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Gewalt in Nahost
"Flächenbrand steht kurz bevor"

Wenn es tatsächlich eine israelische Bodenoffensive geben sollte, dann könnte das zu einem Übergreifen des Konflikts in der Region führen, warnt Nahost-Experte Michael Lüders im Deutschlandfunk. Hisbollah oder andere Akteure könnten sich dann einschalten. Es drohe ein Showdown, den sich so manche islamische und jüdische Extremisten wünschen würden.

Michael Lüders im Gespräch mit Gerd Breker |
    Michael Lüders , aufgenommen am 14.10.2011 auf der 63. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main.
    Der Nahost-Experte Michael Lüders (dpa / Arno Burgi)
    Gerd Breker: Es brennt wieder im Nahen Osten. Die Hamas feuert weiter Raketen auf Israels Städte und Israel antwortet mit heftigen Luftschlägen. Die Vorbereitungen für eine Bodenoffensive auf Gaza laufen. Es sei keine Zeit für Friedensverhandlungen, sagt Israels Ministerpräsident Netanjahu, und lehnt das Vermittlungsangebot von Präsident Obama ab. Der Raketenbeschuss aus Gaza, er soll aufhören, das ist das Ziel, und in Israel wächst die Überzeugung, dass der erst dann aufhört, wenn die Hamas zerstört ist. Erstmals - und das lässt aufhorchen - kommen auch Raketen aus dem Süden Libanons.
    Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Nahost-Experten Michael Lüders. Guten Tag, Herr Lüders.
    Michael Lüders: Schönen guten Tag, Herr Breker.
    Breker: Nun gibt es erste Raketen aus dem Libanon. War das nur eine Frage der Zeit, wann der Konflikt eskaliert, und war das die Hisbollah?
    Lüders: Nun, israelischen Militärangaben zufolge handelt es sich wohl um eine Rakete, die von palästinensischen Gruppen abgefeuert worden ist. Aus dem Norden erwartet man in Israel erst mal keine militärische Bedrohung. Sollte der Konflikt sich zuspitzen, könnte das natürlich anders aussehen. Grundsätzlich muss man sagen, so psychologisch verheerend dieser Raketenbeschuss für die israelische Bevölkerung ist, kann dank der Raketenbatterien des Iron Dome dieser Beschuss weitgehend eingedämmt werden. 80 Prozent der Raketen werden in der Luft abgefangen. Das ist für Israels Sicherheit gut. Eine weniger gute Entwicklung ist, dass die Raketen der Hamas, auch wenn sie immer noch weit entfernt sind, treffsicher zu sein, sich technologisch sehr viel fortentwickelt haben und mittlerweile eine sehr große Reichweite erzielt haben, bis nach Haifa. Das ist schon sehr bemerkenswert, das war vor wenigen Jahren noch nicht der Fall.
    Breker: Und Hamas und gegebenenfalls auch Hisbollah hätten genug Waffen und genug Raketen dieser Art?
    Lüders: Die Hisbollah auf jeden Fall. Bei der Hamas bin ich mir da nicht so sicher, weil in der Vergangenheit doch immer wieder militärische Ziele der Hamas zerstört worden sind. Aber wir wissen nicht genau, was aus den Tunneln in den letzten Monaten und Jahren, bevor sie dann von ägyptischer Seite zerstört worden sind, in Richtung Gazastreifen den Weg gefunden hat, vor allem aus Libyen nach dem Ende des dortigen Gaddafi-Regimes. Das ist eine große Unbekannte und vermutlich werden die militärischen Führer der Hamas ihre wichtigsten militärischen Errungenschaften, ihre Raketen mit der größten Reichweite, noch in petto sich behalten für den Fall, dass die Krise eskaliert.
    "Scheitern der Friedensgespräche waren Auslöser"
    Breker: Ist denn, Herr Lüders, der Zeitpunkt für diese Eskalation aus israelischer Sicht günstig? In Ägypten das Ende der Muslim-Bruderschaft, Syrien ist verstrickt in einen unübersichtlichen Bürgerkrieg, der Irak erlebt Machtkämpfe zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden. Hat Israel aus eigenem Verständnis freie Hand?
    Lüders: So mag es sich Premierminister Netanjahu gedacht haben. Aber die eigentliche Motivation für diesen Schlagabtausch mit der Hamas geht zurück auf einen anderen Zusammenhang, nämlich auf das Scheitern der Friedensgespräche zwischen Israelis und Palästinensern unter amerikanischer Vermittlung, die vor zwei Monaten gescheitert sind. Die Amerikaner haben sehr unmissverständlich die Regierung Netanjahu für dieses Scheitern verantwortlich gemacht. Als Reaktion darauf hat es eine Regierung der nationalen Einheit gegeben auf palästinensischer Ebene zwischen Vertretern der Hamas und Vertretern der palästinensischen Autonomiebehörde. Das war aus israelischer Sicht nicht akzeptabel. Und in dem Moment, wo die drei israelischen Jugendlichen entführt und dann ermordet wurden, hat man vonseiten der israelischen Regierung sofort die Hamas dafür verantwortlich gemacht, obwohl selbst israelische Militärstrategen sagen, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass die Führung der Hamas den Auftrag für diese Aktion gegeben habe.
    Nichts desto Trotz: Das Feindbild stand fest. Hamas soll bekämpft werden. Und die Emotionen der israelischen Öffentlichkeit waren auch sehr, sehr massiv, wurden - so kritisieren viele - deswegen noch geschürt, weil die israelische Regierung von Anfang an wusste, dass die Entführten bereits ermordet worden waren, aber dieses Wissen tagelang zurückhielt, sodass der Sturm der Entrüstung auf israelischer Seite sehr groß war. Nun also ein Schlagabtausch mit der Hamas. Wer jetzt angefangen hat, wer nicht angefangen hat, ob die Raketen der einen Seite oder der anderen Seite schlimmer sind, darüber kann man streiten. Es ist unklug, dass die Hamas mit Raketenbeschuss reagiert, oder überhaupt Israel angreift auf diese Art und Weise. Es ist aus deren Sicht der Versuch zu zeigen, wir sind nicht unterzukriegen. Die palästinensische Zivilbevölkerung zahlt dafür einen furchtbaren Preis.
    Breker: Die Israelis wollen, dass der Raketenbeschuss aufhört. Wirklich aufhören würde er nur bei einer Bodenoffensive in Gaza. Wie wahrscheinlich ist denn die?
    Lüders: Das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist noch nicht gesprochen. Die amerikanische Regierung versucht, hinter den Kulissen die Israelis davon zu überzeugen, eine solche Bodenoffensive nicht durchzuführen. Sollte dieses geschehen, kann die Lage völlig außer Kontrolle geraten, denn es brennt an allen Enden und Ecken im Nahen Osten und ein Krieg im Gazastreifen mit Bodentruppen der Israelis würde zu Reaktionen führen auch der Nachbarstaaten, etwa von Ägypten, von Jordanien. Diesen Konflikt kann man nicht gebrauchen und eigentlich sollte auch der israelischen Regierung klar sein, dass die Hamas nicht mit Stumpf und Stiel auszurotten ist. Die Hamas ist eine Massenbewegung und ihre Radikalität, so sehr sie zu verurteilen ist, verdankt sich den furchtbaren Lebensbedingungen der Palästinenser, die hier in einem Freiluftgefängnis von israelischer Seite gehalten werden.
    Die Israelis argumentieren gerne, man habe sich zurückgezogen 2005, und zum Dank habe man Raketen geerntet. Aber diese Sichtweise unterschlägt den doch entscheidenden Hinweis, dass die israelische Armee nach wie vor den Gazastreifen wie einen Schraubstock umklammert hält. Kein Palästinenser kommt rein oder raus. Die Waren, die in den Gazastreifen kommen, werden von Israel kontrolliert. Es ist eine wirklich erbarmungswürdige Situation für die Palästinenser und diese Lebensbedingungen produzieren die Radikalität und das ist der Grund, warum die Hamas dort so stark ist. Wenn man das nicht will, muss man den Palästinensern eine Perspektive geben, Eigenstaatlichkeit, und genau dazu ist die Regierung unter Netanjahu nicht bereit. Sie glaubt, dass das gesamte Palästina, das gesamte Eretz Israel vom Mittelmeer bis zum Jordan-Fluss israelisch sei, und die palästinensische Realität wird irgendwie ignoriert.
    Nimmt Israel den Iran ins Visier?
    Breker: Sie haben es eben angedeutet, Herr Lüders: Der gesamte arabische Raum, der gesamte Nahe und Mittlere Osten setzt ja auf Gewalt zur Lösung von Konflikten. Ist das der gefürchtete Flächenbrand?
    Lüders: Ja, es steht kurz davor. Wenn jetzt die falschen Akteure die falschen Weichen stellen, dann weiß niemand mehr, was passiert. Wenn eine Bodenoffensive tatsächlich geschehen sollte - und man kann wirklich nur hoffen und fast schon beten, dass das nicht geschieht -, dann könnte eine Zündung für einen Mechanismus eingeleitet werden, die zum Beispiel dazu führt, dass die Hisbollah sich einschaltet, die dazu führt, dass andere Akteure zum Showdown sich anschicken. Es gibt islamische und jüdische Extremisten, die diesen Showdown wollen, und es spricht für sich, wenn der israelische Militärexperte Amir Oren heute in der Zeitung "Haaretz" die Besorgnis äußert. Das Dilemma für die Regierung Netanjahu ist, sie hat keine politische Exit-Option, und er befürchtet, damit die Regierung Netanjahu nun wirklich zeigt, dass sie erfolgreich gegen die Hamas vorgeht, dass sie diese Offensive so lange fortsetzt, bis am 20. Juli möglicherweise die Atomgespräche mit dem Iran scheitern, um dann noch einmal den Iran ins Visier zu nehmen. So die Auffassung von Amir Oren.
    Das muss so nicht kommen, aber es zeigt ganz klar, dass die israelische Regierung keinen Fahrplan hat für diese Krise. Die Menschen in Israel haben Angst, aber die Regierung in Tel Aviv verspricht den Israelis, mit militärischen Mitteln diese Probleme zu lösen, die aber einer politischen Lösung bedürfen, und die ist nicht in Sicht.
    Breker: Und vielleicht noch ganz kurz zum Schluss, Herr Lüders. Vermittler gibt es im Moment gar nicht?
    Lüders: Nun, theoretisch könnten die Amerikaner dieses leisten, aber die Regierung in Israel hat die Vermittlungsversuche der Regierung Obama zurückgewiesen. Die Ägypter haben zwar ebenfalls Vermittlungsbemühungen angedeutet, aber doch eher halbherzig. Die ägyptische Generalität, die ja die Muslim-Brüder gerade von der Macht geputscht hat, ist natürlich gegen die Hamas eingestellt, die eng verbündet war mit den Muslim-Brüdern in Ägypten, und sieht mit großer Schadenfreude, dass die Israelis jetzt einen ihrer Gegner zu pulverisieren versuchen. Insofern Vermittlung von außen wohl eher nicht, aber wenn die Lage weiter eskaliert, wird es diese geben müssen, wird man auch die israelische Regierung in die Pflicht nehmen müssen. Mit Appellen allein wird man diesen Konflikt nicht enden können.
    Breker: Im Deutschlandfunk der Nahost-Experte Michael Lüders. Danke für dieses Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.