In den vergangenen Jahren habe durch die zunehmende Digitalisierung eine Teilung der Arbeitswelt begonnen. Die Frage sei, "wie können Beschäftigte da mithalten?" sagte Detlef Wetzel, Erster Vorsitzender der IG Metall, im DLF. Für die Gewerkschaften gehe es darum, die Risiken zu minimieren und dafür zu sorgen, dass die Chancen zum Tragen kommen.
Dafür müsse die Qualifizierung und Ausbildung in den Betrieben verbessert werden. Bei neuen Arbeitsformen wie dem Crowdworking müssten die Arbeitsbedingungen definiert werden. Diese Menschen arbeiteten zwar anders, "aber auch sie haben ein großes Interesse an guter Bezahlung", sagte Wetzel. Er sei zuversichtlich, dass auch sie sich organisieren lassen. Die IG Metal sei da gut aufgestellt.
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Am 1. Mai gestern haben die Gewerkschaften mobilisiert, weit mehr als 400.000 Menschen sind gekommen, zumindest nach DGB-Angaben. Und was im Mittelpunkt steht, ist doch klar: Da geht es um den Mindestlohn, der zu Beginn der abgelaufenen Woche eine Rolle gespielt hat in der Koalitionsrunde, dann geht es um Zahlen zur möglicherweise weiter steigenden Armut in Deutschland, und Hinweise, die Leiharbeit nimmt zu. Und darüber ist die Frage: Gute Arbeit für alle, geht das? Zumindest der DGB will das und auch die Industriegewerkschaften. Wir reden darüber heute Morgen mit dem Chef der Industriegewerkschaft Metall Detlef Wetzel, den ich jetzt am Telefon begrüße. Guten Morgen, Herr Wetzel!
Detlef Wetzel: Ja, guten Morgen!
Zurheide: Herr Wetzel, zunächst einmal: Mit welcher Gemütsverfassung sind Sie gestern – ich glaube, Sie waren in München bei der Demonstration – zum 1. Mai gefahren? Auf der einen Seite, Mindestlohn ist durchgesetzt, aber es gibt dann wieder andere, die sagen, wir müssen dieses und jenes verändern, vielleicht auch gegen Ihre Interessen. Auf der anderen Seite die Frage: Wie entwickelt sich Arbeitswelt weiter? Also, welche Gemütsverfassung hatten Sie, sind Sie zuversichtlich oder doch eher pessimistisch?
Wetzel: Nein, ich bin schon zuversichtlich, weil auf der einen Seite – Sie haben es angesprochen – wir schon Erfolge zu verweisen haben, Mindestlohn ist natürlich eine Sache, die Gewerkschaften durchgesetzt haben, die wichtig sind für viele Beschäftigte, und wir haben auch gemeinsam die Debatte abgewehrt, dieses Gesetz radikal zu verändern, wie es einige ja in der Politik wollten. Wir haben genauso, wer ändern will, der will betrügen. Also, das ist gut, da sind wir zufrieden. Bei dem Thema Industrie 4.0 und die großen Veränderungen, die in der Arbeitswelt auf uns zukommen, da haben wir auch erst mal keinen Grund, pessimistisch zu sein, sondern wie bei allem Neuen steckt ja immer ein Teil Risiko, aber auch ein Teil Chance drin. Und ich glaube, wir müssen auch mal als Gewerkschaften – und sind auch schon dabei – zusehen, dass wir die Risiken eben minimieren und viel dafür arbeiten, dass die Chancen für viele Menschen zum Tragen kommen. Das wird natürlich nicht einfach sein, aber Grund zu Pessimismus ist das erst mal nicht.
"Viele Menschen können auf der Strecke bleiben"
Zurheide: Jetzt haben Sie auch das Stichwort Industrie 4.0 schon genannt, also die Fabriken, wo die Integrationen über die Computer, über die Netze deutlich voranschreiten. Wovor stehen wir denn? Ich habe dieses Schlagwort gerade schon in der Übersicht gebracht. Wird das eher so eine Amazon-Welt, also wo jeder eher schlecht bezahlt wird, oder kommen wir doch vielleicht zu einer Humanisierung, wo die Technik dem Menschen hilft? Was Sie wollen, ist klar, aber was fürchten Sie?
Wetzel: Ich befürchte, dass wir schon eine gewisse Teilung in unserer Arbeitsgesellschaft bekommen, wie wir das heute auch schon haben. Es wird die Qualifikation von vielen Menschen verändern. Und da wird natürlich die Frage sein: Wie können die Menschen mithalten, die Beschäftigten mithalten mit den neuen Veränderungen? Und wie können wir als Gewerkschaften und mit unseren Belegschaften zusammen versuchen, die Arbeit dann so zu organisieren, auch im Rahmen dieser Digitalisierung, dass eben keine Entwertung von Arbeit und Qualifikation stattfindet, sondern vielleicht im positiven Sinne mehr Freiräume, mehr Gestaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen sich entwickeln. Aber die Gefahr ist groß, dass bei diesen großen Transformationsprozessen in den nächsten zehn Jahren auch viele Menschen auf der Strecke bleiben können. Und das ist natürlich das, was einen immer wieder beunruhigen muss, aber wo auf der anderen Seite Antrieb ist, sich um die Dinge intensiv zu kümmern.
Zurheide: Was müssen Sie als Gewerkschaften anders machen? Denn die Arbeitsverhältnisse verändern sich ja. Man sagt voraus, dass mindestens jeder zweite Job in zehn, 15 Jahren nicht mehr so sein wird, wie er heute ist. Was müssen Sie tun?
Wetzel: Wir müssen auf alle Fälle ganz viel tun zum Thema Qualifizierung, Ausbildung, Aus- und Weiterbildung in den Betrieben. Wir haben ja versucht als IG Metall, in der letzten Tarifrunde da den Einstieg zu machen, zum Thema Bildungsteilzeit. Unsere Belegschaften müssen vorbereitet sein auf die Veränderungen. Und das ist mit dem Thema Qualifikation ganz wesentlich beschrieben. Auf der anderen Seite müssen wir Seismograf sein, als Gewerkschaften die neuen Probleme, die auftauchen, aufzuspüren, sie zu verbinden mit Beteiligungsprozessen in den Belegschaften, damit wir zu Konzepten kommen, wie wir im Sinne der Beschäftigten die neue Arbeitswelt organisieren. Und wie schaffen wir es, völlig neue Beschäftigungsformen aufzugreifen, Stichwort Crowdworking, wo es neue Beschäftigungsformen, neue Geschäftsmodelle geben wird, wo die Arbeit nicht weggeht, wo aber die Arbeit keinen Platz mehr hat, wo sie stattfindet. Und wie schaffen wir es, mit den Beschäftigten ins Gespräch zu kommen und gemeinsam eine wirksame Interessenvertretung zu organisieren? Das sind zum Beispiel so drei Themen, wo ich große Herausforderungen für die Gewerkschaften sehe.
"Industrie 4.0 hat schon längst angefangen"
Zurheide: Jetzt haben Sie es gerade schon angesprochen, dass Sie das alles wünschen, ist klar. Aber ist die Veränderung der Wirtschaft, auch technikgetrieben, nicht eigentlich immer viel, viel schneller, als Sie da reagieren können? Läuft Ihnen nicht die Zeit ein Stück weg?
Wetzel: Den Eindruck habe ich jetzt nicht. Weil, dieses Thema Industrie 4.0 kommt ja nicht von Montag auf Dienstag, sondern es hat schon längst angefangen. Und es ist ein Prozess, der sozusagen evolutionär daherkommen wird und daherkommt. Und ich habe den Eindruck, dass wir zumindest als IG Metall sehr gut aufgestellt sind in den Firmen, wo das schon stattfindet, in den Debatten, die geführt werden, und auch in den Strukturen, die wir schaffen. Stichwort – ich habe es eben genannt – Crowdworking. Wir werden morgen freischalten eine große Plattform ...
Zurheide: Ich glaube, das müssen wir noch mal erklären: Crowdworking heißt, das sind Plattformen, wo Menschen im Internet quasi ihre Arbeit anbieten und gar nicht mehr in direktem Kontakt mit dem Arbeitgeber sind. Ist das richtig beschrieben?
Wetzel: Genau, und wo auch nicht geklärt ist, wie viel ich verdiene, wie meine Arbeitsbedingungen sind. Und das heißt, da wird Arbeit geleistet, da werden ganze Autos, ganze Maschinen konstruiert von 10.000, 20.000, 30.000, 40.000 Menschen, und dort wollen und werden wir eine Plattform schaffen, wo wir in einen Austausch mit diesen Clickworkern kommen, wo es darum geht, Arbeitsbedingungen zu definieren, Mitbestimmung zu installieren auf diesen Plattformen und soziale Sicherheit herzustellen.
"Auch die IG Metall muss sich verändern"
Zurheide: Ich will jetzt nicht zu hart dazwischengehen, aber ist das nicht naiv, dass Sie glauben, die können Sie organisieren? Woher nehmen Sie den Glauben?
Wetzel: Da bin ich ganz sicher, genauso wie man vor zehn Jahren gesagt hat, Leiharbeiter und prekär Beschäftigte lassen sich nicht organisieren. Selbstverständlich wird das möglich sein. Weil, Clickworker arbeiten anders, aber deswegen haben sie doch ein hohes Interesse an möglichst viel Einkommen, an möglichst viel sozialer Sicherheit und an guten Arbeitsbedingungen! Ich bin da ganz sicher, dass wir in einen guten Dialog kommen und auch gemeinsam mit dieser Beschäftigtengruppe die Dinge nach vorne treiben. Denn das sind ja sozusagen Soloselbstständige, die noch mal wesentlich schlechtere Bedingungen haben als die schlechten Bedingungen von den Kolleginnen und Kollegen, die in prekären Arbeitsverhältnissen sozusagen in der Realwirtschaft sind.
Zurheide: Das heißt aber auch, IG Metall wird sich verändern müssen. Das sind nicht mehr die großen Aufmärsche von 20.000, 30.000 Beschäftigten, sondern da müssen Sie mit vielen individuell in Kontakt treten!
Wetzel: Genau so ist das und das ist auch ein ganz großer Veränderungsprozess, in dem sich die IG Metall schon befindet und noch in den nächsten Jahren sich befinden wird.
"Niedriglohn und Rentenniveau haben die Armut vorangetrieben"
Zurheide: Wenn Sie die Zahlen der Armut in dieser Woche gehört haben, was geht Ihnen dann durch den Kopf? Denn ob sie nun zugenommen hat oder nicht, da gab es einen statistischen Streit, aber immerhin sagt man, dass rund 15 Prozent der Gesellschaft, der Haushalte in Armut leben, so wie wir sie definieren. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie solche Zahlen hören?
Wetzel: Das ist eine schlimme Situation. Es gibt aber auch Gründe dafür und das ist ja nicht als Naturgewalt gekommen, sondern das ist von Menschen gemacht. Zwei Beispiele: Deutschland hat im Vergleich der Industrienation, ich glaube, den höchsten oder den zweitgrößten Niedriglohnsektor. Wir haben im Niedriglohn beschäftigte Menschen als Massenphänomen in Deutschland, das führt natürlich zu Armut. Und da kann ein Mindestlohn am Ende der Tage auch nicht helfen. Der zweite Punkt ist, dass wir große Rentenreformgesetze gemacht haben in diesem Land und das Rentenniveau kontinuierlich sinkt. Und wenn man dann jetzt in den nächsten Jahren dazu kommt oder die Menschen so alt sind, dass sie unterbrochene Erwerbsbiografien haben, die lange Zeit im Niedriglohnsektor gearbeitet haben, dann werden natürlich verbunden mit diesem niedrigen Rentenniveau auch die Renten extrem nach unten gehen. Und das sind ja zwei ganz wesentliche Faktoren, die Armut in Deutschland vorangetrieben haben.
Zurheide: Was kann man, muss man dagegen tun?
Wetzel: Die Frage Kampf gegen den Niedriglohnsektor, Leiharbeit, prekäre Beschäftigung, Clickworker vernünftig bezahlen. Das andere ist jetzt auch eine Debatte in Deutschland, die nicht nach Kassenlage bestimmt, sondern nach Gerechtigkeit und Lebensleistung, was die Rente angeht. Das Rentenniveau perspektivisch auf 43 Prozent zu senken, ist natürlich ein Verbrechen an den Menschen, die das ganze Leben gearbeitet haben oder das ganze Leben hätten gerne arbeiten wollen, wenn man sie gelassen hätte. Also, Rente, soziale Sicherheit und die Auseinandersetzung um den Niedriglohn in Deutschland, das sind zwei ganz wesentliche Faktoren, die ich sehe.
Zurheide: Zum 1. Mai, zum Nachklapp des 1. Mais war das Detlef Wetzel, der IG-Metall-Chef, dem ich jetzt ... wo ich mich bedanke für dieses Gespräch um 8:20 Uhr, danke schön, Herr Wetzel!
Wetzel: Ich danke Ihnen auch, Herr Zurheide!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deuterviews und Diskussionen nicht zu eigen.