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Gewerkschafterin Ülkü Schneider-Gürkan
"Die Gewerkschaft hat sich mit ausländischen Arbeitnehmern solidarisiert"

Ülkü Schneider-Gürkan kam 1956 aus der Türkei nach Deutschland. Nach dem Anwerbeabkommen von 1961 begann sie die sogenannten Gastarbeiter zu unterstützen – erst für die Arbeiterwohlfahrt, später für die IG Metall. Diese Menschen hätten trotz ihrer anderen Kultur so akzeptiert werden müssen, wie sie sind, betont sie im Rückblick.

Ülkü Schneider-Gürkan im Gespräch mit Stephan Detjen |
Ülkü Schneider-Gürkan im Gespräch mit dem Leiter des Hauptstadtstudios Stephan Detjen
Für die Gewerkschafterin Ülkü Schneider-Gürkan wurde das Thema Arbeitsmigration zum Lebensthema (Christian Fischer/audiosprint)
"Ülkü abla" wird sie respektvoll genannt. Große Schwester. Von all jenen, die sie über die Jahre geholfen hat, in Deutschland Fuß zu fassen. Ülkü Schneider-Gürkan kam 1956 nach Deutschland. Eigentlich, um Deutsch zu lernen und Zahnmedizin zu studieren. Nur acht türkische Studierende gab es damals an der Uni – in allen Fakultäten zusammen. Ihre Eltern legten viel Wert auf Bildung – und wollten, dass sie als Mädchen die gleichen Chancen hat. Doch Ülkü Schneider-Gürkan entschied sich, inspiriert durch die linke Studentenszene in Frankfurt, für die Politikwissenschaften. Nach dem Anwerbeabkommen von 1961 begann sie jene zu unterstützen, die als "Gastarbeiter" nach Deutschland kamen – erst für die Arbeiterwohlfahrt, später für die IG Metall. Auch sie hat gedacht, sie würde eines Tages in die Türkei zurückkehren – und ist doch geblieben.

Kindheit und Jugend in der Türkei

Stephan Detjen: Frau Schneider-Gürkan, Sie haben mir gerade eben Fotos gezeigt aus Ihrer Kindheit und Jugend in Çorum, nordöstlich von Ankara in der Schwarzmeerregion, und man hat eine Familie gesehen, Ihre Eltern, ein schönes, junges Paar. Und ich habe mir gedacht, eigentlich ganz zeitgenössische Erscheinung, das Bild könnte das Bild junger, deutscher Intellektueller der Gegenwart oder der 20er- und 30er-Jahre in Deutschland sein. Erzählen Sie von Ihrer Kindheit und Jugend, von Ihren Eltern! Was ist Ihnen besonders in Erinnerung, was hat Sie da geprägt?
Ülkü Schneider-Gürkan: Vielleicht fange ich so an: Seit sechs Monaten bin ich kaum draußen, ich sitze zu Hause und …
Ülkü Schneider-Gürkan im Gespräch mit dem Leiter des Hauptstadtstudios Stephan Detjen
Ülkü Schneider-Gürkan im Gespräch mit dem Leiter des Hauptstadtstudios Stephan Detjen (Christian Fischer/audiosprint)
Detjen: Sie sind in Ihrer schönen Wohnung hier in Frankfurt mit Blick auf den Fluss.
Schneider-Gürkan: Trotzdem, ich bin gewöhnt, immer zu Veranstaltungen zu gehen, ich bin noch aktiv in der Gesellschaft in der Verwaltungsstelle in Frankfurt. In dieser Zeit habe ich ehrlich gesagt viel überlegt und mir sind einige Sachen klargeworden: Ich habe noch immer Schwierigkeiten mit der Entwicklung in der Türkei.
Detjen: Mit der gegenwärtigen Entwicklung?
Schneider-Gürkan: Ja, mit der gegenwärtigen Entwicklung. Meine Kindheit, meine Jugend und so weiter, das war eine fortschrittliche, nach Westen orientierte Gesellschaft.
Detjen: Die kemalistische Türkei.
Schneider-Gürkan: Ja, die kemalistische. Wie es dazu gekommen ist, ist mir jetzt ehrlich gesagt klargeworden. Einerseits bin ich dankbar, dass ich so eine Kindheit und Jugend gehabt habe, aber andererseits, meine Eltern und ihre Freunde, das waren junge, kemalistische Bürokraten, haben einen nicht wirklichen Wert für uns geschaffen.
Detjen: Sie sagen Bürokraten, sie waren Lehrer, glaube ich.
Schneider-Gürkan: Sie waren Lehrer, mein Vater war Schulrat. In dieser Zeit hatte die Türkei vielleicht 30 Millionen Einwohner, davon lebten 80 Prozent in Dörfern. Es waren keine Straßen, wo fünf Häuser standen, war ein Dorf. Und in den Städten lebten 20 Prozent und ungefähr drei Millionen waren die kemalistischen Bürokraten, Lehrer, Offiziere, Ärzte, Ingenieure, Anwälte und so weiter. Das ist die Gesellschaft, in der ich groß geworden bin. Und sie haben wirklich uns geschont, das war, glaube ich, nicht so sehr gut, was da in Wirklichkeit in diesem Land war.
"Ich habe mein Volk erst 1963 kennengelernt"
Detjen: Was blieb Ihnen verborgen, was haben Sie nicht gesehen?
Schneider-Gürkan: Ich habe mein Volk erst kennengelernt, als sie 1963 hierherkamen, das waren Leute wie meine Eltern, die haben Nationalfeiertage gefeiert, sie haben getanzt, Tango, Foxtrott und so weiter. Ich habe immer gedacht, das ist die Türkei, aber das war nicht die Türkei.
Detjen: Was ist aus dieser Türkei, die Sie jetzt schildern, die kemalistische, nach Westen orientierte Türkei, was ist daraus geworden? Vielleicht möchten Sie das am Beispiel Ihrer Eltern erzählen?
Schneider-Gürkan: Meine Mutter ist 1964 gestorben, mein Vater 1985. Und da war die Türkei noch nicht so, in der Zeit. Aber die Kinder von diesen Leuten wie ich, die sind noch da. Und einige sind sehr nationalistisch, die sind rechte Sozialdemokraten.
"Wir hatten ein offenes Haus"
Detjen: Der kemalistische Ansatz war ja auch nationalistisch.
Schneider-Gürkan: Ja, natürlich, aber jetzt gehe ich zurück: Mein Vater war links, aber nicht so bewusst. Ein fortschrittlicher Mann, den hat Literatur, Gedichte und so weiter sehr interessiert, als Kind hat er uns immer Gedichte vorgetragen. Wir haben zu Hause sehr viel gelesen. Wir hatten ein offenes Haus, und mein Vater … Es war in den 40er-Jahren ein sehr fortschrittlicher Kultusminister, der heißt Hasan Ali Yücel. Und sein Staatssekretär, der war Pädagoge, er hat in der Schweiz promoviert. Und mein Vater gehörte zu dieser Gruppe, sie haben nämlich in der Türkei diese Dorfschulen gebaut. Manchmal hat er mich mitgenommen in die Dörfer, damals habe ich nicht daran gedacht, aber jetzt, wo ich zu Hause bin, habe ich daran gedacht, das waren so Bürokraten. Sie sind hingegangen, sie haben in einem Dorf ein Grundstück gesucht, dieses Grundstück könnte einem Großgrundbesitzer gehören oder einem armen Bauern. Die haben gesagt, hier wird die Schule gebaut. Dann wurde die Schule gebaut, die Dorfbewohner mussten mithelfen und sie mussten auch ihre Kinder in die Schule schicken.
Detjen: Da sieht man jetzt, welche überragende Rolle Bildung, und wenn ich es richtig verstehe, auch Bildung nach westlichen Vorbildern, spielte in dieser Gruppe, in dieser kemalistischen Generation Ihrer Eltern. Und vielleicht machen wir jetzt noch mal einen Schritt zu Ihnen, zu der jungen Frau, Schülerin, Ülkü Gürkan, die dann von ihren Eltern oder aus eigener Initiative nach Deutschland …
Schneider-Gürkan: Nicht Eigeninitiative.
Detjen: Es waren die Eltern, die das ausgesucht haben. Woher kam diese Beziehung zu Deutschland?
Schneider-Gürkan: Die Beziehung zu Deutschland? Ich habe gesagt, 1933 sind sehr viele Antifaschisten, Sozialdemokraten, sind in die Türkei gekommen. Atatürk hat diese Leute … Die haben die Uni Ankara und Istanbul gebaut. Zum Beispiel der Reuter war einer von denen.
Detjen: Ernst Reuter, der spätere Bürgermeister von Berlin.
Schneider-Gürkan: Ja, und dann, Atatürk war gestorben, und ich war so sechs Jahre alt, glaube ich. Bis dahin hat die Regierung von İnönü sehr gute Beziehungen zum faschistischen Deutschland. Als sie nach Stalingrad gemerkt haben, das geht zu Ende mit dem Faschismus, haben sie angefangen, sich auf Amerika und so weiter zu orientieren. Und die haben nach Stalingrad gedacht, sie müssen diese Leute schützen und sie haben die in bestimmten Städten in der Türkei interniert. Eine von diesen Städten war Çorum.

Zum Studium nach Deutschland

Detjen: Ihre Heimatstadt.
Schneider-Gürkan: 640 Familien sind gekommen, Çorum hatte damals so 35.000 Einwohner, aber Çorum ist eine Stadt, wo immer politische Leute interniert wurden. Und dann haben sie zuerst zwei Häuser gemietet, eine katholische Kirche in einem der Häuser gemacht, im anderen eine protestantische. Unser Haus war auf der Straße, wo diese protestantische Kirche war. Und wir kannten auch eine Familie, die sind immer jeden Sonntag schön gekleidet in die Kirche gegangen. Und ich war ein neugieriges Kind, und sie haben mich mitgenommen in diese Kirche. Es wurde Deutsch gesprochen, die haben gesungen, ich habe geschlafen. Als sie mich dann geweckt haben, habe ich mich sehr geschämt. Also, wir hatten von dieser Zeit an Kontakt zu Deutschen. Und ich habe Abitur gemacht, aber unsere Berufe, ich sollte Zahnmediziner werden, meine Schwester Ärztin, aber in der Türkei, die Zahnmedizin war etwas schwierig. Ich hatte zwar sein sehr gutes Abitur gemacht, aber, na ja, mein Vater war in Istanbul wegen einer anderen Sachen und hat einen Freund getroffen. Er hat ihm gesagt, ja, was macht deine Tochter, er hat gesagt, sie wird Zahnmedizin studieren in Istanbul. Dann hat er gesagt, ach, weißt du, ich habe meinen Sohn nach Deutschland geschickt, er sagt, schick sie auch hin! Aber mein Vater und meine Mutter waren der Meinung, in einer kleinen Stadt, als kemalistische Bürokraten wollten sie der Gesellschaft zeigen, dass die Töchter genauso gut sind wie die Söhne, dass sie auch alles machen können. Und um hier zu studieren, musste man vom Kultusministerium eine Erlaubnis bekommen. Da mein Vater gute Beziehungen zum Kultusministerium hatte, ist er nach Frankreich gefahren und hat diese Sachen erledigt. Und dann kam er und sagte, sie wird nach Deutschland gehen und Deutsch studieren. Aber ich hatte in der Schule Französisch gelernt. Und ich habe gesagt, ich möchte nicht nach Deutschland, ich möchte nach Paris. Und er sagte nein, das geht nicht, ein junges Mädchen schickt er nicht nach Paris, sondern nach Deutschland. So bin ich, das war der 24. Oktober 1956, bin ich in München gelandet.
Detjen: Sie kommen dann nach Deutschland, in dieses Land, das Wirtschaftswunder ist ja schon im Gang, elf Jahre nach dem …
Schneider-Gürkan: Nicht ganz.
Detjen: Es geht langsam los.
Schneider-Gürkan: Nicht ganz, nicht ganz.
Detjen: Es geht aufwärts in diesem Land damals. Wie haben Sie das erlebt damals, wie haben Sie dieses Deutschland wahrgenommen?
Schneider-Gürkan: Wissen Sie, in diesem Kochel am See, ein sehr kleines Dorf, war ein Goethe-Institut, und die Studenten, die dort gelernt haben, haben bei deutschen Familien gewohnt. Zum Beispiel in diesem Mädcheninternat in der Türkei in der Nacht ein kleines Licht angezündet. Ich bin gewöhnt, mit Licht zu schlafen. Und ich bin auch ein sehr behütetes Mädchen gewesen, ich bin nie alleine nach sechs Uhr irgendwo hingegangen in der Türkei. Und plötzlich komme ich und ich habe immer natürlich Angst. Ich wohne bei einer fremden Familie, und nach drei Tagen sagte die Frau, wir haben uns auf Französisch verständigt, sagte sie mir, ja, die ganze Nacht brennt Licht. Ich habe mich geschämt zu sagen, ich habe Angst. Sie sagt, aber das kostet viel Geld. Dann habe ich das Licht ausgemacht, aber zwei, drei Nächte überhaupt nicht geschlafen.
Detjen: Machen wir vielleicht mal einen kleinen Sprung. Denn es kommt ja dann die Entscheidung, das Studium wird nicht Zahnmedizin, der Weg führt auch nicht in die Türkei zurück, sondern Sie gehen nach Frankfurt und studieren Politik.
Schneider-Gürkan: Nein, ich habe schon Zahnmedizin studiert.
"Damals war es mir nicht bewusst: ich war die einzige Türkin"
Detjen: Sie fingen mit Zahnmedizin in Frankfurt hier an?
Schneider-Gürkan: Ja, ich habe ein sehr gutes Abitur gemacht, ich habe gleich angefangen, Zahnmedizin zu studieren, da ich ein Jahr lang Deutsch gelernt hatte, ich konnte mich sehr gut draußen unterhalten, aber als ich dann angefangen habe, habe ich gemerkt, dass ich nicht einmal 25 Prozent verstehe, was da erzählt wird. Erstens, und zweitens, das war Ende 1957, und damals ist mir nicht bewusst geworden, ich war die einzige Türkin in dieser Gruppe. Ein Professor, der hat mich, ich heiße Gürkan, weil ich so klein bin, Gürkchen genannt. Damals ist mir das nicht bewusst geworden, also wirklich. Und dann hat er immer, er hatte mich gern, aber er sagte zu mir immer, die Deutschen haben auch in Kreuzzügen mitgemacht. Du hast blaue Augen, blonde Haare, da ist bestimmt ein Deutscher in deiner Familie. So, aber die haben auch mit uns per Du gesprochen und so. Und auch die Studenten, die waren genauso reaktionär. Und dann habe ich aber in einem Studentenhaus gewohnt, und in diesem Studentenhaus wohnten viele linke, sozialdemokratische Studenten. Damals war das der Sozialistische Deutsche Studentenbund, später hat die SPD diesen Unvereinbarungs…
Detjen: Unvereinbarkeitsbeschluss.
Schneider-Gürkan: …beschluss gefasst, und viele sind dann in der SPD geblieben. Und dann, in diesem Studentenhaus, wohnten viele, die eben Soziologie und Politikwissenschaft studiert haben, und dadurch habe ich gesagt, ich mache nicht mit …
Detjen: Also, da kamen Sie aus dieser Welt, die Sie jetzt gerade als reaktionär geschildert haben, in die Welt des akademischen Aufbruchs, der Öffnung in Deutschland, die dann verbunden ist bis heute natürlich mit dem großen Namen Adorno, den Sie ja kennengelernt haben im Studium, bei dem Sie studiert haben.
Schneider-Gürkan: Es war noch dieses Institut von Adorno, ich habe auch Soziologie und politische Wissenschaft, das war dann Carlo Schmid. Ich bin zu den Vorlesungen gegangen und wir haben viele Aktionen gemacht, ich war immer dabei. Und da habe ich meine erste Erfahrung mit den deutschen Linken gemacht, wir haben gesprochen, es wird irgendwas gemacht, eine Zeit, ich bin immer hingegangen, es war niemand da. Der erste kam nach einer Stunde, die haben gesagt, ja, wir haben geschlafen. So zuverlässig waren die nicht, ehrlich gesagt. Aber da ich auch gleichzeitig bei den Gewerkschaften angefangen habe, mit den Gewerkschaften zu arbeiten, natürlich bin ich etwas disziplinierter. Und dann aber, das war Adorno, er war nicht offen für Aktionen und so weiter, der war aber die Marburger Schule.
Detjen: Abendroth, Wolfgang Abendroth.
Schneider-Gürkan: Ja, ich kannte auch zum Beispiel (Frank) Deppe und so weiter, die sind alle nach Marburg gegangen, ich bin auch nach Marburg gegangen. Also, ich bin ehrlich gesagt geprägter durch Abendroth als durch Adorno.
Detjen: Anfang der 60er-Jahre kommen dann die türkischen Arbeitsmigranten, die Gastarbeiter damals. 1961 ist das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei.
Schneider-Gürkan: Nicht 1961, 1962?

Lebensthema "Gastarbeiter"

Detjen: Ich glaube 61. Das wird dann für Sie zum Thema, man muss ja rückblickend sagen, das wird für Sie zum Lebensthema. Wann und wie ist Ihnen das eigentlich bewusst geworden, dass mit dieser Migration, mit dieser Entwicklung …
Schneider-Gürkan: Zufällig, zufällig. Ich war befreundet mit einem Mädchen, ihr Vater war Gewerkschafter. Als diese Sache angefangen hat, brauchten sie Leute, die Türkisch übersetzen. Ich habe damals, es gab auch kein Handy und so weiter, ich wohnte in einem Studentenhaus in Frankfurt. Und dann habe ich ein Telegramm bekommen von Max Diamant, er ist ein Antifaschist, ein Jude, er war nach Mexiko emigriert. Dann kam er, er hat die Abteilung ausländische Arbeitnehmer bei der IG Metall aufgebaut. Und ich bin hin zu IG Metall, er gab mir was und sagte, das musst du übersetzen. Ich hatte bis dahin überhaupt keine Übersetzungen gemacht, ich kann Türkisch, ich kann Deutsch, aber übersetzt habe ich nicht. Und dann hat er gesagt, doch, du kriegst auch Geld. Ich habe gesagt, ich brauche kein Geld. Dann sagt er zu mir, ja, ja, jeder braucht Geld. Er hat mir das in die Hand gedrückt, so habe ich angefangen, für IG Metall zu übersetzen. Ich bin nach Hause gekommen, meine Mutter lebte noch. Meine Mutter war eine richtige Lehrerin, sie hat immer meine Briefe, wenn ich so schnell geschrieben habe, Punkt und Komma zu setzen, dann hat sie mit einem roten Stift korrigiert und zurückgeschickt. Nein, und dann, 1963, hat die Arbeiterwohlfahrt die Betreuung übernommen für die türkischen Arbeitnehmer und hat fünf Büros aufgemacht. Dann habe ich angefangen, dort zu arbeiten. Aber ich hatte sehr, sehr große Schwierigkeiten. Ich saß in diesem Büro, und die Leute kamen, haben mir irgendeine Geschichte erzählt. Ich habe das geglaubt, dann habe ich angefangen, Krach zu schlagen. Und irgendwann habe ich kapiert, meine Landsleute, die sind immer unterdrückt worden, deswegen, auch wenn sie im Recht sind, sie schreiben im Kopf ein Szenario, das ihrer Meinung nach besser klingt. Irgendwann habe ich begriffen, und ich bin auch von dem Punkt an sehr autoritär geworden.
Ülkü Schneider-Gürkan im Gespräch mit dem Leiter des Hauptstadtstudios Stephan Detjen
Ülkü Schneider-Gürkan: "Irgendwann habe ich kapiert, meine Landsleute sind immer unterdrückt worden". (Christian Fischer/audiosprint)
Detjen: Und jetzt verstehe ich, wie Sie zu dem Namen "Ülkü abla" kommen, die große Schwester. Das ist der Name, wo immer man nach Ihnen fragt, hört man Ülkü Gürkan ist die große Schwester, "Ülkü abla".
Schneider-Gürkan: Ich habe vielen geholfen, aber das ist auch so, in diesem Büro habe ich gemerkt, es kommen immer dieselben Leute.
Detjen: Erzählen Sie, was waren das für Leute, die zu Ihnen kamen. Sie haben am Anfang unseres Gesprächs gesagt, eigentlich erst hier haben Sie die Türken, Ihr Volk, kennengelernt.
Schneider-Gürkan: 62, 63 kamen eigentlich viele aus Großstädten, Istanbul, Ankara, Izmir, wo es doch einigermaßen industrialisiert war. Und die Deutschen, auch heute, die sich mit Türken beschäftigen, die machen den Fehler und sagen, das sind Bauern. Das stimmte nicht, ja, das sind viele, die eine Berufsschule besucht haben, das waren Elektriker, Schreiner und so weiter. Es gab ja auch dieses deutsche Vermittlungsbüro, die haben sich bei türkischen Arbeitern gemeldet, dann gab es ein Büro von Deutschen, die haben das alles kontrolliert am Anfang. Aber diese zum Beispiel waren auch bei der Sarotti, das war eine Schokoladenfabrik. Und es gibt in Offenbach viele Lederfirmen, Mädler und so weiter. Da waren viele türkische Frauen, die waren geschieden, Frauen aus Istanbul, Ankara, wirklich aus der Großstadt, und die hatten auch sogar Abitur.
Detjen: Das ist interessant, weil auch wenn man inzwischen die historische liest, die es ja mehr und mehr gibt zum Thema der Arbeitsmigration, stößt man darauf, dass das Bild der Deutschen von den türkischen Arbeitnehmern am Anfang anders war, als es sich dann später entwickelt hat.
Schneider-Gürkan: Ja. Und die hatten eigentlich irgendwie in der Türkei nach 1960, als dieser Demokratisierungsprozess einigermaßen angefangen hat, mit Gewerkschaften und Arbeiterpartei und so weiter Kontakt gehabt. Es waren auch viele fortschrittliche Arbeiter. Also, 1964 haben wir Volkshaus gegründet, das waren alles diese Leute.
Detjen: Das Volkshaus müssen Sie kurz erklären, das ist ein Verein, den Sie hier in Frankfurt mitgegründet haben.
Schneider-Gürkan: Das ist so wie Volksbildung, das ist Halkevleri, so heißt das, in der kemalistischen Zeit war das Erwachsenenbildung, viel Deutschkurse, Theater, Folklore, Literatur und so weiter. Und das war möglich mit diesen Leuten.
Detjen: Und so beginnt ja dann auch eine Politisierung in der türkischen Arbeitnehmerschaft. Es gab ja schon, ich habe das auch jetzt gelernt, als ich jetzt in der Vorbereitung auf unser Gespräch noch mal gelesen habe, sehr früh schon erste Streiks, sogenannte Türken-Streiks, am Anfang kleinere, in den 70er-Jahren dann große Streiks in Köln bei Ford. Erzählen Sie noch mal, wie diese Politisierung in der Arbeitnehmerschaft stattfindet und welche Themen dann auch etwa in diesen Streiks aufgeworfen werden.
Schneider-Gürkan: Natürlich wohnten die in Heimen, das waren sehr, sehr schlechte Zustände. Die Frauen arbeiteten im Mädler, sie wohnten in Offenbach. Mädler hatte ein Haus gemietet, in einem Zimmer so vier Betten, aber so …
Detjen: Stockbetten.
Schneider-Gürkan: Stockbetten, ja, aber in einem größeren Zimmer, und acht Leute wohnten dort. Er kassierte 50 Mark pro Person. Und wenn Sie da irgendwie Tee oder Kaffee kochen mussten, dann mussten Sie 50 Pfennig reinwerfen, Duschen 50 Pfennig. Sie haben sich beschwert. Und ich bei der Arbeiterwohlfahrt, da war eine deutsche Sozialarbeiterin, ich war mit ihr befreundet. Ich habe gesagt, wir gehen zum Wohnungsamt Offenbach und beschweren uns. Wir sind hingegangen, da saß ein älterer Mann, ich habe gesagt, das ist Ausbeutung, was da gemacht wird. Wenn Sie 50 Mark mehr bezahlen, kriegen Sie ein Privatzimmer, das ist ungerecht. Dann sagt der zu mir, nein, Ihre Landsleute kriegen kein Privatzimmer. Wieso, sage ich. Sie essen Knoblauch und spucken auf den Boden. Und daraufhin bin ich gesprungen und habe den Mann am Jackenkragen gehalten. Ich habe geschrien, du Faschist, wie kannst du sowas machen? Ich habe so geschrien, und die ganzen Leute haben sich vor der Haustür gesammelt, und der Mann fängt an zu zittern und die deutsche Sozialarbeiterin ist verschwunden.
Und dann kam der Leiter vom Ordnungsamt Offenbach und sagte, was wollen Sie, er hat mich beruhigt. Und der Mann hat sich entschuldigt, sogar in der Bild-Zeitung ist diese Sache damals erschienen. Natürlich, also, die Leute haben sich beschwert, und wir haben danach mit denen einen Verein gegründet. Und auch die Arbeiterwohlfahrt, da haben wir es versucht, und die sind alle Gewerkschaftsmitglied geworden. Und sie waren auch sehr aktiv in den Gewerkschaften.
"Die IG Metall war eine sehr fortschrittliche Gewerkschaft"
Detjen: Wie war das, sagen wir mal, in der Arbeitnehmerschaft, aber dann auch in den Gewerkschaften. Gab es da die Solidarität über alle Gruppen hinweg, also auch der deutschen, einheimischen Arbeitnehmer mit den aus der Türkei und anderen Ländern Hinzugekommenen. Oder hat sich das auch gespalten, gab es da auch Gegensätze, Interessensgegensätze, Konflikte?
Schneider-Gürkan: Also, die IG Metall war eine sehr fortschrittliche Gewerkschaft. Zum Beispiel haben die gleich das Betriebsverfassungsgesetz geändert, sie konnten gewählt werden. In der Gewerkschaftsbewegung sind sie nicht diskriminiert, aber natürlich, wenn zum Beispiel irgendjemand an einer Toilette etwas gegen Ausländer geschrieben hat, hat gleich Metall-Arbeitgeberverband und die IG Metall zusammen das kritisiert, Flugblätter, was weiß ich und so weiter. Das war damals … Die Gewerkschaft hat sich mit ausländischen Arbeitnehmern sehr solidarisiert, die IG Metall. Und ich, ehrlich gesagt, ich habe auch nur mit den fortschrittlichen Arbeitergruppen zusammengearbeitet später.

Türkisches Leben in Deutschland

Detjen: Ein ganz wesentlicher Teil der Geschichte der Arbeitsmigration nach Deutschland ist ja die Erkenntnis, dass man Leute ins Land geholt hat in der Annahme, die bleiben zwei Jahre, dann gehen sie zurück, und es kommen neue. Irgendwann haben wir gelernt, die gehen nicht zurück, die holen ihre Familien, die bleiben. Wie haben Sie diesen Prozess erlebt, ist Ihnen das von Anfang an klar gewesen, ab wann ist Ihnen das klar gewesen, und wie hat sich dieser Bewusstseinswandel, dieser Erkenntniswandel für Sie dargestellt, wie haben Sie das erlebt?
Schneider-Gürkan: Ich selbst habe auch gedacht, dass ich zurückgehe. Natürlich wegen politischer Geschichten und so weiter. 1971 war ein Militärputsch, bis 1992 wurde mein Pass entsorgt, und ich konnte nicht zurückgehen. Aber bei den Arbeitnehmern sind auch … ein Teil ist doch zurückgegangen. Ein Teil ist, ehrlich gesagt, ist zurückgegangen, weil sie der Meinung waren, sie müssten in der Türkei mitmachen. Das sind die fortschrittlichen Leute. Ein Teil ist zurückgegangen, sie haben gesagt, ich habe genug Geld verdient. Aber als sie angefangen haben, ihre Frauen und Kinder hierherzubringen, war uns bewusst, dass sie nicht zurückgehen. Und dann irgendwann haben wir auch kapiert, Arbeitsemigration geht nicht zurück.
Detjen: Es entstehen die türkischen Communitys, die Vorstädte oder die Stadtviertel mit überwiegend türkischer Bevölkerung prägen sich aus, Duisburg-Marxloh, Köln-Ehrenfeld.
Schneider-Gürkan: Das hätte anders werden können.
"Wir leben nicht friedlich nebeneinander"
Detjen: Ja eben! Das ist ja die Frage, wenn wir da heute drauf zurückschauen, was ist da eigentlich passiert, war das zwangsläufig, was hätte man anders machen können?
Schneider-Gürkan: Was versteht man unter Integration? Das ist die Frage. Ist das friedlich nebeneinander zu leben? Das stimmt auch nicht. Wir leben nicht friedlich nebeneinander. Jetzt zumindest. Was verstehen die Deutschen unter Integration?
Detjen: Was verstehen Sie unter Integration? Schon über den Begriff wird ja gestritten.
Schneider-Gürkan: Ich verstehe unter Integration, dass meine Kultur und ich als Mensch akzeptiert werde, und ich so lebe, wie es mir passt. Nicht nach den Regeln von Deutschen, wie ich mich zu benehmen habe oder nicht. Ich habe zum Beispiel sehr guten Kontakt mit meinen Nachbarn hier, weil die alle zivilisierte Leute sind. Seit sechs Monaten klingeln die immer, fragen, ob ich etwas brauche und so weiter. Aber ich kann gut Deutsch, ich helfe immer, sie helfen auch. Aber so eine Möglichkeit haben meine Landsleute nie gehabt. Ich weiß zum Beispiel, viele ältere deutsche Frauen, sie haben gute Beziehungen zu den türkischen Familien, weil sie denen helfen – noch heute. Ich bin in meinem Leben nicht Feminist gewesen, ich habe nämlich in politischen Bewegungen, in Gewerkschaften immer mit Männern gearbeitet. Und als in den 70er-Jahren in Deutschland der Feminismus so aktiv war, war ich in der Uni, wir haben so Seminare gehabt. Es waren viele Sozialarbeiter, Lehrerinnen und so weiter. Sie haben erzählt, was sie mit ausländischen Frauen, besonders mit den Frauen aus der Türkei arbeiten. Wissen Sie, sie sagen nur ich, meine Türkinnen. Also diese Vereinnahmung, also … Und sie erzählten immer, ja, sie wollten die türkischen Frauen emanzipieren. Wie können sie noch emanzipiert werden? Sie kommen aus einem Dorf mit 50, 60 Häusern, die haben nie eine Großstadt in ihrem Leben gesehen, steigen in ein Flugzeug, in zweieinhalb Stunden landen sie in einem hochindustrialisierten Land. Sie können die Sprache nicht, sie müssen arbeiten, sie müssen ihre Kinder in die Schule schicken, sie müssen einkaufen. Viele können … Vielleicht sind sie in die Schule gegangen, wenn sie älter sind, aber wenn sie ein, zwei Jahre in die Schule gegangen sind, dann haben sie nicht mal gelesen, sie sind fast Analphabeten. Wie können sie noch emanzipiert werden?
Detjen: Aber was ist die Antwort darauf?
Schneider-Gürkan: Moment, ich komme, und sie sagen, sie werden geschlagen. Ich kenne viele deutsche Arbeiter, die auch ihre Frauen schlagen, ja. Das sind nicht die Türkinnen, sie sind wirklich sehr emanzipiert, sie wissen, was sie wollen. Und deswegen muss der Mann die nicht betreuen. Die ganze Arbeiterwohlfahrt, ich bin auch von der Arbeiterwohlfahrt … 1971 habe ich aufgehört. Irgendwann ist mir bewusst geworden, das ist keine Hilfe. Es sind Millionen hier, die haben Millionen Probleme. Es kommen vielleicht 100 Leute, denen ich helfen kann. Und was ist mit den anderen?
Detjen: Aber was ist die Antwort darauf? Wir stehen ja heute vor einer Frage, was hätte die deutsche Politik, die Mehrheitsgesellschaft, was hätte dort anders getan werden können, wo sind da sozusagen die Weggabelungen, an denen sich etwas verzweigt und die Geschichte doch hätte anders verlaufen können?
"In den 60er-Jahren waren die Deutschen nicht so arrogant"
Schneider-Gürkan: Die deutsche Gesellschaft musste akzeptieren, das sind auch Menschen, die haben eine andere Kultur, aber sie sind auch Menschen, sie müssen nicht erzogen werden, sie müssen so akzeptiert werden, wie sie sind.
Detjen: Wo würden Sie das ansetzen? Sie haben eben gesagt, als Sie gesagt haben, Sie würden nicht sagen, dass wir hier friedlich zusammenleben, Sie haben gesagt: seit AfD. Muss man nicht weiter zurückgehen, wo fängt das eigentlich an, dass dieses Zusammenwachsen der Gruppen in der Gesellschaft, tja, vielleicht muss man sagen, scheitert? Ich habe jetzt gefunden, 1973 haben wir in Deutschland den Anwerbestopp, da endet dieser gezielte Import von Arbeitskräften aus der Türkei. In diesem Jahr findet man Zeitungsartikel, und da muss man eben nicht zur AfD gehen, "Die Zeit", die Wochenzeitung "Die Zeit" macht im April 1973 auf mit einem Artikel, Überschrift ist: "Nigger, Kulis oder Mitbürger? Unser Sozialproblem Nummer eins, die Gastarbeiter". "Proletarier aller Länder", heißt es da in dem Artikel, "vereinigen sich auf dem Boden der Bundesrepublik, unsere Aufnahmefähigkeit ist nicht uferlos, wir müssen den Zustrom ausländischer Arbeitnehmer drosseln". 1973, "Die Zeit", im gleichen Jahr, Juli 73, "Der Spiegel": "Die Türken kommen, rette sich, wer kann."
Schneider-Gürkan: Aber wissen Sie, ich kannte viele junge, evangelische Pfarrer, die haben mir Sprüche von Luther geschickt, da fängt Türkenfeindlichkeit an. Aber in den 60er-Jahren waren die Deutschen, nachdem sie den Krieg verloren haben, nicht so arrogant. Es war auch ein fortschrittliches Deutschland, Studentenbewegung, Gewerkschaftsbewegung und so weiter. Da sind die Arbeitnehmer aus anderen Ländern akzeptiert worden, Sie müssen auch wissen, das sind die Arbeitnehmer, zum Beispiel Spanier sind zum großen Teil Antifaschisten. Sie hatten auch wirklich politische Erfahrung. Griechen auch, Portugiesen auch. Wir haben in den Gewerkschaften, wir haben in bestimmten Vereinen bei vielen Aktionen zusammengearbeitet, das hätte weitergehen können. Aber die deutsche Gesellschaft hat sich auch anders entwickelt. Wo sind diese früheren deutschen Linken geblieben? Wir hatten vor Jahren einmal eine Veranstaltung in Frankfurt, so eine Ausländerbeauftragte von Berlin, sie nannten sie Mutter der Türken, die Überschrift war: Sonnen- und Schattenseiten der Immigration. Mehrere sind auf die Sonnenseite gekommen, aber da hat weder die türkische Regierung noch die deutschen offiziellen Stellen etwas gemacht. Das sind mehrere Zufälle, zum Beispiel die Geburten waren weniger, dadurch haben viele Abitur gemacht, weil in den Klassen nicht so viele Schüler waren, weil viele fortschrittliche Lehrer gemerkt haben, das sind sehr intelligente Kinder, was weiß ich. Und auch in den USA sind Leute, die dort hingekommen sind, sie sind sehr fleißig, sie sind wohlhabend geworden. Viele haben eigene Häuser, sie haben Geschäfte.
Detjen: Sie sind zunehmend, noch nicht überall, aber zunehmend sichtbar in der Öffentlichkeit, in den Medien, in der Politik.
Schneider-Gürkan: Und dann habe ich in dieser Diskussion gesagt, okay, es sind einige schon auf die Sonnenseite gekommen. Am Anfang war eigentlich die Konkurrenz unter den Arbeitern wegen billigerer Wohnungen, wegen besserem Lohn und so weiter. Inzwischen ist das nicht mehr der Fall, die Konkurrenz fängt woanders an. Und deswegen war die Gesellschaft auch nicht so wie früher, die Konkurrenz findet woanders statt.
Detjen: Wo findet sie statt, wo sehen Sie sie, und wo sehen wir, sage ich jetzt mal, die Medien, die Mehrheitsgesellschaft, die Politik sie vielleicht nicht genug?
Schneider-Gürkan: In Mittelschichten, auch bei anderen Arbeitsplätzen, ja. Wenn Sie in Parlamente, auch wenn Sie in die Parteien gehen, da ist das auch Konkurrenz. Wenn Sie so gut sind, trotzdem haben sie Schwierigkeiten. Deswegen findet auch die AfD solche Möglichkeiten, sich unter den Leuten zu verbreiten, denke ich mal.
Detjen: Es gibt die AfD, es gab das Buch von Thilo Sarrazin mit der These einer gescheiterten Integration. Es gab die NSU-Morde, es gab den Brandanschlag in Mölln, das sind jedenfalls in großen Teilen der deutschen Gesellschaft, in der Politik Momente des Erschreckens gewesen, Schockmomente. Was würden Sie sagen, hat sich da bewegt, wie hat das gewirkt in der deutschen Gesellschaft?
Schneider-Gürkan: Ich glaube, nicht so viel. Wir haben Hanau jetzt erlebt und so weiter. Auch diese NSU-Morde, was ist passiert? Ich kenne die Rechtsanwältin, die noch immer bedroht wird.
Detjen: Die Drohungen bekommen hat, die über Lecks in der Polizei rauskamen.
Schneider-Gürkan: Noch immer, ja. Und der Verfassungsschutz hat damals wirklich also diese Familien unter Druck gesetzt. Und sie haben diesen Mann, der sich umgebracht hat, vom Verfassungsschutz, die Rechtsanwälte sind vom Innenminister bezahlt und so weiter. Ich glaube nicht, der große Teil der Deutschen ist bewusst, was da passiert. Wir, die türkische Linke, kennen die Verfassungsschützer sehr gut, den türkischen und den deutschen.
Detjen: Weil die türkische Linke selber beobachtet wurde, jedenfalls erhebliche Teile?
Schneider-Gürkan: Ja. Aber da haben wirklich jahrzehntelang die ganzen Faschisten in der Bundesrepublik auf höheren Posten gesessen. Die haben nur Augen für die Linken, die Rechten haben die nie interessiert.
Detjen: Sie haben eben selber gefragt, wo ist die Linke geblieben? Aber was man sieht, ist ja eine Generation von jungen, türkischstämmigen Menschen, ganz so jung sind die inzwischen auch nicht mehr alle, die hier eine Rolle spielen auch in der Kultur als Schriftsteller, als Filmemacher, als Journalisten, die schon prägend sind und auch eine spezifische Stimme geworden sind in der deutschen Kultur. Wie nehmen Sie die wahr, wenn Sie auf diese jüngere Generation, die zweite, dritte Generation der Nachfahren schauen?
Schneider-Gürkan: Natürlich, diese ganze politische Denkweise, Aktionen und so weiter, hat sich im 21. Jahrhundert geändert. Die jungen Leute, die zweite, dritte Generation aus der Türkei, die sind möglicherweise nicht so politisch wie wir. Aber das heißt nicht, dass sie nicht politisch sind. Sie fangen auch an, im Kulturleben, in Wissenschaft, besonders im Journalismus, da sind so viele türkische Frauen, die bei "Zeit", "taz", "Spiegel", glaube ich, allgemein sind da wirklich sehr, sehr gute Leute. Und ich verliere nicht die Hoffnung, wir werden zusammen die beiden Gesellschaften ändern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.