", der zweite, jetzt herausgekommene Band, erstreckt sich von 1946 bis 1976. Der Abschlussband wird die Weltschews dann in der vierten und fünften Generation bis in die Gegenwart führen.
2000 Seiten wird die ganze Trilogie umfassen. Ein gewaltiges Unternehmen, das nur gelingen kann, wenn es getragen wird vom Sendungsbewusstsein seines Autors, getragen auch von der sturen Überzeugung, man könne auch heute noch Geschichte so erzählen wie Balzac: mit großem Pinsel und breiten Konturen, weithin leuchtenden Farben und fantasievoller Metaphorik, mit einer Psychologie, die ihre Personen vollständig erklären zu können glaubt, mit generationenüberspannenden Motiven und einer humanistischen Moral. Ein Unternehmen, das literarisch nur aufgeht, wenn imaginative Kraft und sprachlicher Reichtum den Autor weit über jene Niederungen erhebt, wo sich die Trivialliteratur breitgemacht hat.
Bei Vladimir Zarev ist das der Fall. Seine Romane, auch "Feuerköpfe", erfordern auch vom Leser einiges an Ausdauer, aber sie belohnen ihn mit dem Gefühl, für die Dauer der Lektüre vom Atem der Geschichte getragen zu werden, um es einmal so pathetisch auszudrücken, wie es zu Vladimir Zarev passt.
"Feuerköpfe" zeigt dem Leser, was hinter dem Eisernen Vorhang passierte, der als Resultat des Zweiten Weltkrieges die Hälfte Europas von Freiheit und Wohlstand ausschloss. Der Roman spielt wie der erste Band in der Provinzstadt Widin an der bulgarisch-rumänischen Grenze und in der Hauptstadt Sofia. Ilija Weltschew, Patriarch und Besitzer einer Porzellanfabrik, wird von den neuen Herren abgesetzt und enteignet; das traditionelle Motiv des Paradiesvogels wird für bürgerlich-dekadent befunden, künftig schmückt ein roter Stern das Geschirr.
Ironischerweise wird die öffentliche Absetzung und Demütigung Ilijas vollzogen von Krum Marijkin, einem prototypischen Vertreter des Kommunismus, einem "blindwütigen Geradeausmenschen", der mit Überzeugung und Willenskraft Natur und Menschen zu ihrem Glück zwingen will. Die Ironie liegt darin, dass Krum der illegitime Sohn Ilijas ist – wie überhaupt fast das gesamte Personal des Romans miteinander verwandt, verschwägert, vervettert oder erotisch verbunden ist -, was er lange nicht weiß und was ihm, als diese bürgerliche Abstammung, dieser Makel, herauskommt, alle Autorität nimmt.
Am Ende des Buches ist er Leiter einer chemischen Reinigung und versucht, die Arbeit der Wäscherinnen ideologisch zu überhöhen: Sauberkeit eben auch im moralischen Sinne! Immerhin merkt er schließlich selbst – 30 Jahre Sozialismus haben den Menschen jede Empfänglichkeit für Propaganda ausgetrieben – dass er Stuss redet, und bringt stattdessen Krapfen, Pralinen und Likör mit.
Gegenfigur zu Krum, dem bis zur Unmenschlichkeit konsequenten Kommunisten, ist sein Cousin und Gesinnungsgenosse Assen Weltschew, der mit der Glorie des Untergrundkämpfers aus dem ersten Band in diesen Roman eintritt. Die ersehnte neue Gesellschaft raubt ihm allerdings schnell alle Illusionen, ohne dass er den Glauben an die ursprünglichen Ideale aufgibt. Als Jurist an der Universität erlebt er, wie sich die wechselnde Parteilinie – als Stichworte mögen hier die Entstalinisierung und der Ungarn-Aufstand reichen – auf das Machtgefüge der Dozentenschaft auswirkt – und ihre moralischen Qualitäten ins Licht hebt.
Vladimir Zarev holt den grellen Wahnsinn, den das paranoide Machtsystem darstellt, in den Alltag, bringt seine Figuren in stets neue bedrängende Situationen, in denen sie wählen müssen, und gibt seinem Roman so eine gewissermaßen existenzialistische Färbung: Der Mensch ist, was er tut im Augenblick der Entscheidung. Nie jedoch bricht er den Stab über seine Helden, so erbärmlich sie sich auch verhalten mögen; dazu findet er sie viel zu interessant in ihren kleinen Schäbigkeiten und großen Missetaten, auch in ihren Erkenntnissen, in ihrem stillen Duldertum.
So enthält das Buch eine Fülle von Charakteren, in denen das Gute und das Böse, das Starke und das Schwache, das Bewundernswerte und das Ekelhafte auf die unterschiedlichste Weise gemischt sind. Auch die Frauen sind nicht unbedingt die besseren Menschen, einige von ihnen natürlich schon.
Die schillerndste Figur ist der Genussmensch Goscho Pantov, der als solcher am allerwenigsten in das Mangelsystem des bulgarischen Sozialismus passt und dem es doch gelingt, seinen inneren Schweinehund stets mit exquisitem Futter zu versorgen. "Das Leben ist kurz, nur Amüsements sind ewig" lautet sein Wahlspruch: eine Provokation in dieser Gesellschaft, so wie auch der 1983 in Bulgarien im Stoppelfeld des doktrinären sozialistischen Realismus erschienene Roman selbst wie eine gefährlich verführerische Sumpfblüte gewirkt haben muss. Erstaunlich, dass er damals erschienen konnte; erfreulich, wie gut er sich bis heute gehalten hat.
Vladimir Zarev: "Feuerköpfe". Roman. Aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm. Deuticke, Wien 2011. 700 S., 25,90 Euro
Zarev, 1947 geboren, lebt seit Langem in Sofia. Bei uns wurde er bekannt durch den grandiosen Wenderoman "Verfall", der zum Allerbesten gehört, was über den europäischen Epochenbruch von 1989 überhaupt geschrieben wurde. An Umfang noch übertroffen wird der auch schon opulente "Verfall" von der Weltschew-Trilogie, die der Deuticke-Verlag verdienstvollerweise auf Deutsch herausbringt, hervorragend übersetzt von Thomas Frahm, der seit Jahren in Sofia lebt und das Bulgarische gewissermaßen auf der Straße gelernt hat.
2009 erschien "Familienbrand", der erste Band der Trilogie, in dem die Geschichte der fünf Söhne des alten Assen Weltschew von der Jahrhundertwende bis ins Jahr 1945 erzählt wurde. "Feuerköpfe", der zweite, jetzt herausgekommene Band, erstreckt sich von 1946 bis 1976. Der Abschlussband wird die Weltschews dann in der vierten und fünften Generation bis in die Gegenwart führen.
2000 Seiten wird die ganze Trilogie umfassen. Ein gewaltiges Unternehmen, das nur gelingen kann, wenn es getragen wird vom Sendungsbewusstsein seines Autors, getragen auch von der sturen Überzeugung, man könne auch heute noch Geschichte so erzählen wie Balzac: mit großem Pinsel und breiten Konturen, weithin leuchtenden Farben und fantasievoller Metaphorik, mit einer Psychologie, die ihre Personen vollständig erklären zu können glaubt, mit generationenüberspannenden Motiven und einer humanistischen Moral. Ein Unternehmen, das literarisch nur aufgeht, wenn imaginative Kraft und sprachlicher Reichtum den Autor weit über jene Niederungen erhebt, wo sich die Trivialliteratur breitgemacht hat.
Bei Vladimir Zarev ist das der Fall. Seine Romane, auch "Feuerköpfe", erfordern auch vom Leser einiges an Ausdauer, aber sie belohnen ihn mit dem Gefühl, für die Dauer der Lektüre vom Atem der Geschichte getragen zu werden, um es einmal so pathetisch auszudrücken, wie es zu Vladimir Zarev passt.
"Feuerköpfe" zeigt dem Leser, was hinter dem Eisernen Vorhang passierte, der als Resultat des Zweiten Weltkrieges die Hälfte Europas von Freiheit und Wohlstand ausschloss. Der Roman spielt wie der erste Band in der Provinzstadt Widin an der bulgarisch-rumänischen Grenze und in der Hauptstadt Sofia. Ilija Weltschew, Patriarch und Besitzer einer Porzellanfabrik, wird von den neuen Herren abgesetzt und enteignet; das traditionelle Motiv des Paradiesvogels wird für bürgerlich-dekadent befunden, künftig schmückt ein roter Stern das Geschirr.
Ironischerweise wird die öffentliche Absetzung und Demütigung Ilijas vollzogen von Krum Marijkin, einem prototypischen Vertreter des Kommunismus, einem "blindwütigen Geradeausmenschen", der mit Überzeugung und Willenskraft Natur und Menschen zu ihrem Glück zwingen will. Die Ironie liegt darin, dass Krum der illegitime Sohn Ilijas ist – wie überhaupt fast das gesamte Personal des Romans miteinander verwandt, verschwägert, vervettert oder erotisch verbunden ist -, was er lange nicht weiß und was ihm, als diese bürgerliche Abstammung, dieser Makel, herauskommt, alle Autorität nimmt.
Am Ende des Buches ist er Leiter einer chemischen Reinigung und versucht, die Arbeit der Wäscherinnen ideologisch zu überhöhen: Sauberkeit eben auch im moralischen Sinne! Immerhin merkt er schließlich selbst – 30 Jahre Sozialismus haben den Menschen jede Empfänglichkeit für Propaganda ausgetrieben – dass er Stuss redet, und bringt stattdessen Krapfen, Pralinen und Likör mit.
Gegenfigur zu Krum, dem bis zur Unmenschlichkeit konsequenten Kommunisten, ist sein Cousin und Gesinnungsgenosse Assen Weltschew, der mit der Glorie des Untergrundkämpfers aus dem ersten Band in diesen Roman eintritt. Die ersehnte neue Gesellschaft raubt ihm allerdings schnell alle Illusionen, ohne dass er den Glauben an die ursprünglichen Ideale aufgibt. Als Jurist an der Universität erlebt er, wie sich die wechselnde Parteilinie – als Stichworte mögen hier die Entstalinisierung und der Ungarn-Aufstand reichen – auf das Machtgefüge der Dozentenschaft auswirkt – und ihre moralischen Qualitäten ins Licht hebt.
Vladimir Zarev holt den grellen Wahnsinn, den das paranoide Machtsystem darstellt, in den Alltag, bringt seine Figuren in stets neue bedrängende Situationen, in denen sie wählen müssen, und gibt seinem Roman so eine gewissermaßen existenzialistische Färbung: Der Mensch ist, was er tut im Augenblick der Entscheidung. Nie jedoch bricht er den Stab über seine Helden, so erbärmlich sie sich auch verhalten mögen; dazu findet er sie viel zu interessant in ihren kleinen Schäbigkeiten und großen Missetaten, auch in ihren Erkenntnissen, in ihrem stillen Duldertum.
So enthält das Buch eine Fülle von Charakteren, in denen das Gute und das Böse, das Starke und das Schwache, das Bewundernswerte und das Ekelhafte auf die unterschiedlichste Weise gemischt sind. Auch die Frauen sind nicht unbedingt die besseren Menschen, einige von ihnen natürlich schon.
Die schillerndste Figur ist der Genussmensch Goscho Pantov, der als solcher am allerwenigsten in das Mangelsystem des bulgarischen Sozialismus passt und dem es doch gelingt, seinen inneren Schweinehund stets mit exquisitem Futter zu versorgen. "Das Leben ist kurz, nur Amüsements sind ewig" lautet sein Wahlspruch: eine Provokation in dieser Gesellschaft, so wie auch der 1983 in Bulgarien im Stoppelfeld des doktrinären sozialistischen Realismus erschienene Roman selbst wie eine gefährlich verführerische Sumpfblüte gewirkt haben muss. Erstaunlich, dass er damals erschienen konnte; erfreulich, wie gut er sich bis heute gehalten hat.
Vladimir Zarev: "Feuerköpfe". Roman. Aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm. Deuticke, Wien 2011. 700 S., 25,90 Euro