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Gewalt und Polizeiwillkür

Mexiko gilt als Drogenumschlagplatz Nummer eins. Mit Hilfe des Militärs möchte Präsident Calderón die Drogenkartelle im Land zerschlagen. Doch stattdessen terrorisiert das Militär die Bevölkerung mit Folter und Vergewaltigungen. Eine lange Reihe von Menschenrechtsverletzungen liegen dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte vor.

Von Peter B. Schumann |
    "Vor wenigen Augenblicken haben die Behörden die Entführung von Diego Fernández Cevallos bestätigt. Er war 1994 Präsidentschaftskandidat."

    Die Nachricht erschütterte die politische Klasse Mexikos. Denn Fernández Cevallos ist einer der einflussreichsten Politiker der rechtskonservativen Regierungspartei PAN. Er gilt aber auch als einer ihrer umstrittensten Vertreter. Seine Entführung war vor zwei Wochen der Höhepunkt einer neuen Welle von Gewalt, bei der 18 Personen starben, unter ihnen ein weiteres Mitglied der PAN.

    "Heute Morgen wurde der Kandidat für das Bürgermeisteramt in Valle Hermosa, José Mario Guajardo Varela, in seinem Landwirtschaftsbetrieb erschossen. Nach neuesten Erkenntnissen ermordeten drei Killer nicht nur ihn, sondern auch seinen 21-jährigen Sohn und einen Arbeiter."

    Damit erhöht sich schon wieder die Zahl der Toten im Anti-Drogen-Krieg der Regierung. Diese hat erst vor Kurzem eine neue Ziffer bekannt gegeben: 22.743 seit Beginn der verschärften Politik. Das war im Dezember 2006. Präsident Calderón trat damals sein Amt an und erklärte:

    "Die Kriminellen glauben angesichts ihres immensen Waffenarsenals, ungestraft über ganze Gebiete, Städte oder Regionen unseres Landes ihre Macht ausüben zu können. Deshalb müssen wir Strategien entwickeln, die es dem mexikanischen Staat erlauben, die Kontrolle über die von den Gangsterbanden verheerten Bereiche zurückzugewinnen."

    Mexiko hat sich innerhalb weniger Jahre zum wichtigsten Umschlagplatz für den Drogenschmuggel in die USA entwickelt, wo einer der größten Absatzmärkte der Welt existiert. Das mexikanische Geschäft haben fünf große Kartelle unter sich aufgeteilt. Sie operieren in mehr als der Hälfte der Bundesstaaten, und für sie sollen rund 450.000 Personen tätig sein - eine Zahl, die der Verteidigungsminister, General Galván, jüngst bekannt gab.

    Die Drogenbarone terrorisieren mit ihren Gewalttaten die Bevölkerung und verunsichern ganze Regionen. Dieses kriminelle Krebsgeschwür zu beseitigen - darin suchte Präsident Calderón seine Legitimation, die er bei den dubiosen Wahlen im Sommer 2006 nicht gefunden hatte. Er vervielfachte in den Konfliktgebieten die Truppenstärke des Militärs, das jetzt vielerorts die Aufgabe des von der Mafia unterwanderten Polizeiapparats wahrnimmt. Doch Calderón erlebte ein Fiasko. Javier Corral, ehemaliger Parlamentsabgeordneter der PAN, beschreibt es rückblickend so:

    "Wir bewegen uns nicht nur von Niederlage zu Niederlage, sondern auch von Machtmissbrauch zu Machtmissbrauch. Dabei missachten die Militärs häufig die Menschenrechte. Sie erfüllen jetzt eine Aufgabe, die nicht die ihre ist und für die sie nicht ausgebildet sind, und geraten dabei immer öfter in Versuchung, das politische Mandat, das sie für die Bekämpfung der Kriminalität erhalten haben, zu missbrauchen. Man hat sie auf die Straße geschickt: Doch wie kriegt man sie jetzt wieder in die Kaserne?"

    Der spektakuläre Einsatz von inzwischen rund 45.000 Soldaten ließ die Zahl der Getöteten alarmierend steigen.

    2006 - noch war Präsident Fox im Amt: 62 Tote.

    2007 - im ersten Jahr des Militäreinsatzes der Regierung Calderón: 2837.

    2008 - mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr: 6844.

    2009 - eine weitere Steigerung und Verdreifachung gegenüber 2007: 9635.

    2010 - in den ersten vier Monaten bereits 3365 Ermordete, was einen neuen Jahresrekord befürchten lässt.

    Es darf zwar davon ausgegangen werden, dass die meisten Toten dem Machtkampf unter den Drogenkartellen zuzuschreiben sind. Aber die Zahl unschuldiger Opfer unter der Bevölkerung ist ebenfalls gestiegen, wenn auch eine zuverlässige Statistik bisher fehlt. Und es häufen sich die Beschwerden über Amtsmissbrauch und Verletzung von Menschenrechten durch das Militär.

    Ein besonders tragisches Ereignis geschah im April in Matamorros, im Nordosten Mexikos, an einer der zahllosen Straßenkontrollen. Ana Lilia Pérez, Reporterin des investigativen Wochenmagazins "Contralinea":

    "Eine Familie fuhr mit ihren vier Kindern am Ostersamstag zum Strand. An einem Kontrollpunkt, den sie langsam durchquerten, schoss plötzlich die Armee von hinten auf den Wagen, tötete das fünf- und das neunjährige Kind und verletzte die übrigen Familienmitglieder. Die Armee begründete dies zunächst damit, dass sie nicht angehalten hätten. Das bestritt jedoch der Vater, der den Wagen lenkte. Seit letztem Jahr mehren sich solche Verbrechen der Armee an Kontrollpunkten."

    Präsident Calderón hat den Streitkräften eine Art Freibrief ausgestellt, als er ihnen den Auftrag erteilte …
    "… alles zu unternehmen, um das organisierte Verbrechen zu beseitigen"."

    Seither macht die Armee oft bedenkenlos von ihren Waffen Gebrauch, zumal sie bisher nicht mit einer Verfolgung ihrer Straftaten zu rechnen hatte, auch nicht in diesem Fall. Für Innenminister Gómez Mont war er sowieso nur …

    " "… ein Kollateralschaden im notwendigen Kampf gegen die Drogenmafia"."

    Das offizielle Kommuniqué verbreitete nach fünf Tagen des Schweigens der Regierung eine Erklärung, die den Fakten völlig widersprach.

    " "Die Militärführung der achten Militärzone teilt mit: Der Kontrollposten wurde von einer Gruppe bewaffneter Krimineller angegriffen und von den Angehörigen der Armee erfolgreich verteidigt. Im Verlauf dieser Schusswechsel wurden die beiden Kinder bedauerlicherweise getötet."

    Unabhängigen Beobachtern, Familienangehörigen oder gar der Presse wurde der Zugang zum Tatort verwehrt. Auch darf der zivile Justizapparat bislang keine Nachforschungen über das Militär durchführen. Deshalb versuchen Organisationen der Zivilgesellschaft mit Hilfe von ihnen ernannter Verteidiger der Menschenrechte den staatlichen Terror aufzuklären. Zu ihnen gehört Silvia Vázquez Camacho aus Tijuana, im Nordwesten Mexikos.

    "Das Militär, das sie hierher, in den Bundesstaat Baja California geschickt haben, foltert. Einer ihrer Chefs hat ein 16-jähriges Mädchen vergewaltigt. Auch andere Militärs konnten wir als Vergewaltiger ausfindig machen. Die Armeeangehörigen gehen völlig willkürlich vor und verüben straflos jede Form von Gewalttaten unter dem Vorwand, Informationen zu sammeln. Einer ihrer Standardsätze lautet: 'Ich foltere dich, wenn du mir nicht die Namen deiner Freunde, deiner Angehörigen sagst.'"

    Präsident Calderón hat in seinem Anti-Drogen-Kampf die Polizei durch das Militär ersetzt. Doch die Armeeangehörigen verfolgen nicht nur die Drogenbanden, die Narcos, mit begrenztem Erfolg. Bei ihrer Suche nach den wirklichen Verbrechern verdächtigen sie oft auch die Bevölkerung und besonders die Verteidiger der Menschenrechte der Zivilgesellschaft. Silvia Vázquez Camacho.

    "Der Kampf des Militärs gegen den Drogenhandel hat die Schleusen geöffnet: Nun werden wir direkt angegriffen. Früher geschah das eher versteckt, denn die staatlichen Organe haben sich gehütet, öffentlich in Erscheinung zu treten. Jetzt brechen sie sogar in die Wohnung ein, schleppen einen weg, und jeder kriegt das mit."

    Die Methoden der Militärs gleichen immer öfter denen der Mafia, die sie beseitigen sollen. Deshalb fürchtet die Bevölkerung den meist martialischen Aufmarsch der Armee inzwischen genauso wie Aktionen des organisierten Verbrechens. Und wer militärische Vergehen veröffentlicht, wird verfolgt - wie Silvia Vázquez Camacho, die einen Beitrag für die einflussreiche Wochenzeitschrift "Proceso" schrieb.

    "Sie riefen an und drohten, mich zu töten, wenn ich meine Publikationen nicht einstellte. Ich habe aber weiter gearbeitet, und die Medien haben weiter darüber berichtet. Da warfen sie einen Molotowcocktail auf das Auto meiner Familie. Ich habe daraufhin um staatlichen Schutz gebeten, der mir als anerkannte Verteidigerin der Menschenrechte zusteht. Nun wurde ich auf meinen Fahrten ständig von Pkw verfolgt, die mich mehrfach von der Straße abzudrängen versuchten. Pkw standen nachts vor meiner Wohnung und vor der meiner Mutter. Die Regierung versprach zwar Schutz, aber den habe ich nie erhalten. Das war vielleicht auch besser, denn die dafür zuständige Einheit wird von dem Mann befehligt, den ich angezeigt habe: dem Sicherheitschef der Gemeinde, der entscheidet, ob wir beschützt oder verfolgt werden."

    107 Fälle der Bedrohung von Verteidigern der Menschenrechte durch staatliche Organe sind seit dem Amtsantritt der Regierung Calderón festgehalten worden. Doch nicht nur Menschenrechtler und ihre Organisationen werden zunehmend kriminalisiert. Auch viele soziale Bewegungen werden verdächtigt, den Kampf gegen das organisierte Verbrechen zu behindern, wenn sie Akte von Staatsterror aufdecken, sie nicht als Kollateralschäden hinnehmen und sich auch nicht mit der Straflosigkeit für Staatsorgane abfinden. Besonders hart betroffen sind Indio-Gemeinden, beispielsweise im Bundesstaat Guerrero, im Südwesten Mexikos. Cuauhtemoc Rodríguez Ramírez von der indigenen Organisation MEPHAA:

    "Die Armee behauptet immer, sie würde den Drogenhandel bekämpfen. Aber im Gebiet meiner Gemeinde wird nichts Verbotenes angebaut, allenfalls eine unbedeutende Menge. Der Anbau findet in den Bergen statt. Trotzdem suchen sie bei uns nach Waffen und Sprengstoff. Deshalb glauben wir, dass die Armee eine ganz andere Aufgabe erfüllt: Sie soll soziale Proteste und Aufstände verhindern. Bei uns gibt es seit langem Guerilla-Gruppen, mit denen sie unsere Vereinigung immer wieder in Verbindung bringen. Und nicht nur uns, sondern die vielen sozialen Organisationen in Guerrero."

    Vor einem Jahr wurden die beiden Vorsitzenden einer indigenen Gruppierung bei der Einweihungsfeier einer neuen Schule in aller Öffentlichkeit von drei maskierten Typen verhaftet. Aber die Sicherheitsorgane wussten offiziell von nichts. Tage später fand man die Leichen von Raúl Lucas und Manuel Ponce in einem Straßengraben. Sie waren gefoltert, der eine danach erschossen, der andere erschlagen worden. Beide waren die Hauptzeugen der Anklage von Militärs, die mehrere Frauen vergewaltigt hatten.

    "Die Stimme gegen Ungerechtigkeit und Verbrechen zu erheben, das bedeutet für die Anführer der Indios, ins Blickfeld dunkler Kräfte des Staates zu geraten und automatisch, ohne jeden Beweis, zur Zielscheibe von Überwachungen, Anfeindungen und Gewaltakten der Armee zu werden."

    So Abel Barrera Hernández, der Direktor des Zentrums für Menschenrechte in Tlachinollan. Von der Kriminalisierung indigener Organisationen wird kaum eine Gruppe ausgespart. Cuauhtemoc Rodríguez Ramírez von der Gruppe MEEPHAA:

    "Leute in der Gemeinde La Montaña wurden ebenfalls verhaftet, einer von ihnen gleich zweimal in einem Jahr, wegen irgendeiner Nichtigkeit. Die Vertreter von Tierra y Libertad sind noch immer eingesperrt: Sie sollen jemanden entführt haben, ohne dass es dafür irgendeinen Beweis gäbe. Viele unserer Umweltschützer werden verfolgt, und einige wurden auch ermordet. Oppositionellen Lehrern ist es ähnlich ergangen. Es gibt wirklich eine offizielle Strategie gegen jede Form von Protest, um die sozialen Bewegungen und die Menschenrechtler zu kriminalisieren."

    Eine lange Reihe von Menschenrechtsverletzungen durch das Militär, darunter viele Vergewaltigungen von Frauen, liegen dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica vor. Internationale Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch haben sich verschiedener Fälle angenommen. Und auch die Vereinten Nationen sind bereits aktiv geworden. Eine Delegation des Hochkommissariats für Menschenrechte hat Mexiko besucht und danach festgestellt:

    "Wir drücken hiermit unsere größte Besorgnis aus über die Bedingungen, unter denen die Verteidiger der Menschenrechte ihre Arbeit ausüben müssen, besonders an der Costa Chica und der Costa Grande sowie in La Montaña des Bundesstaates Guerrero."

    Davon unbeeindruckt nutzt die Regierung weiterhin den Kampf gegen die Drogenmafia zur Bekämpfung all jener Kräfte, die ihre Politik und vor allem ihre Vergehen kritisieren. Dabei hätte sie eigentlich alle Hände voll zu tun, um mit ihrer 45.000 Mann-Armee die Narcos zu schlagen. Stattdessen macht sie bei ihrem Anti-Drogen-Krieg auffällige Unterschiede zwischen den Verbrecherorganisationen. Miguel Badillo, Herausgeber von "Contralínea":

    "Während der letzten PAN-Regierung war es bereits offensichtlich, dass eines der Kartelle, das von Sinaloa, von der Verfolgung weitgehend ausgenommen wurde. Die Regierung Calderón hat diese Taktik fortgesetzt und begünstigt diese Organisation geradezu: man hat nichts konfisziert und keinen einzigen Drogenboss festgenommen. Gegenwärtig werden sogar einige Spitzenfunktionäre mit dem Kartell in Verbindung gebracht, höchste Beamte aus dem unmittelbaren Umfeld von Calderón."

    Diese Erkenntnis hat Anfang dieser Woche der angesehene US-amerikanische Rundfunksender NPR (National Public Radio) in einer Dokumentation ausführlich belegt und dann zusammengefasst:

    "Die USA zahlen Mexiko 1,4 Milliarden Dollar an polizeilicher und militärischer Hilfe, um den Kampf gegen die Drogen-Mafia zu unterstützen. Aber Recherchen von NPR haben ergeben, dass der Kampf manipuliert ist. Armee und Bundespolizei begünstigen Mexikos ältestes und mächtigstes Drogenkartell von Sinaloa."

    Die Regierung Calderón hat das zwar sofort pauschal bestritten, aber die mexikanischen Medien hatten längst detaillierte Zitate aus der Sendung publiziert. Es war für sie eine Gelegenheit, mit den Informationen aus einer politisch unverdächtigen Quelle in den USA auf diese skandalöse Beziehung hinzuweisen. Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen ist die Regierung auch nicht bereit, andere Optionen zu prüfen wie zum Beispiel den Vorschlag der Liberalisierung des Drogenkonsums, den erst vor wenigen Wochen drei ehemalige lateinamerikanische Präsidenten in die Diskussion gebracht haben. Und sie hat bisher auch keine erkennbaren Anstrengungen unternommen, das finanzielle Netz und damit die materielle Basis der Mafia anzugreifen. Miguel Badillo:

    "Die mexikanischen Finanzinstitute wie Börsen, Wechselbüros, Banken, Handelshäuser und auch den Tourismus interessiert es nicht, woher das Geld kommt. Sie respektieren weder die mexikanischen noch die internationalen Gesetze. Die Regierung besitzt aber eine Fülle von Bankinformationen über den Verlauf dieser Finanzströme, nur macht sie absolut nichts dagegen. Das Geld geht eben nicht nur an Kriminelle, sondern auch an Politiker. Dieses schmutzige Geld hat wahrscheinlich sogar die Staatsfinanzen gerettet. Spezialisten sprechen von einem Volumen von 30 oder 40 Milliarden Dollar. Wissenschaftler halten sogar 100 Milliarden Dollar jährlich für möglich."

    Der Kampf gegen das organisierte Verbrechen, der Präsident Calderón die fehlende Legitimität verschaffen sollte, wird für Mexiko immer mehr zum Desaster. Zwar wurden zahlreiche Narcos verhaftet und sogar verurteilt und Hunderte von Kilos an Drogen vernichtet. Doch die Operationsbasis von keinem einzigen der Kartelle wurde ernsthaft gefährdet: sie morden weiter und korrumpieren wie bisher Polizisten, Militärs und Politiker auf allen Ebenen. Und die Staatsorgane verüben neue Verbrechen und gehen - nahezu ungestraft - brutal gegen Menschen und ihre Rechte vor. Nun hat Anfang der Woche die Europäische Union mit Mexiko ein Kooperationsabkommen geschlossen, in dem es heißt:

    "Beide Seiten begrüßen die Aufnahme eines regelmäßigen Dialogs auf hohem Niveau über Fragen der Menschenrechte, durch den sie die Gelegenheit erhalten, das Gespräch über ihre Erfahrungen und entsprechenden Herausforderungen auf diesem Gebiet zu vertiefen."

    Die Europäer dürfen gespannt sein, welche Erfahrungen die Mexikaner in diesen Dialog einbringen.