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Gewalt in Nahost
Ist das die dritte Intifada?

Die jüngsten Zusammenstöße zwischen Israelis und Palästinensern lassen die Sorge vor einer neuen Intifada, eines neuen Palästinenseraufstandes, aufkommen. Israelische Medien spekulieren, ob eine neue Intifada nicht schon längst begonnen hat.

Von Christian Wagner |
    Ein palästinensischer Jugendlicher wirft einen Stein.
    Zunehmende Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern - ein Zeichen für eine neue Intifada? (AFP / Ahmad Gharabli)
    Pressekonferenz der israelischen Regierung in Jerusalem: Krisenstimmung, nach zwei Tagen anhaltender Messer-Attacken auf Israelis, nicht nur in Jerusalem, sondern auch in Städten im Kernland, die sich sonst weit weg von der inzwischen alltäglichen Gewalt wähnen: Tel Aviv, Petah Tikva, Kiryat Gat.
    Ministerpräsident Netanjahu hat die Minister für Verteidigung und Innere Sicherheit mitgebracht, und auch den Generalstabschef der Armee. Netanjahu sagt, unter anderem werde die Armee in palästinensische Städte gehen, um Terrorpläne zu vereiteln und zur Abschreckung palästinensische Wohnhäuser zerstören, in denen die Familien von Attentätern leben. Aber das erscheint den israelischen Journalisten an diesem Abend als zu wenig:
    "Herr Ministerpräsident, abgesehen von ihrer Entschlossenheit: Können Sie uns sagen, ob wir mit einer Militäroperation im Westjordanland rechnen müssen, wie bei der Operation Schutzwall während der zweiten Intifada? Stehen wir vor der Einberufung von Reservisten?"
    Eine qualitativ andere Intifada als die bisherigen?
    Die Erwartung ist groß, dass es eine militärische Antwort geben muss. Aber Netanjahu muss feststellen: Diesmal liegen die Dinge anders als beim Aufstand der Palästinenser in den 80er Jahren, der ersten Intifada, und anders als im Jahr 2000, zu Beginn der zweiten.
    "Warum sind wir mit der Operation Schutzwall reingegangen? Weil es in den palästinensischen Städten organisierte Gruppen gab. Diese Netzwerke gibt es heute nicht. Es ist eine neue Art des Terrors", so der israelische Ministerpräsident.
    Also eine dritte Intifada? Noch dazu ein neuartiger Aufstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzung im Westjordanland und die Diskriminierung in Israel? Seit Monaten wird über den Begriff der dritten Intifada diskutiert, in den israelischen und den palästinensischen Medien. Mal ist von der "stillen Intifada" der Einzeltäter die Rede. Mal schreibt etwa die Tageszeitung Haaretz, die Intifada habe womöglich längst begonnen, und zwar schon im Sommer 2014. Da waren drei israelische Jugendliche im Westjordanland verschleppt und entführt worden, jüdische Siedler ermordeten einen jungen Palästinenser in Jerusalem. Es gab blutige Krawalle in Jerusalem.
    Messerattacken häufen sich
    Jetzt sind es Messerattacken, vier, fünf, sechs am Tag. In einem Fall nimmt ein 19 Jahre alter Palästinenser, ein Bauarbeiter, einen Schraubenzieher und sticht auf eine Soldatin und drei weitere Passanten ein. Auf der Flucht wird er von einem Soldaten erschossen. Verteidigungsminister Yaalon deutet das als Zeichen der Schwäche:
    "Messer und Molotowcocktails, zu dieser Art von Kampf kommt es, weil es die Palästinenser nicht schaffen, die Terrorbasis zu aktivieren, wie sie es vor zehn Jahren noch getan haben. Wenn wir dagegen die Armee einsetzen wollen, dann können wir das jederzeit tun. Aber im Moment sind vor allem Wachsamkeit und Entschlossenheit gefordert. Wir müssen auf jeden lokalen Angriff schnell reagieren und den Attentäter noch am Tatort liquidieren. Das ist die Antwort auf diese Art des Terrors."
    Für die Frage nach den Motiven der Attentäter ist kein Platz. Bei Terror steht in Israel fest: Es ist Hass auf Juden.
    An der Universität von Birzeit, im von Israel besetzten Westjordanland, versucht der Anthropologe Ala Alasseh zu erklären, warum junge Palästinenser zu Waffen greifen und Israelis attackieren, wobei sie damit rechnen müssen, erschossen zu werden:
    "Es ist das Gefühl, dass Palästinenser doch in der Lage sind, etwas zu verändern. Und Veränderung erreichen sie durch handeln. Sie wollen nicht mehr auf die politische Führung oder die Weltgemeinschaft warten. Dieses Gefühl, etwas verändern zu können, ist sehr groß in der jungen Bevölkerung."
    Erwartungen der Palästinenser nicht erfüllt
    Dass es in der palästinensischen Jugend gärt, bestätigt auch der ehemalige israelische Luftwaffen-General Amos Yadlin. Er leitet heute das Institut für Nationale Sicherheitsstudien der Universität Tel Aviv.
    "Weder die Hamas noch die palästinensische Autonomiebehörde haben die Erwartungen der Palästinenser erfüllen können. Deshalb hat die politische Führung keinen Einfluss mehr auf die junge Generation, die hinter dieser Terrorwelle und hinter den Unruhen steht. Aufwiegelung und Hetze mögen eine Rolle spielen. Aber entscheidend ist die politische Krise, die wirtschaftliche und soziale Not der Palästinenser und die Einsicht, dass es keine Hoffnung oder Perspektive gibt.
    Der palästinensische Anthropologe Ala Alasseh glaubt, dass die israelische Politik sich damit einfach nicht auseinandersetzen will:
    "Das ist der einfachste Weg für sie, wenn sie über Palästinenser als eine Bande verrückter, religiöser Fundamentalisten gesprochen wird. Dann werden sie sagen, wir sitzen im gleichen Boot wie der liberale Westen, der sich gegen religiösen Fundamentalismus wehrt. So wollen sie es. Aber jedem ist bewusst, dass es eher eine Frage von Unterdrückung ist, und keine Frage von religiösen Gefühlen."
    In der Haaretz sind in dieser Woche schon die ökonomischen Folgen einer Intifada ein Thema. Die Zeitung warnt, ein neuer Aufstand der Palästinenser könnte die israelischen Unternehmen hart treffen.