"Das erste, woran ich mich eigentlich erinnern kann, war, dass mich zwei Spieler wohl gestützt haben und ich fieberhaft am Überlegen war: Ja, wo bin ich hier? Was ist da jetzt passiert? Ich versteh' das irgendwie nicht", so beschreibt der Essener Schiedsrichter Helmut Dohse den Moment, nachdem er im letzten November auf dem Platz niedergeschlagen wurde. Dohse hatte einem Spieler Gelb-Rot gezeigt, der schlug so hart zu, dass der Unparteiische einen doppelten Kieferbruch erlitt. Zwei Wochen Krankenhaus, fünf Wochen Flüssignahrung, 15 Kilo Gewichtsverlust.
Nicht der einzige Fall von Gewalt auf Essener Fußballplätzen, bestätigt Thorsten Flügel, Vorsitzender des Fußballkreises Essen Nordwest: "Zahlenmäßig liegen wir jetzt ungefähr da, wo wir in der gesamten letzten Saison waren – zur Halbserie. Und was die Qualität der Übergriffe angeht: Auch früher gab es mal eine Schubserei auf dem Platz, mal ein hartes Wort. Aber die Intensität, mit der heute vorgegangen wird, dass gegen Köpfe getreten wird - am Boden liegend - dass geschlagen wird bis zu Kieferbrüchen, das hat es früher nicht gegeben und da ist im Moment tatsächlich eine Senkung der Hemmschwelle festzustellen."
Die Gründe dafür sind vielfältig. Für Flügel ist die steigende Gewalt auf dem Fußballplatz ein Symptom größerer gesellschaftlicher Probleme: "Respekt vor Leuten, die entscheiden dürfen, vor Polizei, natürlich dann auch vor Schiedsrichtern auf Plätzen, ist gesunken, es gibt immer weniger Menschen, die akzeptieren, dass es andere gibt, die entscheiden dürfen."
Reicht die Integrationsarbeit bei den Vereinen aus?
Eine wichtige Rolle spielen dabei Migranten. Denn auch wenn Thorsten Flügel sagt „also ich glaube nicht, dass wir ein Problem mit Menschen besonderer Herkunft haben, wir haben ein Problem mit Leuten, die sich auf dem Platz nicht benehmen können" - sind doch häufig Migranten in die schweren Handgreiflichkeiten verwickelt.
Zeichen von mangelnder Integration, meint Harun Kazoglu, selbst ehemaliger Fußballspieler und Mitglied im Essener Integrationsrat. Er versucht seit Jahren, in Essen den Sportausschuss und den Sportbund davon zu überzeugen, mehr Integration durch Sport zu betreiben. Dabei beruft sich Kazoglu auf die Erkenntnisse von Sport-Soziologen wie dem renommierten Fanforscher Gunter A. Pilz. Der sieht den Sport als Austragungsort eines sozialen Konfliktes zwischen Migranten und Deutschen. Es geht um Ressourcen, um Anerkennung. Beides Dinge, die Migrantenvereine in Essen laut Kazoglu noch zu wenig bekommen. "Nicht einer der Migrantensportvereine hat eine gewisse Struktur wie ein alteingesessener Verein, haben auch kein Vereinsheim, wo sie mal sich zusammensetzen können, Integrationsarbeit leisten können, Schularbeit leisten können, soziale Kontakte zu anderen Institionen – all diese Dinge, die liegen brach in Essen."
Dabei gibt es durchaus Handlungsempfehlungen, die in Essen auf diversen Fachtagungen von Forschern präsentiert wurden. Nur: Umgesetzt wurden sie bis jetzt nicht. Ein Umdenken setzt nur langsam ein. Klaus Diekmann, der Vorsitzende des Sportausschusses im Rat der Stadt Essen, möchte auf der nächsten Sitzung mit dem Sportbund zumindest über eine wichtige Empfehlung beraten: Die Schaffung eines direkten Ansprechpartners für Migranten im Essener Sport. Den gibt es – anders als in anderen Städten – nicht. Es fehlt aber weiterhin die Idee für ein übergreifendes Integrations-Konzept, das von der Politik, dem Sportbund und den Vereinen gemeinsam erarbeitet wird. Bis es so ein Konzept gibt, wird es wohl noch einige Zeit dauern, im Moment versucht der Sportbund, die Gewalt anders in den Griff zu bekommen.
Sportbund bemüht sich um größeren Spielraum bei Strafen
Neben den Strafen durch die Sportgerichte – drei Täter wurden in dieser Saison lebenslang gesperrt – bringt der Vorsitzende des Sportbundes, Dr. Bernhard Görgens, weitere Sanktionen ins Spiel. "Das heißt auch im Einzelfall Platzverweise, das heißt auch Spielverbote, das heißt auch, dass wir mit Vereinen, die sich nicht an Regeln halten, auch darüber sprechen müssen oder ihnen auch mal sagen müssen, ihr habt eine begrenzte Zeit keine Nutzung von Plätzen solange das bei euch nicht wieder richtig funktioniert."
Der Spielraum der Stadt ist aber begrenzt, das Rechtsamt hat in der letzten Ausschusssitzung schon klar gemacht, dass ein Betretungsverbot nicht verhältnismäßig wäre. Es bleibt bei allen Beteiligten eine gewisse Ratlosigkeit – und ein ungutes Gefühl beim Blick auf die nächsten Wochenenden.
"Wir haben einen Schiedsrichter mit einem doppelten Kieferbruch gehabt, der bewusstlos auf dem Platz gelegen hat und erst im Rettungswagen wieder wach geworden ist. Vielleicht hat er einfach nur Glück gehabt, das hätte auch anders ausgehen können, meinten die Ärzte. Und natürlich ist ne gewisse Angst da, dass etwas schlimmeres passiert, als nur eine Körperverletzung."