Die B-Jugend des JFC aus Berlin-Lichtenberg spielt schon wieder Fußball. Die Mannschaft tritt elf Tage nach Pauls Tod gegen Hertha Zehlendorf an. Spieler und Trainer tragen schwarze Trikots und Trainingsjacken. Mit ernsten Mienen kommen sie aus der Kabine.
Paul, ihr 15-jähriger Mitspieler, kam beim Turnier in Frankfurt am Pfingstsonntag gegen den französischen FC Metz ums Leben, durch den Schlag eines Gegenspielers nach dem Spiel. Interviews geben wollen sie alle nicht. Paul sei noch nicht mal beerdigt, sagt einer der Trainer.
Prügeleien gibt es jede Woche
Aber Christian Brossmann spricht, der Jugendleiter von Hertha 03 Zehlendorf, des Klubs mit der größten Jugendabteilung in Deutschland. 1200 Jugendliche spielen hier in 50 Mannschaften. Prügeleien auf dem Spielfeld und am Rand gebe es jede Woche, sagt Brossmann.
„Es ist schon exorbitant nach oben gegangen nach der Corona-Zeit, muss man ganz ehrlich sagen, dass diese Hemmschwellen, die natürliche Distanz einfach weg ist.“
Tatsächlich mussten in der Saison 2021/22 nach Informationen des Deutschen Fußballbunds 911 Fußballspiele in Deutschland wegen Gewalt oder Diskriminierungsfällen abgebrochen werden – so viele wie noch nie.
Allein in Berlin landeten in derselben Saison 860 Gewalt-Fälle vor dem Sportgericht des Berliner Fußballverbands, wie Theresa Hoffmann, Referentin für Gewaltprävention, in einer Studie herausgefunden hat.
„Wir haben auf der einen Seite die verbale Gewalt, darunter verstehe ich so was wie Bedrohungen. Ich habe in der Studie aber auch Beleidigungen darunter gefasst, weil gerade im Fussball Emotionen oft mit einem erhöhten Erregungsniveau und dann mit einem bestimmten Verhalten einhergehen. Und auf der anderen Seite physische Gewalt – das heißt: alles das, was wirklich körperlich geworden ist – von Schlagen, Treten, Anspucken, Bewerfen, Karten-aus- der-Hand-Schlagen, auf-die-Füße-Treten, Nachtreten, also alles das, was nicht Fußball-typisch ist, was nicht zum Spiel gehört.“
Profis als schlechtes Vorbild für die Jugend
44 Prozent der Fälle in Berlin ereigneten sich im Jugendfußball. Und hier vor allem bei den 13- bis 18-Jährigen. Der Jugendtrainer von Pauls JFC Berlin-Lichtenberg beklagt, dass viele Erwachsenen-Mannschaften den Jugendlichen ein schlechtes Vorbild seien, etwa bei den jüngsten Relegationsspielen im Profifußball. Auch dort habe es wieder Fälle von Gewalt gegeben.
Und Theresa Hoffmann beklagt, Gewalt gehöre seit Langem zur Kultur des Fußballs. Hoffmann unterscheidet zwischen verbaler und körperlicher Gewalt. Nach ihrer Statistik kommen beide Varianten in Berlin gleich häufig vor. Bei den Jugendlichen gilt: Je älter sie sind, desto stärker die physische Gewalt. Diese Entwicklung lässt sich von den Jüngeren in der C-Jugend bis zu den Ältesten in der A-Jugend beobachten.
„Wenn wir uns den Jugendbereich im Speziellen angucken, dann haben wir für die letzte Saison festgestellt, dass es in der C-Jugend hauptsächlich um verbale Gewaltvorfälle ging, in der B-Jugend haben sich verbale und physische Vorfälle ziemlich die Waage gehalten, und in der A-Jugend hat’s dann umgeschlagen, wo wir mehr physische Gewalt hatten als verbale Gewalttaten verzeichnet hatten.“
Von außen wird Stimmung gemacht
Oft wird die Gewalt von außen angeheizt – von Zuschauern, manchmal auch von Trainern. Im Jugendfußball sieht Christian Brossmann von Hertha Zehlendorf vor allem die Eltern in der Verantwortung.
„Die Diskussionen bei den Eltern bleiben nicht Diskussionen, sondern arten aus in Handgreiflichkeiten, obwohl es um gar nichts geht, nur Kinderfußball oder Jugendfußball.“
Kürzlich habe es eine Prügelei von Eltern am Spielfeldrand gegeben, erinnert sich Brossmann. Der Streit um eine Schiedsrichterentscheidung sei eskaliert. Die Eltern bekamen ein Platzverbot für immer.
„Viele Eltern probieren dadurch, ihre Kinder irgendwie in eine andere Bahn zu leiten. Wenn’s vielleicht in der Ausbildung nicht klappt oder wenn sie in der Schule nicht so gut sind, dann müssen sie im Fußball richtig gut sein. Und das ist halt dann schon echt bedenklich, und das führt dann dazu, dass diese Grundaggressivität auf dem Platz entsteht.“
Eltern projizieren Bundesligaträume auf ihr Kind
Brossmann vermutet, dass Eltern Bundesligaträume auf ihr Kind auf dem Feld projizieren – dafür nehmen sie Gewalt in Kauf, sei es am Spielfeldrand, sei es auf dem Feld.
„Ein Spieler geht durch, vielleicht ist ein Ellbogen dabei. Das Spiel muss unbedingt gewonnen werden. Der gegnerische Spieler – die liegen 1:0 zurück – der Spieler ist vorbei, und der haut den einfach um. Dann steht der auf, wenn er sich nicht im Griff hat, geht er auf den anderen Spieler los, schubst ihn, was auch immer. Das artet dann in Handgreiflichkeiten aus. Das sind schon Szenen auf dem Platz, die wöchentlich an jedem Wochenende in Berlin passieren leider, ja.“
Als Reaktion auf diese Gewalt werden die Trainer von Hertha Zehlendorf ihren 1200 Jugendspielern zu Beginn der kommenden Saison in den Kabinen ins Gewissen reden und sie zur Gewaltfreiheit verpflichten, solange sie das Trikot des Vereins tragen. Außerdem will der Verein Fanzonen einführen, damit sich aggressive Eltern nicht zu nahe kommen. Einen Todesfall wie in Frankfurt soll es nie wieder geben.