Die Umsetzung von Inklusion und Integration stellt für ein Drittel der Lehrer an allgemeinbildenden Schulen das größte Problem in ihrem Beruf dar. Das geht aus der jüngsten Forsa-Umfrage im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung hervor. Regelschullehrer seien zumeist allein in der Klasse, auch wenn Kinder mit Behinderungen unter den Schülern seien, sagte VBE-Chef Udo Beckmann im Deutschlandfunk. Nur manchmal erhielten sie zwei, drei Stunden pro Woche Unterstützung durch Sonderpädagogen. So könne Inklusion nicht gelingen.
Inklusion werde zwar von Politik und Gesellschaft stark befürwortet, wenn Schulen aber die nötigen Konsequenzen einforderten, würden sie von der Politik im Stich gelassen, so Beckmann weiter. Die Politik habe es sich zu einfach gemacht. Sie habe die UNO-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was das für den Schulalltag bedeute und welche Ressourcen dafür nötig seien.
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Guten Morgen, Herr Beckmann!
Udo Beckmann: Guten Morgen! Ich grüße Sie.
Heinemann: Herr Beckmann, wenn Sie sich eine Klasse und Arbeitsbedingungen malen dürften, wie sähen die dann aus?
Beckmann: Wenn ich mir eine Klasse malen dürfte, dann wäre es eine kleine Lerngruppe, die maximal 24 Kinder hat. Und ich würde mir wünschen, dass dort ein Regelschullehrer und ein Sonderpädagoge ist, damit die ganze Bandbreite, die die Kinder mitbringen an Voraussetzungen, von den Lehrern pädagogisch bewältigt werden kann.
Heinemann: Worin unterscheidet sich Ihr Bild von der Schulwirklichkeit Ihrer Kolleginnen und Kollegen?
Beckmann: Mein Bild unterscheidet sich erst mal grundsätzlich darin, dass wir sehr große Klassen in vielen Bereichen haben. Dies ist nicht zuletzt auch durch die Zuwanderungswelle mal verstärkt worden, war aber vorher schon häufig so. Der Regelschullehrer ist in der Regel alleine in der Klasse. Auch wenn Kinder mit Handicap in der Klasse sind, ist er derjenige, der das bewältigen muss, hat manchmal Unterstützung ein, zwei Stunden, drei Stunden in der Woche durch einen Sonderpädagogen. Und so kann es nicht gelingen.
Heinemann: Inklusion bedeutet ja Zugehörigkeit und Einbeziehen. Gemeint sind Menschen mit Behinderung. Die allermeisten Menschen werden das befürworten. Wie erleben in der Regel Pädagoginnen und Pädagogen die Inklusionspolitik?
Beckmann: In der Öffentlichkeit erleben wir Politik, die Inklusion stark befürwortet, auch Anforderungen an Schule formuliert. Auch seitens der Gesellschaft ist das so. Aber wenn es darum geht, dass Schulen die notwendigen Gelingensbedingungen einfordern, dann werden sie von der Politik im Stich gelassen. Das melden uns auch repräsentative Umfragen, die der VBE zu diesem Thema durchgeführt hat, wieder.
"Ist-Zustand bedeutet eine riesige Herausforderung für die Kolleginnen und Kollegen"
Heinemann: Warum ist das so?
Beckmann: Die Politik hat es sich zu einfach gemacht. Man hat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, aber man hat sich keine Gedanken darüber gemacht, was das für den Schulalltag bedeutet, was das auch an Ressourcen bedeutet. Es gibt Schulversuche schon im Vorfeld, vor der UN-Behindertenrechtskonvention im sogenannten gemeinsamen Unterricht, in denen man dann die Klassen ausgestattet hat mit einem Sonderpädagogen, mit einem Regelschullehrer, und hat festgestellt, dass das alles wunderbar klappt. Als es aber dann dazu kam, dass man es in die Fläche bringen wollte, hat man gesagt, das können wir so nicht finanzieren, das muss auch anders gehen.
Heinemann: Was bedeutet der Ist-Zustand für den Unterricht?
Beckmann: Der Ist-Zustand bedeutet eine riesige Herausforderung für die Kolleginnen und Kollegen, der sie sich auch stellen. Sie wünschen sich allerdings auch hier nicht nur personelle Unterstützung, sondern sie wünschen sich vor allen Dingen auch Fortbildungsangebote, die ihnen dabei helfen, mit dieser Situation besser zurande zu kommen. Sie wünschen sich vor allen Dingen auch sogenannte multiprofessionelle Teams, dass die Schulen in Netzwerke eingebunden sind, in denen auch andere Professionen zur Verfügung stehen, sei es der Sozialpädagoge, sei es der Schulpsychologe, sei es die Schulgesundheitsfachkraft. All diese Punkte sind erforderlich, aber nicht erfüllt.
Heinemann: Herr Beckmann, wie haben sich die Unterrichtsbedingungen durch die Migranten verändert, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland gekommen sind?
Beckmann: Wir haben in den Lerngruppen schon seit jeher eine sehr große Heterogenität, also Verschiedenheit von Schülern. Dies ist natürlich durch die Zuwanderung noch verstärkt worden. Wir haben unterschiedliche Kulturen, wir haben unterschiedliche Talente und Voraussetzungen, manche Kinder, die sprachliche Voraussetzungen mitbringen, gute sprachliche Voraussetzungen mitbringen. Wir haben auf der anderen Seite Kinder, die vorher noch nie eine Schule besucht haben, die die Strukturen von Schulen gar nicht kennen, die eine ganz andere Schriftsprache haben, also eine riesige Bandbreite, die zusätzlich bewältigt werden muss.
Heinemann: Unter welchen Bedingungen könnte denn von Kita bis Schule Integration gelingen, ohne dass der Unterricht für die Muttersprachler darunter leidet?
Beckmann: Voraussetzung ist von der Kita bis in die Schulen hinein, dass die personellen Ressourcen stimmen, dass die Unterstützung durch die vorhin von mir genannten multiprofessionellen Teams stimmen. Dies sind die Grundvoraussetzungen, die gelöst werden müssen. Und wichtig ist, glaube ich, auch, dass Politik darauf achtet, dass auch bei der Zuweisung von Wohnungen für die Zuwanderung es keine geballten Räumlichkeiten gibt. Das heißt, dass man sie nicht in einem bestimmten Stadtteil nur unterbringt und damit die Schulen in diesen Stadtteilen die Integration gar nicht mehr ermöglichen können, weil es dann in vielen Lerngruppen nur noch Kinder aus einer bestimmten Region gibt.
"Das ist politisches Versagen an manchen Stellen"
Heinemann: Die Bundesregierung hat 2016 fast 22 Milliarden Euro für die Bewältigung der Migration ausgegeben. Wieviel ist davon in den Schulen angekommen?
Beckmann: Das kann ich nicht beziffern, weil die Länder sehr unterschiedlich damit umgegangen sind, wie sie es an die Kommunen weitergegeben haben. Es ist nur ein geringer Teil in den Schulen angekommen, weil viele andere Ausgaben ja erforderlich waren im Bereich Wohnungsbau, Unterbringung etc.
Heinemann: Stichwort Unterbringung. Die "Bild"-Zeitung berichtete gestern, Nordrhein-Westfalen zahle 28 Millionen Euro für ein leerstehendes Asylheim. Wie liest so etwas eine Schulleiterin oder ein Schulleiter, die oder der nicht wissen, wie sie den Stundenplan organisieren können?
Beckmann: Gut, das ist politisches Versagen an manchen Stellen, dass man nicht genau vorher überlegt, wie die Gelder fließen sollen beziehungsweise wie sie sinnvoll eingesetzt werden sollen. Wir Lehrer und Lehrerinnen sehen die großen Probleme, die wir in den Schulen haben, und warten darauf, dass die Bedingungen so hergestellt werden, wie ich sie vorhin beschrieben habe.
Heinemann: Ist dieses Versagen in Ihrem Bundesland, in Nordrhein-Westfalen besonders ausgeprägt?
Beckmann: Das glaube ich nicht. Das ist sicherlich in vielen Bereichen, in vielen Ländern wird es auch solche Fälle geben. Das erleben wir ja immer wieder, dass auch nachgewiesen wird, dass Steuergelder nicht vernünftig eingesetzt werden. Vielleicht hängt das aber auch damit zusammen, dass diese Anforderungen, die auch auf die Politik zugekommen sind, sie einfach überrollt haben und dass man nicht Zeit genug hatte, vernünftig zu überlegen.
Lehrer sähen als größtes Problem, "dass Politik Entscheidungen trifft, die mit der Schulwirklichkeit nichts zu tun haben"
Heinemann: Herr Beckmann, jede, die, und jeder, der einen Beruf beginnt, brennt dafür, freut sich auf die Aufgaben, in der Regel jedenfalls. Wie lange dauert es bei den gerade beschriebenen Arbeitsbedingungen, bis das Ursprungsfeuer bei Lehrerinnen und Lehrern erlischt?
Beckmann: Wir haben vor kurzem auch eine Umfrage zum Thema Berufszufriedenheit gemacht. Da haben die Lehrkräfte dem VBE geantwortet, dass sie mit hohem Engagement nach wie vor ihrem Beruf nachgehen, mit Freude nachgehen, trotz all dieser Dinge. Das erstaunt einen natürlich immer wieder. Aber sie sagen gleichzeitig, das größte Problem, das wir haben und was uns am meisten belastet, ist, dass die Politik Entscheidungen trifft, die mit der Schulwirklichkeit nichts zu tun haben.
Heinemann: Besserung in Sicht?
Beckmann: Wir arbeiten daran. Der VBE ist unterwegs, und wir werden nicht nachlassen, dafür zu sorgen, dass die Bedingungen in den Schulen für die Kolleginnen und Kollegen besser werden.
Heinemann: Udo Beckmann, der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung. Das Gespräch haben wir heute Früh um sieben Uhr aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.