"Es darf nicht sein, dass Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker in unserem Land schlaflose Nächte haben, weil sie beleidigt oder bedroht werden. Es darf nicht sein, dass Menschen sich von ihrem Amt zurückziehen, weil sie um ihr Leben und um das ihrer Familien fürchten müssen", sagte Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier beim traditionellen Neujahrsempfang, um eine Botschaft zu senden gegen Hass, Hetze und Gewalt. Andreas Hollstein ist Bürgermeister von Altena, einer Kleinstadt in NRW. Am 27. 11. 2017 wurde er mit einem Messer angegriffen, weil er sich für Flüchtlinge einsetzt. Im Amt ist er immer noch.
"Davon lass ich mich nicht einschüchtern, genauso wie von den Drohungen vorher nicht und auch von den Drohungen nachher nicht", sagte Hollstein im Dlf. Es seien aber nicht nur Amtsträgern betroffen, sondern auch Feuerwehrleute, Rettungsmitarbeiter und Ordnungsdienstmitarbeiter. Hollstein betonte, um das Problem zu lösen, müssen "wir wieder dahin zurückkommen, in unserem Land zu diskutieren, andere Meinungen auch nicht grundsätzlich abzukanzeln und für sich selbst die einzig wahre Meinung zu vertreten."
Das Interview in voller Länge:
Zerback: Ein bisschen mehr als zwei Jahre nach dem Messerangriff auf Sie. Wie lange hatten Sie denn schlaflose Nächte?
Hollstein: Schlaflose Nächte eigentlich gar nicht. Der Körper hat nach vier Wochen mit einem Hörsturz geantwortet, aber ansonsten habe ich das eigentlich sehr gut verarbeiten können, zusammen mit der Familie.
Zerback: Und das sagen Sie heute, obwohl die Drohungen ja noch gar nicht vorbei sind. Die erhalten Sie nach wie vor in unregelmäßigen Abständen. Wie gehen Sie denn damit um?
Hollstein: Ja, es ist traurig, aber Teil einer Wahrheit scheinbar heute, dass ich alleine um den Mord am Kollegen Lübcke circa sechs Morddrohungen bekommen habe. Ein Teil war ja auch presseöffentlich. Ich mache die, um die nicht noch wichtiger zu machen, normalerweise nicht presseöffentlich. Und ich muss ehrlicherweise sagen, das nutzt sich natürlich auch ab, obwohl es sich eigentlich nicht abnutzen darf, weil es natürlich was ist, was unter die Gürtellinie geht. Aber es ist dann schon die, weiß ich nicht, 20. Oder 25, keine Ahnung, die ich erhalten habe, und es ist natürlich nicht so wie beim ersten Mal. Aber ich kann die Kollegen verstehen, die darauf mit Sorge, mit Angst, mit Furcht und auch mit der Überlegung, bin ich da richtig, reagieren. Wenn man das mal weiterspinnt und sich eine Amtsträgerschaft vorstellt, die nur noch aus denen besteht, die das leicht wegstecken, das ist nicht einfach. Das steckt Mann und auch Frau nicht leicht weg. Das bleibt in den Kleidern haften. Man verhält sich anders. Und keine Lösung für mich ist das Tragen von Waffen.
Zerback: Bevor wir zu dem wichtigen Punkt kommen; Sie sagen, Sie können es nachvollziehen, dass Kolleginnen und Kollegen diesen Schritt gehen. Haben Sie mal ernsthaft darüber nachgedacht?
Hollstein: Ich persönlich überhaupt nicht. Ich habe, als ich im Krankentransport saß, nach dem Angriff gesagt, davon lass ich mich nicht einschüchtern, genauso wie von den Drohungen vorher nicht und auch von den Drohungen nachher nicht. Dann würde man denen ja recht geben, die genau das bezwecken, die ein Klima der Angstszene wollen, unsere Gesellschaft ärmer machen wollen, zeigen wollen, dass die Politiker nicht in der Lage sind, überhaupt verantwortlich mit einer Krisensituation umzugehen. Und ich glaube, so leicht wollen wir es den Menschen nicht machen, die unser System ablehnen und versuchen, unser System ad absurdum zu führen.
Auch Feuerwehrleute und Rettungsdienstmitarbeiter sind betroffen
Zerback: Lassen Sie uns da doch mal versuchen, die Motive zu ergründen. Bei Ihnen war es ja zumindest erklärtermaßen das Engagement für Flüchtlinge, in Ihrer Stadt mehr Flüchtlinge aufzunehmen, als es nach dem offiziellen Schlüssel für Ihre Stadt vorgesehen war. Aber es gibt ja auch Beispiele, wo etwa der Einsatz für die Grundsteuer Drohung und Gewalt nach sich zieht. Geht es da vielleicht weniger ums Thema als um die grundsätzliche Frage, was da schiefläuft zwischen Gesellschaft und Politik? Wie erklären Sie sich das?
Hollstein: Ja, ich glaube, Sie haben das in der Frage schon fast beantwortet. Natürlich ist es so, dass das nicht nur beim Thema Geflüchtete ist, aber das ist natürlich der Kristallisationspunkt der letzten Jahre gewesen, weil viele Menschen auf dieses Thema geguckt haben. Aber es ist durchgehend. Ich kenne Kollegen, die sich für Windräder eingesetzt haben und dann mit Repressionen gerechnet haben, oder einer Kollegin in Bayern haben sie nicht beim Thema Geflüchtete die Radmuttern gelöst. Das war Gegenstand im Gespräch mit dem Bundespräsidenten im Sommer. Ich glaube, das ist sehr vielfältig und zeigt, dass unsere Gesellschaft sich verändert, und da können Regelungen helfen, wie zum Beispiel in dem Neun-Punkte-Plan der Bundesregierung aus dem Herbst letzten Jahres, dass man Beleidigung auch gegen Amtsträger auf kommunaler Ebene macht. Aber davon betroffen sind ja auch Feuerwehrleute, sind Rettungsdienstmitarbeiter, sind Menschen, die in der Leistungsgewährung arbeiten, oder kommunale Mitarbeiter, die auf die Straße gehen und den Ordnungsdienst machen. So kann das in unserer Gesellschaft nicht weitergehen und die Antwort letztendlich für mich ist die Zivilgesellschaft selbst. Sie muss deutlich machen, dass sie das nicht akzeptiert.
Zerback: Der Städte- und Gemeindebund wirbt ja dafür, einen neuen Straftatbestand Politiker-Stalking einzuführen. Wäre Ihnen das zu eng, oder ist das ein richtiger Ansatz?
Hollstein: Ja, das ist einer von vielen. Das wird aber alles das Problem nicht lösen. Das Problem wird erst dann gelöst sein, wenn wir wieder dazu zurückkommen, in unserem Land zu diskutieren, andere Meinungen auch nicht grundsätzlich abzukanzeln und für sich selbst die einzig wahre Meinung zu vertreten, und das hängt natürlich auch ein bisschen mit der Blase zusammen, in der sich viele befinden in den sozialen Medien, wo man nur noch das liest, was einen selbst bestätigt, und man dann den Eindruck hat, dass es dazwischen oder daneben gar keine Wahrheit mehr gibt. Dann gibt es natürlich daneben noch die Linksaußen und besonders die Rechtsaußen, die versuchen, unseren Staat kaputt zu machen, und das dürfen wir nicht zulassen. Dafür ist dieser Staat und diese Demokratie zu wertvoll.
Zerback: Sie haben es gerade schon angesprochen. Ein Bürgermeister-Kollege von Ihnen aus NRW, der wurde ja auch von Neonazis bedroht und wollte sich daraufhin einen Waffenschein besorgen. Die Polizei hat den erst mal abgelehnt und dagegen klagt er jetzt. Da ist die Verhandlung in zwei Wochen. Können Sie das verstehen, dass er da aufrüsten wollte in dieser Situation?
Waffe zu tragen, ist für Hollstein keine Option
Hollstein: Ich kann verstehen, dass jemand Angst hat. Das haben Sie ja auch schon deutlich gemacht, dass durch Rücktritte mehr als belegt ist, dass das kein Randthema mehr ist, sondern dass das im Bereich der Bürgermeister, aber auch im Bereich der Ratsfrauen und Ratsmänner in Deutschland angekommen ist. Schutz kann es da nicht geben im Sinne von Personenschutz. Wir sind alleine 14.000 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Was soll das?
Zu meinem Selbstverständnis vom Amt: Ich muss mit den Bürgern ein Vertrauensverhältnis erst mal haben und muss mich auf den Bürger einlassen können. Wenn ich eine Waffe bei mir trage, kann ich das nicht mehr.
Natürlich setzt man sich damit auseinander und natürlich ist da auch ein Risiko. Mich haben viele Freunde beispielsweise gefragt, weil ich jetzt in Dortmund kandidiere, ob im Wahlkampf mir das Angst macht. Natürlich ist das ein Gefühl von Unsicherheit, wenn man mitbekommt, dass da Zwischenfälle wie beispielsweise der politische Mord an Walter Lübcke waren, aber wir dürfen uns das nicht so einfach machen. Diese Demokratie lebt davon, dass Menschen miteinander reden, und das kann man nicht, wenn man eine Waffe am Holster trägt und damit dann auch mehr recht als schlecht maximal umgehen kann.
Zerback: Aber merken Sie das im Wahlkampf? Sie kandidieren ja jetzt für ein neues Amt. Da kommen wir gleich noch drauf. Merken Sie, dass sie an den Wahlkampfständen vielleicht misstrauischer sind und den Menschen da anders begegnen als vorher?
Hollstein: Ehrlicherweise, wenn das so wäre, dann hätte ich den Schritt nicht gemacht, noch mal für ein politisches Amt zu kandidieren. Dann hätte ich irgendwas anderes gemacht. Und dann sollte man besser auch was anderes machen.
Zerback: Und dann ausgerechnet noch als Bürgermeister von Dortmund, wo es ja eine große rechtsextreme Szene gibt. Schreckt Sie das auch nicht ab?
Hollstein: Überhaupt nicht, weil ich kenne dafür Dortmund wiederum zu gut, um zu wissen, dass es Rechtsradikalismus in jeder größeren Stadt gibt. Dortmund ist da ein bisschen stigmatisiert und mir tun immer die Dorstfelder leid, die damit stigmatisiert werden und in eine Ecke eingeordnet werden, wo die gar nicht rein gehören.
Zerback: Der Stadtteil, der da besonders betroffen ist.
Hollstein: Das ist der Stadtteil, der besonders betroffen ist, und da gibt es ganz wunderbare Menschen. Natürlich gibt es da auch ein paar andere und dagegen muss man versuchen, politisch auch anzukämpfen. Aber das ficht mich nicht an. Zu meinem Kredo gehört, in der Politik hat neben Mut auch Haltung dazuzutreten, und ich glaube, dass die in der Politik nach wie vor nötig ist, und das ist natürlich dann auch ein Anspruch an sich selbst. Wenn man Mut und Haltung von anderen verlangt, dann muss man auch Mut und Haltung zeigen. Nur so kann man Politik machen.
Mut und Haltung zeigen - nur so kann man Politik machen
Zerback: Das ist, gerade in einer Situation, wo Angst eine Rolle spielt, viel verlangt, muss man sagen, und führt dazu, dass gerade die Kommunalpolitik auch Nachwuchssorgen hat. Wie wollen Sie dafür sorgen, dass mehr junge Menschen sich das trauen und genau diese Haltung beweisen und sich diesem ja doch schwierigen Job auch stellen?
Hollstein: Da sprechen Sie einen ganz wunden Punkt an. Das ist meine große Sorge. Es ist ja nicht in der Wirklichkeit so, dass die Menschen Schlange stehen, um sich für politische Mandate in den Räten oder auch als Bürgermeister oder Bürgermeisterin hauptamtlich (oder in manchen Bundesländern geht das ehrenamtlich) zur Verfügung zu stellen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben eigentlich einen Bedarf an gut ausgebildeten, in allen Bereichen Erfahrung mitbringenden jungen Leuten, die uns zeigen wollen, dass man Politik noch besser machen kann. Davon lebt Politik. Und ich habe ein bisschen Sorge, dass das durchschlägt, zumal, wenn Sie jetzt auf den Bereich der Bedrohung, nicht der Morddrohung, sondern der Bedrohung und Beschimpfung gehen, ich feststelle, dass die Beschimpfungen bei Kolleginnen noch meist mit sexuellen Fantasien angereichert sind und meist – sprechen wir es ruhig aus – von Männern, von meinem Geschlecht kommen, wo ich das auch gedanklich gar nicht mehr nachvollziehen kann. Wir wollen mehr Frauen in der Politik und schaffen dann oder lassen ein Klima zu als Gesellschaft, wo gerade junge Frauen, die dann vielleicht auch noch in der Elternphase sind, abgeschreckt werden, weil auch Familien mit bedroht werden. Das darf nicht sein, das dürfen wir nicht zulassen, und deshalb finde ich das toll, dass der Bundespräsident die Dramatik des Themas auch nach den Schilderungen der Kollegen – und ich habe selbst gemerkt, wie es ihn angefasst hat im Sommer – dann zum Anlass genommen hat, jetzt das Thema nicht nur einmal hochzuziehen, sondern das Thema als wirklich ein wichtiges Thema seiner Amtszeit mitzunehmen. Das kann uns nur helfen.
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