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Gettysburg-Rede
Schnelles Gedenken

Eine der berühmtesten Reden der Geschichte dauerte nur ungefähr zwei Minuten. Was Abraham Lincoln vor 150 Jahren gesagt hat, weiß man nicht genau. Es gibt fünf unterschiedliche Redemanuskripte.

Von Ulrike Rückert |
    Am nebelgrauen Morgen des 19. November 1863 drängten sich Tausende Fremde in Gettysburg, einer Kleinstadt in Pennsylvania. Ein Zug nach dem anderen hielt am Bahnhof und spie noch mehr Menschen aus. Viele wanderten über die Felder vor der Stadt und in die waldigen Hügel hinauf.
    "Die Erde ist noch übersät mit Überresten eines furchtbaren Kampfes – Feldflaschen, Tassen, Schuhe, Pistolen, Bajonettscheiden und Fetzen von grauen und blauen Jacken.“
    Viereinhalb Monate zuvor hatte hier eine der blutigsten Schlachten des amerikanischen Bürgerkriegs stattgefunden. 170.000 Soldaten hatten drei Tage lang in und um Gettysburg gekämpft. Als die Armee der Südstaaten die Flucht ergriff und die Unionstruppen ihr nachsetzten, blieben 20.000 Verwundete und 8000 Gefallene zurück. Die Leichen waren nur notdürftig verscharrt, jetzt wurden sie umgebettet.
    "Der Nationalfriedhof liegt am Stadtrand, auf dem Prospect Hill. Er ist ausschließlich für die loyalen Toten bestimmt."
    Die Rebellen blieben auf den Äckern liegen. An diesem Novembertag wurde der Friedhof feierlich eingeweiht. Gegen zehn Uhr formierte sich in der Stadt ein Zug.
    "An der Spitze der Prozession, ihm voraus eine berittene Militärkapelle ritt der Präsident. Er hatte ein graues Pferd mittlerer Größe, was seine ungewöhnliche Länge betonte; seine langen Beine schleiften fast auf dem Boden."
    William Rathvon war acht Jahre alt, als er Präsident Abraham Lincoln durch die Menge reiten sah. Salutschüsse krachten, Kapellen spielten, bis der Zug die Kuppe des Prospect Hill erreichte. Dann legte sich tiefe Stille über die Menge. Die Männer nahmen ihre Hüte ab. Die Sonne brach strahlend durch die Wolken, als ein Methodistenprediger ein Dankgebet für die Rettung der Union sprach.
    "Ein weiterer Sieg, und alles hätte ihnen gehört."
    Im Sommer 1863 war das Glück auf der Seite der Konföderierten und der Norden kriegsmüde, bevor der Sieg von Gettysburg wieder Zuversicht weckte. Mit weittragender Stimme sprach der Hauptredner über die Schlacht.
    "Nach dem langen Vortrag des Ehrenwerten Edward Everett aus Massachusetts, dem besten Redner seiner Zeit, erhob sich Lincoln, und mit ernster, fast trauriger Miene hielt er seine kurze Ansprache."
    Der Präsident war nur um einige Worte gebeten worden. Er musste sich vor den 15.000 Zuhörern rechtfertigen - nach all den Opfern war noch immer kein Ende des Krieges abzusehen. Wie ein Bibelvers klang sein erster Satz.
    "Vor viermal zwanzig und sieben Jahren brachten unsere Väter eine neue Nation hervor, gezeugt in Freiheit und der Überzeugung geweiht, dass alle Menschen gleich geschaffen sind.“

    Wollte er von der Sklavenbefreiung sprechen? Ein heikles Thema, auch innerhalb der Union.
    "Nun sind wir in einen großen Bürgerkrieg verstrickt, und es wird sich erweisen, ob diese Nation, oder irgendeine andere, so beschaffene, ausdauern kann."
    Der Krieg ist eine Probe auf die Lebensfähigkeit der Demokratie. Die Soldaten, die auf diesem Hügel kämpften, hätten ihn damit selbst geweiht.
    "An uns ist es, uns der großen Aufgabe zu weihen, die vor uns liegt – feierlich zu beschließen, dass diese Toten nicht vergeblich gestorben sind – dass diese Nation, mit Gottes Hilfe, eine neue Geburt der Freiheit erleben wird – und dass die Herrschaft des Volkes, durch das Volk, für das Volk, auf der Erde nicht untergehen wird."
    Nicht nur um die eigene Zukunft geht es, sondern um die der Menschheit. Der ganzen Menschheit - eine neue Freiheit ohne Sklaverei. Lincoln hatte dem Krieg einen neuen Sinn verliehen. Seine Rede dauerte nur zwei Minuten. Als er endete, waren viele Zuhörer verwirrt.
    Als Abraham Lincoln anderthalb Jahre später ermordet wurde, ging der Bürgerkrieg gerade zu Ende. Lincoln wurde zum Mythos, das Gemetzel von Gettysburg zum Symbol des Bürgerkriegs. Und die wenigen Sätze auf dem Friedhof – unzählige Male zitiert, interpretiert, von Generationen von Schulkindern auswendig gelernt – wurden zu einer der berühmtesten Reden der Geschichte.