Immer wieder dröhnen Flugzeuge im Landeanflug auf den nahegelegenen Hamburger Flughafen über einen Gewerbepark mit freundlich wirkenden, gelb geklinkerten Gebäuden. Hier sitzt die Medizinprodukte-Firma IBL. Einhundert Beschäftigte stellen hier Immuntests her – eine hochqualifizierte Tätigkeit unter strengen gesetzlichen Rahmenbedingungen, allerdings bisher ohne Tarifvertrag.
Das soll sich bald ändern, zumindest wenn es nach dem Willen eines großen Teils der Belegschaft geht. An diesem späten Vormittag war Daniel Maestro im Betrieb und hat mit IBL-Mitarbeitern gesprochen. Der 32-jährige ist als Sekretär der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie – IG BCE – zuständig für die Firma. Auf seinem Rückweg zur U-Bahn-Station direkt neben dem Gewerbepark erzählt er von seinem Auftritt.
"Wir haben uns heute von elf bis zwölf Uhr in der Küche bei IBL zu einer politischen Mittagspause getroffen, und ich habe unsere Kolleginnen und Kollegen über den aktuellen Stand des Tarifprozesses unterrichtet, und das war richtig toll. Also, die hatten auch richtig Lust, mit mir ins Gespräch einzusteigen."
Tarifvertrag würde für Klarheit sorgen
Einige Meter weiter hat sich inzwischen eine kleine Gruppe IBL-Beschäftigter an eine Durchgangsstraße vor dem Firmengebäude gestellt. Patrick Klose, der in der Produktion der Immun-Tests arbeitet, berichtet, was ihn unzufrieden macht:
"Aktuell ist das Problem, dass wir eine sehr unstrukturierte Gehaltssituation haben und auch sehr unstrukturierte Stellenprofile. Also, wir sind circa hundert Leute im Betrieb und haben siebzig verschiedene Stellenprofile, die alle individuell gestaltet sind, und das ist aktuell so das größte Problem, das wir hier haben."
Ein Tarifvertrag, so die Hoffnung der Beschäftigten, würde da für Klarheit sorgen. So gebe es momentan noch unterschiedliche Gehälter für vergleichbare Tätigkeiten, berichtet Frederick Tomasic, Mitarbeiter in der Qualitätskontrolle. Er hat beobachtet, "dass neue Leute, die angestellt werden, von vorneherein mehr Gehalt kriegen als Leute, die hier schon fünf oder zehn Jahre arbeiten. Es gibt da halt einfach kein System. Und die Marktsituation gibt es gerade her, dass hohe Gehälter bezahlt werden müssen, und für die langjährigen Mitarbeiter ist es eben schwierig dann."
Patrick Klose ergänzt: "Das Leiden kommt auch zum größten Teil daher, also nicht durch den Vergleich innerhalb der Firma, sondern durch den Vergleich mit dem Flächentarif. Also, wenn man sich da vergleicht mit den Einstufungen, wo man aktuell ungefähr wäre, dann sind wir da schon sehr weit davon entfernt."
"Viele Mitarbeiter haben sich über die Jahre auch weiterentwickelt, die haben mehr Aufgaben übernommen, komplexere Sachen gelernt, und das spiegelt sich dann in den Gehältern auch nicht wider", sagt Frederick Tomasic.
Er sitzt in der betrieblichen Tarifkommission, die die Gewerkschaft IG BCE für IBL einberufen hat. Die Tarifkommission hat bereits vor einem halben Jahr einen Vorschlag für eine Entgeltstruktur im Unternehmen gemacht, und die IBL-Geschäftsführung hat auch signalisiert, dass der in der Chemie-Branche geltende Flächentarifvertrag für die Firma interessant sein könnte. Nur passiert, sagen die Belegschaftsvertreter, sei seitdem nichts.
Es wird für Gewerkschaften immer schwieriger
Die IBL-Geschäftsführung möchte kein Interview zum Tarifverfahren geben und verweist auf den Schweizer Pharmakonzern Tecan, zu dem die Hamburger GmbH seit 2014 gehört. Auch ein Tecan-Sprecher will sich nicht zu Details äußern, schreibt aber in einer Mail:
"Zum Thema Löhne, Strukturen und weiterer damit in Verbindung stehenden Themen führen wir einen konstruktiven und offenen Dialog mit allen beteiligten Parteien. Dieser Prozess ist im Gange und keineswegs abgeschlossen. Wir sind weiterhin an einer guten Lösung der noch offenen Fragen für alle Beteiligten interessiert."
Und: es gebe in Bezug auf die Tochterfirma IBL auch keine "generell ablehnende Haltung des Mutterkonzerns gegenüber einem Tarifvertrag."
Bevor er zurück in sein Büro fährt, ist Gewerkschaftssekretär Daniel Maestro noch einmal vor dem Damm mit den U-Bahn-Schienen gleich neben dem Gewerbepark stehengeblieben.
"Wir werden jetzt regelmäßig Aktionen machen, wir werden die Präsenz steigern, wir werden der Geschäftsführung auch zeigen, schaut mal her, die IG BCE ist da, unsere Leute stehen hinter uns, wir wollen gemeinsam diesen Weg gehen."
Und das bedeutet für Maestro nicht Streik, sondern dass konsensorientierte Verhandlungen mit IBL überhaupt erst mal beginnen. Was dabei herauskommen wird, ist noch nicht abzusehen. Generell aber wird es für Gewerkschaften immer schwieriger, Firmen von einer Bindung an Tarifbedingungen zu überzeugen. Das beobachtet Daniel Maestro auch in seinem Bezirk Hamburg-Harburg.
Tarifbindung – ein großes Gut?
"Da gibt es klar auch Tendenzen, dass kleinere Betriebe aus dem Arbeitgeberverband aussteigen und auch aus dem Tarifvertrag, weil sie sagen, der Tarifvertrag ist uns zu teuer, er raubt uns Flexibilität, und das sehen wir natürlich komplett anders."
Tarifbindung – ein großes Gut? Oder nicht doch eher ein immer kleiner werdendes, das an Bedeutung verliert?
"Also, die Bedingungen für gewerkschaftliches Organisieren und das Tarifieren von Beschäftigungsverhältnissen, die werden deutlich schwieriger."
So der Arbeitssoziologe Klaus Dörre von der Universität Jena. Nach Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB, das der Bundesagentur für Arbeit angegliedert ist, arbeiteten 2017 im Westen 49 Prozent der Beschäftigten unter einem Flächentarifvertrag, im Osten nur 34 Prozent. Vor 20 Jahren waren es noch 70 Prozent im Westen und 56 Prozent im Osten.
"Also, es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der gewerkschaftlichen Organisationsmacht, der Stärke von Betriebsräten - aber die gewerkschaftliche Organisationsmacht ist in dem Fall wichtiger – und gewissermaßen der Tarifbindung von Unternehmen und dann auch der Möglichkeit, Löhne zu steigern."
Parallel zur Tarifbindung gingen auch die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften in den letzten 30 Jahren immer weiter zurück. Experten wie Klaus Dörre nennen dafür viele Ursachen: den Trend zur Individualisierung etwa oder den Rendite- und Kostendruck der Unternehmen in einer globalisierten Wirtschaft.
Manchmal agierten die Gewerkschaften aber auch unglücklich: Etwa wenn sie in der Autoindustrie den Wegfall Hunderttausender Arbeitsplätze befürchten und deswegen gegen die jüngst beschlossenen EU-Klimaschutzvorgaben für Neuwagen protestieren - bis 2030 sollen die CO2-Emissionen demnach um 37,5 Prozent reduziert werden "und dann haben Sie eben die Situation, dass Metall-Betriebsräte gegen das 37,5-Emissions-Reduktionsziel argumentieren in Veranstaltungen, und plötzlich tritt ein vierzehnjähriger Schüler auf und sagt, habt ihr einen an der Waffel, hier geht’s sozusagen um unser Überleben, und was tut ihr eigentlich, worüber redet ihr? Und ich glaube, da fällt es den Gewerkschaften noch schwer, sich zu positionieren, und das schwächt sie insgesamt."
Unterwegs mit einem anderen Gewerkschaftssekretär der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie Energie, IG BCE, aus dem Bezirk Hamburg-Harburg. An diesem Tag hat Dennis Bornholdt einen Termin in einem Betrieb im südlichen Schleswig-Holstein. Bei einer Abfahrt deutet er hinaus in die verregnete Landschaft. Dort befindet sich der Standort einer Firma, für deren Gewerkschafts-Mitglieder er ebenfalls zuständig ist.
Der Gewerkschaftsbezirk des 32-jährigen hat zwar im letzten Jahr immerhin einige Dutzend Mitglieder hinzugewonnen, aber im Bundesschnitt verzeichnet die IG BCE - wie auch die meisten anderen Einzelgewerkschaften des DGB - seit Jahren im Schnitt mehr Abgänge als Neueintritte.
Flächentarif als Selbstverständlichkeit
Wenn er sich nach den Gründen für diesen Abwärtstrend fragt, muss Dennis Bornholdt an den Vortrag eines Gewerkschaftsforschers denken, den er einige Wochen zuvor gehört hat:
"Der hat was ganz Schlaues gesagt, und zwar: Sobald ein soziales Sicherungssystem oder überhaupt eine soziale Errungenschaft institutionalisiert ist, wird sie für selbstverständlich gehalten, und man sieht nicht mehr selbst seine Verantwortung darin. So, und ich glaube, dass das auch beim Tarif so läuft. Wenn ein Tarif einfach vom Arbeitgeber allen gezahlt wird, dann sieht man für sich individuell gar nicht mehr den Nutzen, da jetzt Mitglied in einer Gewerkschaft zu sein und die zu unterstützen und den Tarif zu unterstützen, denn man kriegt es ja sowieso gezahlt."
Ankunft am Zielort. Ein Restaurant in der Nähe des Firmengeländes von "Kunststoff Krüger", einem mittelständischen Unternehmen, das in Barsbüttel Kunststoffteile fertigt. In der Mittagspause trifft sich Bornholdt hier mit Beschäftigten und Betriebsräten der Firma.
Der Betrieb gehört zu einem Firmenkonstrukt aus drei unterschiedlichen GmbH. Eigentümer und Geschäftsführer all dieser Firmen ist Nils Krüger. Das "Mutterhaus", die "Arthur Krüger GmbH", war noch nie tarifgebunden, ein Familienunternehmen, das Nils Krüger mittlerweile in dritter Generation weiterführt.
Die Beschäftigten von Kunststoff Krüger erzählen vor dem NDR-Mikrofon von der Tarif-Auseinandersetzung in ihrem Betrieb. Wenige Tage später ziehen sie das gegebene Interview wieder zurück. Die genauen Hintergründe lassen sich nicht abschließend klären. Gewerkschaftssekretär Dennis Bornholdt erzählt deshalb den Fall zwei Wochen später nach.
"Bei 'Kunststoff Krüger' gibt es einen Betriebsrat, und da gibt es auch noch einen Tarifvertrag, der sich in der Nachwirkung befindet, allerdings in den letzten drei, vier Jahren mit dieser Öffnungsklausel", die besagt, dass die Beschäftigten statt der tariflichen 37,5 Stunden Wochenarbeitszeit 40 Stunden, also zweieinhalb Wochenstunden unentgeltlich mehr arbeiten können "und immer mehr Leuten, die von 'Kunststoff Krüger GmbH' in das Mutterhaus rüberwechseln und damit auch nicht mehr die Tarifbindung haben, sofern sie eben Änderungskündigungen oder neue Verträge unterzeichnen."
Seit dem letzten Jahr sei die Beschäftigtenzahl von 45 auf 31 gesunken – teils weil Mitarbeiter in Rente oder Frührente gegangen, teils weil sie zusammen mit den Maschinen, die sie bedienen, zum nicht tarifgebundenen "Mutterhaus", der "Arthur Krüger GmbH", verlagert worden seien.
"Wie das genau abgelaufen ist, ist gar nicht richtig an uns oder an den Betriebsrat herangetragen worden, sondern es ist am Betriebsrat vorbei unter Missachtung der betrieblichen Mitbestimmung geschehen. Das heißt, der Betriebsrat kam in den Betrieb und ist vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Dann war auf einmal die Maschine weg beziehungsweise ihm wurde angekündigt, ab nächster Woche steht die Maschine dann in der anderen GmbH, im anderen Unternehmen."
Steckt "Kunststoff Krüger" also in wirtschaftlichen Schwierigkeiten? Dafür gebe es Indizien, sagt Dennis Bornholdt. Ansonsten hätte die Gewerkschaft der Öffnungsklausel mit der unbezahlten Mehrarbeit auch nicht zugestimmt.
Betriebsrat und Gewerkschaft müssten als Partner ernstgenommen werden
Allerdings habe Krüger, seitdem der alte Tarifvertrag im Sommer 2018 ausgelaufen ist, keine ernsthafte Absicht erkennen lassen, über eine neue Regelung zu verhandeln. Nils Krüger – der Geschäftsführer der "Kunststoff Krüger GmbH" und des Mutterhauses "Arthur Krüger GmbH" - lehnt sowohl ein Interview als auch eine Stellungnahme gegenüber dem NDR ab.
Gewerkschafts-Sekretär Bornholdt wäre zu Tarifgesprächen mit der Firma Krüger bereit. Er findet aber, dafür müssten Betriebsrat und Gewerkschaft auch als Partner ernstgenommen werden. Und fügt dann hinzu:
"Also, wir haben ja in Deutschland seit 1949 eine parlamentarische Demokratie und seit 1956 sogar eine betriebliche Mitbestimmung. Und … ja, das ist noch nicht überall so angekommen."
Unzufriedenheit über letzten Tarifvertrag
"Auch als Arbeitgeber haben wir ein Interesse an einer starken Gewerkschaft, weil, wir brauchen immer einen Verhandlungspartner, der muss abschlussfähig sein. Da möchten Sie sich darauf verlassen, dass das Wort gilt", sagt Nico Fickinger, Hauptgeschäftsführer von Nordmetall, einem der nach Wirtschaftskraft und Beschäftigtenzahl größten Arbeitgeberverbände in Norddeutschland, der die Interessen von Unternehmen aus der Metall- und Elektroindustrie in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und im nordwestlichen Niedersachsen vertritt und mit der Gewerkschaft IG Metall Flächentarifverträge für seine Mitglieder aushandelt.
Aber diese murren seit dem letzten bundesweit gültigen Abschluss, berichtet Fickinger. Die IG Metall hatte 2018 Lohnsteigerungen von sieben Prozent für zwei Jahre durchgesetzt sowie Arbeitszeitverkürzungen und zusätzliche freie Tage, die sich etwa Schichtarbeiter nehmen dürfen.
"Selbstverständlich gehören zu einem Tarifvabschluss immer zwei Unterschriften. Wir haben ihn damals natürlich unterschrieben. Insofern stehen wir auch dahinter. Es gab ganz erheblichen Druck seitens der IG Metall durch das neue Instrument der Ein-Tages-Streiks. Das hat uns doch sehr erheblich belastet und hat dann auch zu einem Abschluss geführt, der eben sehr komplex und auch sehr teuer geworden ist."
Arbeitgeberverbände verlieren Mitglieder
Mit der Schwäche der Gewerkschaften ging auch ein Mitgliederverlust bei den Arbeitgeberverbänden einher – ein Prozess, der nach Fickingers Darstellung Mitte der 1990er Jahre begonnen hat. Viele Verbände gründeten Schwester-Organisationen, die eine Extra-Mitgliedschaft "o.T." – ohne Tarifbindung – anboten, also alle Verbands-Dienstleistungen wie Netzwerk-Treffen oder Prozess-Vertretung vor dem Arbeitsgericht außer dem Flächentarifvertrag.
"Das heißt, die Bindung an den Flächentarif ist geschwunden und befindet sich weiter auf dem Rückzug, aber die Bindung an Arbeitgeberverbände selbst ist wieder gewachsen. Und o. T. heißt ja auch nicht, dass man gar keinen Tarif hat, sondern man kann auch einen Haustarifvertrag, einen Anerkennungs-Tarif, einen Ergänzungs-Tarif machen. All das gibt es ja eben auch."
Immerhin – so die Botschaft des Arbeitgebervertreters – sind Betriebe, die sich einem flächendeckenden Branchentarif verschließen, für die Verbände – und damit als Sozialpartner – nicht verloren.
Szenen- und Branchenwechsel: zur Altenpflege, einem Bereich, in dem nach Angaben der Bundesregierung nur für 20 Prozent der Beschäftigten Tarifverträge gelten und die Gewerkschaften nur wenige Mitglieder haben. - Mittagszeit im Service-Wohnhaus der Arbeiterwohlfahrt für Seniorinnen und Senioren im Kieler Stadtteil Mettenhof.
"Ja, und das hier ist jetzt die Oster-Vorbereitungsgruppe, die heute schon aktiv gearbeitet hat. Und Service-Haus ist ja ein selbstbestimmtes Leben und Wohnen, und auch hier wird nicht gelegen, hier wird gewohnt."
Pflegekräfte mit Tarifvertrag
Die Leiterin der Einrichtung, Susanne Weber, steht in einem kleinen Raum, in dem einige Bewohner gerade Osterschmuck hergestellt haben und sich jetzt auf den Weg zum Mittagessen machen. Knapp 300 ältere Menschen leben hier in eigenen Wohnungen, so selbstbestimmt wie möglich - und betreut von Pflegekräften mit Tarifvertrag und Gehältern über dem kargen Branchendurchschnitt. - Die 80-jährige Mieterin Ruth Ingwersen unterbricht kurz ihr Essen, um zu erzählen, dass sie gestresstes Personal, das Leistungen nach der Stechuhr erbringen muss, hier noch nicht erlebt habe.
"Im Gegenteil, die fragen immer, und kann ich noch was tun? Nein, das mach‘ ich selber, sag ich denn. Das, was ich selber machen kann, das mache ich auch selber. Und es wird hier auch sehr viel angeboten. Wir haben keine Langeweile. Und wer Langeweile hat, hat selber Schuld."
"Wir sind ein gemeinnütziger Wohlfahrtsverband. Die Arbeiterwohlfahrt hat keinen Eigentümer, der eine Rendite-Erwartung hat, sondern das, was wir als Unternehmen an Erträgen einnehmen, das geben wir im Unternehmen auch wieder aus," sagt der schleswig-holsteinische AWO-Geschäftsführer Michael Selck.
Tarifbindung zerfasert
Sein Büro in der Landesgeschäftsstelle liegt nur ein paar hundert Meter von der Service-Wohnanlage entfernt. Mit einem Tarifvertrag für alle AWO-Einrichtungen in Schleswig-Holstein will sich die Organisation als fairer Arbeitgeber präsentieren. Auf Bundesebene befürwortet die AWO einen Branchentarifvertrag für die Pflege, den dann die Politik für allgemeinverbindlich erklären könnte – mit dem Ziel, den Beruf angesichts des Fachkräftemangels und einer immer älter werdenden Gesellschaft attraktiver zu machen. Dagegen sträuben sich vor allem die privaten Heimbetreiber, bei denen es bisher keine Tarifbedingungen gibt.
Die Tarifbindung zerfasert zusehends. Das betrachtet auch der Bundesarbeitsminister, Hubertus Heil, von der SPD mit Sorge. In einem Zeitungsinterview im Dezember 2018 regte er an, tarifgebundenen Unternehmen Steuernachlässe zu gewähren – ein Vorschlag, der prompt vom Koalitionspartner, der Union, zurückgewiesen wurde. An einem konkreten Gesetzesvorschlag arbeitet Heil nicht. Aber sein Ministerium schreibt auf Anfrage, solche "Anreize zur Anwendung von Tarifverträgen" würden "geprüft".
Der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Nordmetall, Nico Fickinger, ist strikt gegen diese Ideen, wie auch gegen Überlegungen aus Gewerkschaftskreisen, Gewerkschaftsmitgliedern Steuerrabatte zu gewähren.
"Das entspricht überhaupt nicht unserer Grundhaltung. Es ist nichts, was der Staat fördern muss, sondern wir selbst sind aufgerufen, die Mitgliedschaft attraktiver zu machen. Also, der beste Beitrag, den der Staat leisten kann, ist, wenn er uns als Sozialpartner einfach unsere Arbeit machen lässt und sich ansonsten zurückhält mit vielleicht gutgemeinten, aber sicherlich schlecht gemachten Vorschlägen," sagt Fickinger.
"Ich glaube, dass es eher wichtiger ist, dass die Erfahrung, dass man selber was durchsetzen kann, durch eigene Aktivität, dass das eigentlich die Schlüssel-Erfahrung ist," sagt der Jenaer Arbeitssoziologe Klaus Dörre.
"Ich glaube, dass es eher wichtiger ist, dass die Erfahrung, dass man selber was durchsetzen kann, durch eigene Aktivität, dass das eigentlich die Schlüssel-Erfahrung ist," sagt der Jenaer Arbeitssoziologe Klaus Dörre.
Mitgliedschaft attraktiver machen
Die Gewerkschaften müssten wieder mehr Bewegung werden, getragen von ihren Mitgliedern.
"Ich bin allerdings nicht sicher, ob das Bewegungselement oder das Stärken des Bewegungselementes ausreichen wird, also das Steuer rumzureißen in Richtung von mehr Organisierung. Ich vermute, es wird staatliche und politische Hilfe brauchen," so Dörre.
Denn so, das ist die Hoffnung, könnte letztlich auch wieder die Tarifbindung steigen. Und steigende Tarifbindung bedeutet mehr Transparenz in der Arbeitswelt.