Gewalt und Aggressivität sind für Henning Saß ein ubiquitäres Phänomen - ein Bestandteil aller menschlichen Gesellschaften.
"Es ist manchmal ritualisiert in Spielen, in Kampfspielen, im Sport. Aber sich mit Kraft durchsetzen, wütend sein, aggressiv sein, auch Rachegefühle zu haben, ist eine ganz normal-psychologische menschliche Eigenschaft.
Leider ist es so, dass im Rahmen psychischer Erkrankungen da Störungen in der Regulation solcher aggressiver Regungen auftreten können. Wir haben deshalb bei psychischen Erkrankungen gelegentlich Fälle, keineswegs bei allen, bei denen das Problem von Disposition zu Gewaltanwendung besteht."
Ein 50-Jähriger erschlägt seine Mutter, mit der er im selben Haus lebt und im Familienbetrieb arbeitet. Ist er psychisch krank, schuldfähig oder nicht? Diese Fragen beschäftigen forensische Psychiater wie Professor Henning Saß, die medizinische Gutachten etwa im Rahmen eines Prozesses erstellen, auch in Fällen wie der NSU-Mordserie und des Messer-Angriffs auf Henriette Reker einen Tag vor ihrer Wahl zur Kölner Oberbürgermeisterin. Oder im Fall des Co-Piloten, der im März 2015 eine Germanwings-Maschine in den französischen Alpen zum Absturz brachte, wobei er und weitere 149 Menschen ums Leben kamen. Die Ermittler gehen bei der Tat von einem erweiterten Suizid aus.
Voreilige Stigmatisierung
Weil dieses Handeln so schwer nachvollziehbar sei, würden die Täter oft voreilig als psychisch krank bezeichnet – und stigmatisiert. Dabei stünden radikale Taten nur selten im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung. Für diese Fälle macht der Forensik-Experte drei unterschiedliche Ursachen aus:
"Eines ist, dass es im Rahmen einer psychischen Erkrankung möglicherweise zu einer Steigerung des habituell bei jedem Menschen vorhandenen Aggressionsbereitschaft kommt, dass er also in Zeiten der Verstimmung aggressiver, gereizter, hostiler, feindseliger ist als sonst. Das andere ist, dass es zu Fehlwahrnehmungen, zu Fehlinterpretationen der Umgebung kommt, etwa, dass man sich verfolgt, beeinträchtigt, befeindet fühlt von anderen und darauf dann reaktiv aggressiv reagiert aus Fehlinterpretation der Realität heraus."
Außerdem könne es zu einem verminderten Steuerungsvermögen kommen. Die aggressiven Impulse, mit denen man in gesunden Zeiten gut umgehen könne, seien dann nicht mehr kontrollierbar.
Heute bewertet die Forschung den Zusammenhang von Gewalt und psychischen Erkrankungen anders als noch vor wenigen Jahrzehnten. 1973 hatte eine Studie die Häufigkeit gewalttätiger Delikte in der Bevölkerung mit der unter psychisch Kranken verglichen – und keine wesentlichen Unterschiede gefunden. Neuere Untersuchungen aus Skandinavien kommen zu anderen Ergebnissen. Sie verknüpfen landesweit psychiatrische Fallregister mit den polizeilich und gerichtlich festgestellten Gewaltdelikten:
"Und da zeigt sich, leider muss man sagen, dass eben doch das Risiko für Violence, für Gewaltanwendung bei psychischen Erkrankungen erhöht ist, ganz leicht nur, aber immerhin, es lässt sich zeigen. Und dass es bestimmte Störungen gibt, bei denen es deutlicher erhöht ist. Dazu gehören vor allem sogenannte psychotische Erkrankungen und körperlich begründbare Psychosen und Suchterkrankungen. Vor allem wenn eine psychotische Störung und Sucht miteinander kombiniert sind."
Psychosen wie schizophrene oder bipolare Störungen - Letztere früher als manisch-depressive Erkrankung bezeichnet - sind mit einem erhöhten Risiko für Gewalthandlungen verbunden, depressive Erkrankungen gehen dagegen mit einem geringeren Risiko einher.
Ein politisch-soziologisches Phänomen
Auch terroristische Akte lassen sich nicht in erster Linie als psychiatrisch-medizinisches Problem erklären, betonen die Fachleute. Vielmehr stellten sie ein politisches und soziologisches Phänomen dar, dessen Ursachen noch nicht ausreichend erforscht seien. Nahlah Saimeh, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, erzählt, warum Menschen sich terroristischen Gruppierungen wie dem sogenannten "Islamischen Staat" anschließen:
"Es gibt eine kleine Gruppe schizophrener Menschen, die sich radikalisieren und die politisch-ideologische Gedanken in ihre Wahngebilde einbauen und daraus handlungsfähig werden. Dann gibt es die große Gruppe dissozialer, also ohnehin gewaltbereiter, kriminell sozialisierter Menschen, für die terroristische Ideologien ein unglaublicher Rechtfertigungsgrund für schwere Gewalttätigkeit ist. Und dann gibt es Menschen, die eigentlich nicht gewalttätig sind, die sich aber im politischen Kontext radikalisieren lassen."
Zu der ersten, der kleinen Gruppe jener, die aufgrund einer Schizophrenie Terrorakte planen und begehen, zählen Menschen, die Stimmen hören, Wahn-Gedanken haben, sich von der Realität lösen und sich stark in ihrer Persönlichkeit verändert haben, sagt die Ärztliche Direktorin im LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt.
Selbsttötung mit Bedeutung
Es gebe aber auch Menschen, die zu einem Selbstmordattentat bereit sind, weil sie nicht am Leben hängen. Indem sie sich einem Kampf widmen, laden sie die Selbsttötung mit Bedeutung auf. Es greife zu kurz, hier von psychischer Erkrankung zu sprechen, betont die Ärztin. Vielmehr spielten unterschiedliche psychische Verhaltensbereitschaften und Persönlichkeitsstile eine Rolle – etwa die dissoziale, die narzisstische oder eine Borderline-Persönlichkeitsstruktur. Oder Persönlichkeitsstörungen wie stereotypes Verhalten und ein durchgehend eingeschränktes Selbstwertgefühl.
Klar davon zu unterscheiden ist für Saimeh die zweite Gruppe derer,
"die primär schon als junge Männer auch anders gewalttätig aufgefallen sind, die schon anders kriminell aufgefallen sind, die eine hohe Affinität haben zu Waffen, zu gewalttätigen Lösungen persönlicher Konflikte. Und für die Radikalisierung die Möglichkeit ist, vom gesellschaftlichen Outlaw in einer Zivilgesellschaft zu einer Führungsriege, zu einer Elite zu gehören – oder sich das zumindest einzureden. Und die natürlich gerade, denken Sie an solche Terrorcamps, ein Dorado finden, um ihre Gewaltaffinität auszuleben und einen völligen Tabubruch zu begehen – und zwar ohne dafür bestraft zu werden, sondern dafür anerkannt zu werden."
Jeder kann sich radikalisieren
Auch psychisch Gesunde können sich radikalisieren. Auslösendes Moment ist etwa eine Lebenskrise. Diese Menschen sind Gewalt nicht von vorneherein zugeneigt, sagt Saimeh, sondern geraten in eine schwierige, als ungerecht empfundene Lebenssituation. Das macht sie empfänglich für radikale Ideologien. Wer im Leben orientierungslos, unzufrieden und ängstlich sei, erlebe dies als richtungsweisend.
"Radikalisierung reduziert Komplexität. Radikalisierung macht die Welt einfach und (... ) verspricht unglaublich einfache Lösungen, während unsere Welt so kompliziert ist, dass wir ständig in Widersprüchen leben müssen. Und wir müssen diese Widersprüche aushalten und wir müssen gegensätzliche Positionen in unser Denken integrieren. In der öffentlichen Diskussion gibt es immer so eine Entweder-oder-Diskussion: Bin ich für Ausländer, bin ich gegen Ausländer. ( ... ) Das ist natürlich alles Quatsch. Die Wahrheit liegt in der Überlappung verschiedener vermeintlich sogar entgegengesetzter Positionen und Überlegungen."
In terroristischen, radikalen Organisationen treffen Menschen mit unterschiedlichsten Motiven aufeinander. Auch jemand, der an einer schizophrenen Psychose erkrankt ist, könne rechtsradikales Gedankengut in sein Wahn-Erleben einbauen, erzählt die Psychiaterin. Ein dissozialer, gewaltbereiter Mensch sei hierzulande genauso für nationalistische Ideologien anfällig, wie in einem anderen Kulturkreis für die Positionen des IS. Andere wiederum orientierten sich an hypermaskulinen Rollenstereotypen, so Saimeh – dem Bild des unerschrockenen, rücksichtslosen Kämpfers.
Wie aber präventiv handeln? Die Bevölkerung müsse stärker über die möglichen Hintergründe von Gewalt, Radikalisierung und Terrorakten aufgeklärt werden, fordern die Experten. Nailah Saimeh hält eine umfassende politische Bildung, intensive Sozialarbeit sowie De-Radikalisierungs-Programme in den Jugendzentren und Gefängnissen für nötig, um die gesellschaftlichen Werte und Normen vermitteln.
Mehr Verständnis für psychische Erkrankungen
Für Henning Saß muss in der Gesellschaft mehr Verständnis dafür geweckt werden, dass es außer körperlichen auch psychische Erkrankungen gibt. Dann, so hofft er, werde der Gang zum Psychiater oder Psychotherapeuten nicht mehr aufgeschoben:
"Die Studien haben gezeigt, dass nicht erkannte oder unbehandelte oder nicht regelmäßig behandelte psychische Störungen am ehesten mit einem erhöhten Risiko für Gewaltanwendung einhergehen. Mit anderen Worten, es ist wichtig, früh zu diagnostizieren, früh in Behandlung zu gehen, die Behandlung (... ) mit guter Mitwirkung und Gleichmäßigkeit, Kontinuität durch zu halten.
Leider steht dem entgegen die sogenannte Stigmatisierung: Psychische Erkrankungen sind in der Gesellschaft immer noch stigmatisiert. Der Patient selbst, aber auch die Angehörigen scheuen sich zuweilen, zu der psychischen Erkrankung zu stehen."