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Gewalt gegen Frauen
Grieger: Zahl der Beratungsstellen und Frauenhäuser verfünffachen

Härtere Maßnahmen, um häusliche Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, fordert Katja Grieger vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland. Frauenhäuser und -Beratungen in Deutschland würden am Rande ihrer Kapazitäten arbeiten, sagte Grieger im Dlf.

Katja Grieger im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
Eine Frau hält ihre Handfläche Richtung Kamera. Darauf steht "Stop".
Katja Grieger vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe: "Wir müssen im Moment leider sagen, in Deutschland reden wir von einem Flickenteppich" (imago stock&people)
Jörg Münchenberg: Heute am internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen hat die Familienministerin neue Zahlen vorgelegt. Demnach hat häusliche Gewalt leicht zugenommen. Zumindest sagt das die Statistik aus, wobei jedoch die Dunkelziffer erheblich höher sein dürfte. Nun soll mehr Geld fließen, etwa in die Finanzierung von Frauenhäusern. Allerdings hat hier Deutschland auch erheblichen Nachholbedarf, monieren Kritiker.
Am Telefon ist jetzt Katja Grieger. Frau Grieger, 114.000 Frauen waren Opfer von Gewalt im Jahr 2018. Diese Zahl hat die Familienministerin heute genannt. Ist denn abzuschätzen, wie hoch die Dunkelziffer ist, denn die dürfte ja beträchtlich höher liegen?
Grieger: Die liegt auf jeden Fall beträchtlich höher. Wir haben hier aus diversen Dunkelfeldstudien Anhaltspunkte. Ich kann das zum Beispiel mal für das Phänomen der Vergewaltigung und der sexuellen Übergriffe sagen. Da wissen wir, dass nur ungefähr zwischen acht und 15 Prozent der Vergewaltigungen überhaupt jemals der Polizei zur Kenntnis gebracht werden. Im Umkehrschluss heißt das: Die allermeisten gelangen nie ans Hellfeld. Und wir wissen aus diesen Studien, dass je näher Täter und Opfer sich stehen, desto seltener die Frauen die Polizei einschalten. Das heißt, gerade im Bereich derjenigen Gewalt, die Frauen am häufigsten erleben, das ist die Gewalt in Partnerschaften oder Expartnerschaften, ist die Dunkelziffer noch höher.
"Mehr Betroffene fassen Mut"
Münchenberg: Die Zahlen sind jetzt leicht gestiegen. Die Familienministerin führt das auch darauf zurück, dass häusliche Gewalt eher der Polizei angezeigt wird. Sehen Sie das ähnlich?
Grieger: Ja, da gibt es ermutigende Nachrichten. Ich führe das auch darauf zurück, dass tatsächlich doch zum Beispiel durch solche Debatten wie #MeToo seit einigen Jahren häufiger über das Phänomen gesprochen wird, und das führt dann schlicht und ergreifend auch dazu, dass mehr Betroffene den Mut fassen, sich jemandem anzuvertrauen, gegebenenfalls auch der Polizei.
"Nein zu Gewalt an Frauen und Mädchen #Gegen Gewalt" steht auf einem Aufkleber auf einer Straßenlaterne.
Mord ist Mord ist Mord
Bei Gewaltverbrechen in Familien – meist von Männern an Frauen – sprechen Medien häufig von "Beziehungsdrama", "Eifersuchtstat" oder "Tragödie". Damit würden die Taten aber verharmlost, so lautet seit Jahren die Kritik an dieser Praxis. Doch langsam tut sich auch in deutschen Redaktionen etwas.
Münchenberg: Jetzt kommen aus Frankreich zum Beispiel Vorschläge, wo man sagt, man muss auch häusliche Gewalt besser definieren. Etwa gibt es ja auch psychische Gewalt. Gibt es da ein ähnliches Defizit vielleicht auch in Deutschland?
Grieger: Ja. Aus den Beratungsstellen wissen wir ganz klar, dass die häusliche Gewalt ganz selten nur ein Gewaltphänomen umfasst. Das ist oft ein ganzes Konglomerat zum Beispiel aus auch sozialer Kontrolle, aus Kontrolle über das Geld, dass Männer anfangen zu versuchen, die sozialen Kontakte der Frauen zu kontrollieren, ihr Handy überwachen, und dass diese Gewalt dann in der Regel zunimmt, wenn Frauen beginnen, sich dagegen zu wehren, oder beginnen, Schritte in ein selbstbestimmteres Leben zu gehen. Wir finden es deswegen besonders wichtig, dass die Istanbul-Konvention hier immer herangezogen wird, weil die sehr gut sämtliche Gewaltphänomene gegen Frauen umfasst, von der psychischen über die sexualisierte über die ökonomische Gewalt, aber natürlich auch die körperliche.
"Schwierigkeiten, psychische Gewalt zu fassen"
Münchenberg: Die Istanbul-Konvention, das ist ein Menschenrechtsabkommen des Europarates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. – Aber noch mal in Sachen Definition. Das heißt, auch der Gesetzgeber müsste hier aktiv werden, wenn es zum Beispiel darum geht, häusliche Gewalt klarer zu definieren?
Grieger: Ja. Wir haben in Deutschland keinen Straftatbestand oder so was der häuslichen Gewalt, sondern unser Strafgesetzbuch ist nach Gewaltphänomen aufgebaut, Körperverletzung oder Stalking oder so was. Das heißt, wir haben ein sehr großes Problem, die psychische Gewalt, alles, wo es zu keinem Körperkontakt kam, auch zum Beispiel die Gewalt im Internet, das sogenannte Trennungs-Stalking, das strafrechtlich zu fassen. Es ist immerhin ein großer Fortschritt, dass jetzt einmal im Jahr, am 25. 11., die Zahlen des Bundeskriminalamtes ausgewertet werden, was wir heute gesehen haben, nach diesem Phänomen der häuslichen Gewalt. Aber aus dem Strafgesetzbuch alleine können wir dieses Phänomen bisher nicht ablesen, weil es diesen Straftatbestand so nicht gibt.
Münchenberg: Wie wichtig sind aus Ihrer Sicht die bestehenden Hilfsangebote? Und die Frage ist auch: Sind diese Angebote bekannt genug? Da sieht ja gerade bei Letzterem auch die Familienministerin noch ziemlichen Handlungsbedarf.
Grieger: Ja! Wir wissen leider auch aus Dunkelfeldstudien, dass die allermeisten Frauen, die solche Gewalt erleben, mit überhaupt gar niemandem darüber sprechen. Wir haben aber das Phänomen, dass zum Beispiel die Beratungsstellen und auch die Frauenhäuser trotzdem permanent voll sind. Sie arbeiten wirklich am Rande ihrer Kapazitäten. Das heißt, es stimmt beides. Es stimmt auf der einen Seite, dass noch viel mehr Frauen erreicht werden müssten, durch Unterstützungsangebote. Auf der anderen Seite müssten dafür aber auch tatsächlich diese Angebote erst mal überhaupt in ihren Kapazitäten erweitert werden. Insofern muss das eigentlich der erste Schritt sein, um dann in einem zweiten Schritt auch wirklich allen Frauen, die das brauchen, auch die Unterstützung zukommen zu lassen.
Zu lange Wartezeiten für Termine
Münchenberg: Sie stimmen auch da zu: Ein Rechtsanspruch auf einen Platz im Frauenhaus bringt letztlich wenig, wenn einfach nicht genug Plätze vorhanden sind?
Grieger: Ja. Tatsächlich müssen erst mal die Kapazitäten erweitert werden, sowohl in den Frauenhäusern als auch in den Beratungsstellen. Wir haben in manchen Regionen die Situation, dass eine Frau in der Beratungsstelle anruft und mehrere Wochen auf einen ersten Termin warten muss. Das liegt einfach daran, dass in den letzten Jahren durch die erhöhte Thematisierung in der Öffentlichkeit mehr Frauen sich trauen, Hilfe zu suchen, aber nicht in gleichem Maße die Finanzierung gestiegen ist für diese Beratungsstellen. Dann ist es einfach so, dass deren Tag auch nur 24 Stunden hat, und wenn da nur zwei Kolleginnen – das ist der Durchschnitt, der da arbeitet, zwei Kolleginnen pro Beratungsstelle – sitzen, dann hat das leider seine Grenzen, wer da unterstützt werden kann.
Münchenberg: Kann man das denn in Zahlen klarer umfassen, wie viele Plätze tatsächlich fehlen?
Grieger: Für die Frauenhäuser gibt die Istanbul-Konvention einen Anhaltspunkt, was empfohlen wird, und für die Beratungsstellen ist es so, dass man sehr genau gucken muss, über welche Region reden wir. Wir als Bundesverband sagen, wir möchten, dass keine Frau in Deutschland länger als eine Stunde Fahrtweg ohne Auto zu der nächsten Beratungsstelle braucht und dass immer im Abstand von 50 Kilometern eine sein müsste. Wenn man sich dann die Regionen in Deutschland genauer anguckt, sehen wir, dass doch teilweise in manchen Regionen die Kapazitäten verfünffacht werden müssten.
Münchenberg: Nun fordert ja, Frau Grieger, der Frauenrat ein Gesamtkonzept zur Umsetzung dieser Istanbul-Konvention. Was heißt das konkret? Was soll ein Gesamtkonzept bewirken?
Grieger: Ja, das fordert auch die Konvention selber. Sie spricht von einem ganzheitlichen Gesamtkonzept. Und das Besondere daran ist: Gerade in einem so großen Land wie Deutschland, das ja auch föderal strukturiert ist, gibt es unglaublich viele Zuständige. Es gibt den Bund mit unterschiedlichen Ministerien. Es gibt die Länder auch mit unterschiedlichen Ministerien. Und dann gibt es die Kommunen. Die Istanbul-Konvention sagt ganz klar, es braucht jemanden, der das alles koordiniert, die unterschiedlichen Zuständigkeiten, dass das Gesundheitsministerium weiß, was das Frauenministerium macht, dass man die Maßnahmen aufeinander abstimmt. Wir müssen im Moment leider sagen, in Deutschland reden wir von einem Flickenteppich. Wir haben in der einen Region ein gutes Modellprojekt zum Beispiel für gewaltbetroffene behinderte Frauen, in der anderen Region haben wir ein gutes Modellprojekt für gewaltbetroffene Frauen, die ein Suchtproblem haben, aber nicht umgekehrt. Das heißt, im Moment hängt es leider mehr vom Zufall und vom Glück ab, ob eine Frau die für sie passende Unterstützung in der Region findet, und durch ein Gesamtkonzept würde man davon wegkommen und würde sich genau anschauen, was braucht es an welchem Ort, was fehlt hier noch, wen brauchen wir dafür, und dann würden die Maßnahmen aus einer Hand geplant und umgesetzt. Davon sind wir leider weit entfernt in Deutschland im Moment.
Investitionen ausschließlich für bauliche Maßnahmen
Münchenberg: Nun hat ja die Familienministerin jetzt auch mehr Geld in Aussicht gestellt. Es geht um 120 Millionen Euro in den nächsten vier Jahren. Klingt erst mal nicht nach einer kleinen Summe?
Grieger: Das stimmt. Wenn Sie allerdings überlegen, dass wir von 16 Bundesländern sprechen, und wenn Sie das durch 16 teilen, ist es schon mal gleich deutlich weniger. Und wenn Sie dann auch noch wissen, dass dieses Geld ausschließlich für Investitionen, das heißt für bauliche Maßnahmen verwendet werden darf, dann weiß man, dass es zwar gut ist, aber hinten und vorne nicht reicht. Wir werden dadurch einen großen Schritt in Richtung Barrierefreiheit der Unterstützungseinrichtungen machen können. Das ist sehr wichtig, weil gerade Frauen mit Behinderung ganz überproportional von Gewalt betroffen sind. Das wissen wir aus Studien. Die werden dann einen besseren Zugang haben, das ist super. Wir werden aber leider durch dieses Geld keine einzige Personalstelle mehr in einem Frauenhaus oder einer Frauenberatungsstelle erwarten können, weil dafür sind die Gelder schlicht nicht vorgesehen. Insofern kann man damit auch leider die Kapazitäten im Unterstützungssystem nicht wirklich erhöhen. Man kann die Barrieren senken, das ist schon mal ein guter erster Schritt.
Münchenberg: Wenn Sie sagen, das reicht letztlich nicht aus, was für Summen müsste denn die Ministerin in die Hand nehmen, damit substanziell was verbessert werden kann?
Grieger: Oh je. Viel Geld ist das. Ich bin mir da nicht sicher. Da gibt es unterschiedliche Auffassungen auch zwischen Bund, Ländern und Kommunen, wie da eigentlich die Zuständigkeiten im föderalen System verteilt sind. Wir sagen immer, uns ist es ein bisschen egal, wo das Geld herkommt. Ich glaube, dass es weit, weit größere Summen braucht, und zwar auch dauerhaft und nicht nur modellhaft für wenige Jahre, weil tatsächlich die Personalkapazitäten hauptsächlich das sind, was erhöht werden muss, und das sind einfach Finanzen, die dauerhaft gesichert werden müssen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.