Gewalt in der Pflege Vor allem ein Zeichen von Überlastung
In der Altenpflege werden Pflegebedürftige immer wieder Opfer von Gewalt und Vernachlässigung. Doch auch pflegende Angehörige und Pflegekräfte erleben Übergriffe. Wo beginnt Gewalt und wie kann man angesichts des Pflegenotstands vorbeugen?
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Entmündigung, Beleidigungen, sexuelle Übergriffe: Pflegebedürftige erleiden in ihrem Alltag Gewalt – durch Pflegekräfte oder pflegende Angehörige. Doch es gilt auch umgekehrt: Wer selbst pflegt, erlebt ebenfalls Gewalt. So berichten es neun von zehn Pflegenden. Auf allen Seiten geht es meist um psychische Gewalt. Es wird geschrien und gepöbelt.
Doch wie kommt es , dass Menschen, die sich aus einem bestimmen Ethos heraus für den Pflegeberuf entschieden haben, nicht nur Gewalt erleiden, sondern auch selbst anwenden? Was gilt als Gewalt und was kann man dagegen tun?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt die folgende Definition für Gewalt gegen ältere pflegebedürftige Menschen:
Unter Gewalt gegen ältere Menschen versteht man eine einmalige oder wiederholte Handlung oder das Unterlassen einer angemessenen Reaktion im Rahmen einer Vertrauensbeziehung, wodurch einer älteren Person Schaden oder Leid zugefügt wird. Diese Art von Gewalt stellt eine Verletzung der Menschenrechte dar und umfasst körperliche, sexuelle, psychologische und emotionale Misshandlung, finanziellen und materiellen Missbrauch, Vernachlässigung und den schwerwiegenden Verlust von Würde und Respekt.
Weltgesundheitsorganisation (WHO)
Pflegekräfte wiederum sind vergleichsweise öfter mit körperlicher Gewalt konfrontiert: mit Tritten oder Schlägen zum Beispiel. Die Gewalt geht dann häufig von Menschen aus, die an psychischen Erkrankungen leiden oder dement sind.
Psychische Gewalt und sexuelle Übergriffe
Die häufigste Form von Gewalt, die sowohl Pflegekräfte als auch zu Pflegende trifft, ist psychische, verbale Gewalt: anschreien, anpöbeln oder herumkommandieren.
Es gibt aber auch sexuelle Gewalt. Das können anzügliche Bemerkungen oder unangemessene Berührungen bei der täglichen Pflege sein, die Fachkräfte vor allem ambulanter Dienste erleben. Oft bagatellisieren sie diese Vorfälle mit den Worten: „Es war ja keine Absicht!“ Ob Absicht oder nicht, die Folgen solcher Belästigungen können gravierend sein.
Auch Pflegebedürftige erleiden sexuelle Gewalt. Das können zum Beispiel gegen den Willen der älteren Person durchgeführte Pflegemaßnahmen sein oder das Abschneiden von langen Haaren bei einer Seniorin, weil man keine Zeit für eine aufwändige Haarpflege hat.
Das Angrabschen sei die häufigste Form sexueller Gewalt, sagt Sascha Köpke, der das Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Köln leitet. Dass es zu Vergewaltigungen von Pflegebedürftigen komme, sei eher selten. Doch genaue Zahlen gebe es nicht: Hier bestehe ein großes Dunkelfeld.
Als Gewalt gelten darüber hinaus freiheitsentziehende Maßnahmen wie das Anschnallen im Rollstuhl oder im Bett, oder die Verabreichung von Beruhigungsmitteln; aber auch Vernachlässigung bei der Pflege oder finanzieller Missbrauch.
Gewalt gegen Pflegende: 90 Prozent betroffen
Ungefähr 90 Prozent aller Pflegekräfte sagen, sie hätten innerhalb eines Jahres Gewalt erlebt. Das ermittelte Köpke mit seinem Team in einem groß angelegten Projekt. Fragt man allerdings danach, wie oft sie selbst Gewalt ausgeübt oder bei Kollegen beobachtet haben, liegt der Wert zwischen rund 60 und 80 Prozent.
Der Grat zwischen Fürsorge und Gewaltsituation ist schmal. Ungefragtes Duzen oder feste Zeiten zum morgendlichen Duschen, obwohl der Heimbewohner vielleicht noch länger schlafen will – all das ist schon Gewalt.
Der Pflegewissenschaftler Sascha Köpke meint, Pflege ohne Gewalt sei gar nicht möglich: „Wir sind sehr nah an Menschen dran. Wir haben extreme Situationen, mit denen wir konfrontiert sind. Das heißt, Gewalt wird es wahrscheinlich immer geben. Eine gewaltfreie Pflege ist aus meiner Sicht illusorisch.“
Überforderung von Familien und Pflegenotstand
Gewalt in der Pflege ist ein komplexes Thema, bei dem ein kriminologischer Ansatz – Wer ist Täter, wer Opfer? – wenig hilfreich ist, weswegen er von der Erziehungswissenschaftlerin Cornelia Schweppe abgelehnt wird. Sie lehrt an der Universität Mainz Soziale Arbeit.
Das Problem seien nicht böse Angehörige, sondern die Strukturen, erklärt sie. Angehörige, die zuhause ihre Liebsten pflegen, würden unzureichend Unterstützung bekommen. Dabei sei gerade die Überlastung der Familie gewaltfördernd, erklärt Schweppe. Dafür gibt es viele Gründe:
Bei der häuslichen Pflege muss man plötzlich in eine neue Rolle hineinwachsen, für die es Betroffenen an medizinischem oder pflegerischem Fachwissen fehlt. Zudem werden bisherige Beziehungsregeln außer Kraft gesetzt. Hinzu kommt Zeitmangel, wenn man auch noch berufstätig ist. Oder man gibt den Beruf oder ein liebgewonnenes Hobby auf. All das führt zu einer Überlastung.
Es gehe also nicht um strafende, sondern um helfende Interventionen, wie Schweppe erklärt. Ziel könne nicht sein, die hilfsbedürftige Person in ein Heim zu stecken. Vielmehr brauche es den Aufbau einer sozialen Infrastruktur.
Tabuthema „Gewalt in der Pflege“
Wer in der Pflege arbeitet, tut dies aus einem bestimmten Ethos heraus. Wenn es dann zu Gewalt gegenüber einem Pflegebedürftigen kommt, ist das fast immer ein Zeichen von Überlastung, wie Heinz Rothgang erklärt.
Der Volkswirt an der Universität Bremen hat mit seinem Team berechnet, dass man für eine fachgerechte Pflege 100.000 zusätzliche Kräfte in Vollzeit bräuchte. Weil diese fehlen, sind Pflegekräfte überlastet. Der Einsatz von Leiharbeitskräften, die die Bewohner und ihre Bedürfnisse nicht kennen, und die oft nicht adäquate Unterbringung von Demenzkranken fördern zudem Gewalt.
Hinzu kommen eine ungenügende Ausbildung bei Hilfs- oder Assistenzkräften, die pflegerische Tätigkeiten übernehmen, sowie der fehlende innerbetriebliche Austausch, fehlende Supervision, kaum Zeit für Fortbildungen, und vor allem eine Tabuisierung des Themas „Gewalt in der Pflege“.
Enttabuisierung des Themas „Gewalt in der Pflege“, Fortbildungen, mehr Personal: Das sind grundsätzliche Forderungen von Pflegeexperten. Das von Heinz Rothgang und seinem Team entwickelte Personalbemessungsverfahren, das auch den Pflegegrad der Senioren berücksichtigt, soll bis Ende 2025 stufenweise umgesetzt werden.
Nach dem Willen der Bundesregierung soll die Personalsituation durch zusätzliche Assistenz- und Hilfskräfte mit geringerem Ausbildungsstand verbessert werden. Diese könnten dann hauswirtschaftliche und reine Betreuungstätigkeiten übernehmen, so dass sich die Fachkräfte auf die medizinische Pflege konzentrieren und um Menschen mit höherem Pflegegrad kümmern können.
300.000 Pflegekräfte würden gerne wieder arbeiten
Eine bundesweit angelegte Studie aus dem Jahr 2021 zeigt, dass es in Deutschland 300.000 Pflegekräfte gibt, die ihren Beruf eigentlich mögen und sich vorstellen könnten, in diesem wieder zu arbeiten, sollten sich die Bedingungen bessern. Pflegeexperte Heinz Rothgang glaubt zwar nicht, dass man alle, aber zumindest einen Teil dieser Pflegekräfte zurückgewinnen kann.
Doch eines gilt laut dem Pflegewissenschaftler Köpke auch: Es komme nicht automatisch zu Gewalt, wenn es zu wenig Personal gebe. Wichtig sei eine gewaltvorbeugende Kultur in den Pflegeeinrichtungen: Pflegerinnen und Pfleger müssten miteinander sprechen können und sich trauen, sich gegenüber Kollegen zu öffnen.
Bei der häuslichen Pflege sind vor allem die Kommunen gefragt. Die Niederlande machen vor, wie das geht. Dort sind die Gemeinden gesetzlich verpflichtet, individuelle Hilfen bereitzustellen, die das Verbleiben in der eigenen Wohnumgebung erlauben. Der Leistungskatalog der „sozialen Unterstützung“ erfasst auch neue Formen der Tagesbetreuung und vorübergehender stationärer Hilfe. Bekannt ist das Projekt unter dem Namen „Küchentischgespräche“.
Es gibt aber auch in Deutschland Initiativen, die dafür werben, ein Recht auf gewaltfreie Pflege gesetzlich zu verankern. In Hessen existiert ein solches bereits. Und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (Bagso) fordert, Ombudsstellen in allen Bundesländern einzurichten, an die sich Betroffene wenden können.