Menschen mit einer Pollen- oder Hausstaub-Milben Allergie kennen das Prinzip: Bei einer sogenannten Hyposensibilisierung versuchen Ärzte, das Immunsystem schrittweise an die Allergene zu gewöhnen. Also an diejenigen Stoffe, die die Allergie auslösen. Meist spritzen Ärzte dazu einmal im Monat einen Allergenextrakt in den Oberarm und erhöhen die Dosis jedes Mal. Doch bei Lebensmittelallergien hat sich das lange Zeit niemand getraut, meint der Allergieforscher Harald Renz von der Philipps Universität in Marburg:
"Das war, weil das ein ganz aktiver Prozess des Abwehrsystems ist, das rote Tuch sozusagen beim Allergologen. Vor den Nahrungsmittelallergien, da hat man einen Riesenrespekt, da jetzt eine Hyposensibilisierung zu machen wurde lange Zeit als sehr gefährlich angesehen. Es kommt ja auch nach wie vor auch unter diesen Therapien auch durchaus zu Nebenwirkungen. Also bisher hat sich dieses Konzept der Hyposensibilisierung konzentriert auf Umweltallergene und nicht auf Nahrungsmittelallergene."
Doch inzwischen haben erste klinische Studien gezeigt, dass sich auch das Immunsystem von Lebensmittelallergikern besänftigen lässt. Es kann sich ganz allmählich an Nüsse, Milch & Co. gewöhnen. Und zwar, indem die Allergene über Patches, also Hautpflaster verabreicht werden. Oder über Tabletten, die gelutscht werden. In einer Untersuchung mit gut 350 Probanden beispielsweise konnten fast alle Allergiker nach einem Jahr eine ganze Erdnuss ohne starke Nebenwirkungen essen. Mehr als die Hälfte schaffte sogar drei Nüsse. Auch an Milchprodukte oder Baumnüsse, wie zum Beispiel Cashews, kann sich das Immunsystem gewöhnen. Für Harald Renz sind die Ergebnisse dieser Studien absolut überzeugend:
"Das ist eine fantastische Idee, es wurde dringend Zeit, dass das Konzept der spezifischen Immuntherapie - so nennen wir das heute in der modernen Sprache, endlich jetzt auch angewendet wird, zumindest in klinischen Studien und in ersten Produkten angewendet wird bei Nahrungsmittelallergikern."
Frühe Anwendung der Gewöhnungsstrategie besonders effektiv
Je früher Allergiker ihr Immunsystem an Nüsse, Eier & Co. gewöhnen, desto besser. Auch das hat die Erfahrung mit der Gewöhnungsstrategie gezeigt:
"Wir wissen, dass sie besonders gut funktioniert, wenn sie früh im Krankheitsgeschehen eingeführt wird. Wenn wir einen Allergiker haben oder einen Asthmatiker haben, der schon zehn, 20 Jahre so eine Erkrankung möglicherweise hat, dann ist der Effekt dieser Therapie schlechter, als wenn wir die Therapie beginnen bei einem Patienten, der vielleicht die erste oder zweite Pollensaison Probleme hat."
Noch besser klappt die Gewöhnung allerdings, wenn schon werdende Mütter ihr ungeborenes Baby im Mutterleib immer wieder mit möglichen Allergenen konfrontieren. Also indem sie selbst Milch, Eier oder Nüsse konsumieren. Der Rat an werdende Mütter, diese Lebensmittel während Schwangerschaft und Stillzeit zu vermeiden, um Allergien vorzubeugen, ist inzwischen überholt, meint Harald Renz:
"Von diesen Vermeidungsstrategien ist man jetzt abgekommen, die finden wir nicht mehr in den aktuellen Leitlinien. Warum? Weil wir wissen, dass diese Vermeidungsstrategien wenig gebracht haben am Ende des Tages und weil wir eben auch heute wissen, dass wir eben sehr wohl eine gewisse Exposition brauchen, um das Immunsystem aktiv zu trainieren. Also das Immunsystem des ungeborenen Säuglings, des Feten und dann auch des Neugeborenen. Wir brauchen die Auseinandersetzung mit dem Übeltäter, um uns davor adäquat schützen zu können. Das ist das, was wir in der Immunologie gelernt haben: Vermeidung hilft da nicht, sondern aktive Auseinandersetzung."
Gilt für Allergene aus Lebensmitteln, aber auch aus der Umwelt
Doch nicht nur mit Lebensmitteln sollte sich das Immunsystem möglichst früh und regelmäßig auseinandersetzen. Auch der häufige Kontakt zu Allergenen aus der Umwelt, wie Pollen oder Hausstaub können das Immunsystem besänftigen. Nicht zuletzt scheint es aber auch wichtig zu sein, dass das Abwehrsystem möglichst früh mit Bakterien konfrontiert wird: Nur so kann es auf den richtigen Kurs gebracht werden:
"Und da kommt jetzt die Mikrobioforschung ins Zentrum, wo wir wissen, dass eine Dysbalance, oder eine - wir nennen das auch eine Dysbiose, eine Fehlverteilung von Darmbakterien - übrigens nicht nur im Darm, sondern auch in anderen Oberflächen des Organismus, ganz eng assoziiert ist, gekoppelt ist an die Entwicklung von Allergien. Und das näher zu verstehen ist ein riesiges Forschungsfeld weltweit, viele Gruppen arbeiten auf dem Gebiet, jetzt herauszubekommen, welche Bakterien das nun ganz genau sind, die da verschoben sind. Entweder zu viel oder zu wenig vorhanden sind, wie die Zusammensetzung sich verändert hat und wie das denn auch kausal, also von den Ursachen her, mit der Allergieentstehung zusammenhängt."
Auch deshalb sollte der Mensch keine Angst vor Bakterien aus der Umwelt haben und Kinder möglichst viel an der frischen Luft spielen lassen. Denn dort bekommt auch das Immunsystem, was es für seine Entwicklung braucht: Die Auseinandersetzung mit Keimen und Allergenen.