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Gewalttat in London
"Es drängt sich der Eindruck auf, dass es kein Zufall ist"

Fünf Tote und 40 Verletzte: Das ist die Bilanz des Gewaltaktes in London. Der Terrorismus-Experte Markus Kaim sieht deutliche Parallelen zum Anschlag von Brüssel vor einem Jahr. Zwar seien die ideologischen Hintergründe noch unklar, dennoch dränge sich der Eindruck auf, dass es sich um einen Anschlag handele, sagte Kaim im DLF.

Markus Kaim im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 22.03.2017
    Sicherheitskräfte und Forensiker am Parlament in London nach dem Anschlag.
    Am 22.3.2017 kam es in Westminster, London, zu einem Anschlag mit fünf Toten und 40 Verletzten. Noch sind die Hintergründe unklar. (AFP / Daniel LEAL-OLIVAS)
    Dirk-Oliver Heckmann: Am Telefon ist jetzt Markus Kaim, der Terrorexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Schönen guten Abend, Herr Kaim.
    Markus Kaim: Schönen guten Abend, Herr Heckmann. Ich grüße Sie.
    Heckmann: Scotland Yard, auch die britische Regierung, alle gehen zum jetzigen Zeitpunkt davon aus, dass es sich um einen Terroranschlag gehandelt hat. Gibt es daran irgendeinen vernünftigen Zweifel, denn es könnte sich ja auch um eine Art Amoklauf gehandelt haben?
    Kaim: Wir wissen es natürlich nicht. Vor allen Dingen wissen wir es deshalb nicht, weil die Identität des Attentäters noch ungeklärt ist. Es ist ja gerade im Vorbericht angesprochen worden. Aber es gibt doch einige Indizien. Der Termin des Anschlages – wir haben heute den ersten Jahrestag der Anschläge in Brüssel vor einem Jahr. Es drängt sich, ganz vorsichtig formuliert, der Eindruck auf, dass es kein Zufall ist, dass wir genau zum Jahrestag diesen Anschlag in London zu verzeichnen haben. Und die Art des Anschlags kommt uns auch bekannt vor, weil es eine Zusammenstellung ist von den Anschlägen, die mit Autos durchgeführt worden sind im Auftrag des Islamischen Staates in Nizza und in Berlin, und auch der letzte Teil des Anschlages mit einem Messer auf einen Sicherheitsbeamten. Auch das kommt vor allen Dingen britischen Ohren bekannt vor, weil es sich doch tatsächlich anhängt an den Terroranschlag im Mai 2013. Vielleicht ist Ihnen und den Hörern das noch in Erinnerung, als ein einzelner Soldat von Islamisten in Großbritannien getötet worden ist. Zieht man all das zusammen, so drängt sich, ohne dass wir den ideologischen Hintergrund kennen, der Eindruck doch sehr deutlich auf.
    Heckmann: Sie würden auch sagen, dass wir es mit einem Terroranschlag zu tun gehabt haben. Und dieser Anschlag trägt auch eine Handschrift, die für islamistischen Terrorismus sprechen könnte?
    Kaim: In der Tat, und die britische Regierung oder die britischen Regierungen der vergangenen Jahre haben ja auch immer deutlich gemacht und kein Hehl daraus gemacht, dass sie den islamistischen Terrorismus als eine der Hauptbedrohungen für Großbritannien betrachten. Sowohl David Cameron als auch Theresa May haben bei diversen öffentlichen Veranstaltungen immer wieder darauf verwiesen, in welchem Umfang Großbritannien im Fadenkreuz des islamistischen Terrorismus steht. Es gilt an vielen Stellen Großbritanniens die zweite Terror-Warnstufe, vor allen Dingen an strategisch relevanten Orten, und Theresa May hat jüngst nach ihrem Amtsantritt auch noch mal deutlich gemacht, dass es keine Frage ist, ob es einen solchen Anschlag geben würde, sondern nur wann. Vor diesem Hintergrund gibt es, glaube ich, keinen Zweifel, dass auch Großbritannien sich selber als Zielpunkt des islamistischen Terrorismus definiert.
    "Man muss die Ermittlungen abwarten"
    Heckmann: Wie sehr waren Sie davon überrascht, dass es offenbar möglich ist, in den Innenhof des Parlaments vorzudringen?
    Kaim: In der Tat. Ich kenne die Details nicht, aber in der Tat, ich glaube, in vielen anderen Parlamenten der westlichen Welt wäre das so nicht möglich. Wir haben ja im Vergleich dazu Anschläge gehabt, ich denke an das kanadische Parlament, wo es einem Attentäter gelungen ist, bis an den Rand des Parlaments zu dringen, der dann aber erschossen worden ist. Hier scheint es mit den Sicherheitsvorkehrungen zumindest nicht so funktioniert zu haben, wie das ursprünglich geplant gewesen ist, wobei nach gegenwärtiger Informationslage ich mir nicht ganz sicher bin, inwiefern tatsächlich eigentlich der Anschlag den Passanten auf der Brücke gegolten hat und dann erst nach dem Ende dieser Amokfahrt der Attentäter dann noch zusätzlich in das Parlament eingedrungen ist, oder in welchem Maße dies der Hauptzielpunkt gewesen ist. Wäre dies das Hauptziel gewesen, dann wäre dieser Anschlag, glaube ich, vergleichsweise dilettantisch vorbereitet gewesen. Da muss man, glaube ich, die Ermittlungen auch mal abwarten.
    Heckmann: Herr Kaim, Sie haben gerade schon gesagt, Großbritannien steht im Visier islamistischer Terroristen, so wie jedes andere westliche Land auch. Aber die Frage ist, wie stark? Ist das vergleichbar mit allen anderen westlichen Ländern auch, oder ist die Gefahr in Großbritannien höher?
    Kaim: Sowohl als auch. Großbritannien beteiligt sich stärker als zum Beispiel die Bundesrepublik am Kampf gegen den islamischen Staat. 1250 britische Soldaten sind im Irak und in Syrien stationiert, bekämpfen den Islamischen Staat. Und Großbritannien ist nach den USA das Land, was die meisten Luftschläge gegen den Islamischen Staat geflogen hat in den vergangenen zwei Jahren, und ist somit auch hauptverantwortlich (neben den USA) für die Gebietsverluste des Islamischen Staates.
    Und im Umkehrschluss geht man, glaube ich, nicht fehl, daraus abzuleiten, dass Großbritannien in besonderer Art und Weise neben den USA auch ins Fadenkreuz des Islamischen Staates geraten ist. Wo es sich signifikant unterscheidet ist die Zahl der sogenannten "foreign fighters", derjenigen Kämpfer, die aus Großbritannien in den Irak und nach Syrien gegangen sind. Da ist die Zahl deutlich geringer als in anderen Ländern. Wir gehen davon aus, dass etwa 800 bis 850 Kämpfer britischer Herkunft nach Syrien und in den Irak gegangen sind. Das liegt deutlich hinter den Zahlen aus Belgien, deutlich hinter den Zahlen aus Frankreich, und die damit verbundene Rückkehrgefahr oder die Gefahr, die von Rückkehrern ausgeht, ist dementsprechend geringer zu bewerten. Also ein etwas gemischtes Bild.
    "Denjenigen bestärken, die auf eine nationale Souveränität in Fragen der Sicherheit verweisen"
    Heckmann: Wir haben aber einen schweren Anschlag heute wieder zu verzeichnen in Großbritannien. Wie wird das die politische Diskussion in den nächsten Wochen bestimmen?
    Kaim: Ich glaube, es ist ganz eindeutig. Das wird vor allen Dingen noch einmal die Frage auch des Verhältnisses zu Europa bestimmen, weil viele Fragen der europäischen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit betreffen Großbritannien und am 29. März wird Großbritannien ja seinen Antrag stellen, aus der Europäischen Union auszutreten. Und ich glaube, es wird denjenigen Oberwasser geben, die vor allen Dingen darauf verweisen, dass Europa und die europäische Zusammenarbeit in diesem Zusammenhang wenig Nutzen gebracht haben, und vor allen Dingen diejenigen bestärken, die auf eine nationale Souveränität in Fragen der Sicherheit verweisen. Unklar scheint mir die Frage, das ist, glaube ich, einfach zu früh, ob es eine weitere Polarisierung innerhalb von Großbritannien zwischen Briten und ausländischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern geben wird. Da muss man einfach mal abwarten, wie die Identität des Attentäters denn jetzt wirklich nachgewiesen werden kann beziehungsweise bis die überhaupt erst mal geprüft wird.
    Heckmann: Markus Kaim war das von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ganz herzlichen Dank für diese Einordnungen zu später Stunde, Herr Kaim, und schönen Abend.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.