Gilgamesch, Homer, Medea, das Buch Esther, Platon, Konfuzius, Lukrez, Beowulf, Rumi, viel Shakespeare, die "Gefährlichen Liebschaften". Diese Aufzählung ist nicht vollständig, macht aber schon klar, wie verzwickt es ist, heutzutage, im Zeitalter des Weltwissens, einen Kanon der Literatur zusammenzustellen, vor allem dann, wenn es um die Literatur der ganzen Welt geht. In der vorliegenden Sammlung liegt der Schwerpunkt beim Abendland mit einigen Ausflügen nach China und in die 1001 Nacht. Afrika und Ozeanien fehlen in dieser Auswahl ganz, und was Europa betrifft, hier liegt England, genauer die Epoche der Elisabethaner ganz klar in Führung.
Vielleicht aber sollte man ein Unternehmen, das den etwas großspurigen Titel "The Graphic Canon" trägt, nicht ganz so streng betrachten. Der Herausgeber dieser dreibändigen Ausgabe ist die Sache selbst nämlich eher locker angegangen. Dem amerikanischen Autor und Verleger Russ Kick, Jahrgang 1969, fiel eines Tages auf, wie viele klassische Texte, vom Epos des Gilgamesch bis zu den Romanen Franz Kafkas, bereits in gezeichneter Form vorliegen. Die Idee für seine Anthologie war geboren. Russ Kick sprach weitere Künstler an, und die steuerten wieder ihre Lieblingstexte, manchmal in eigener Wortfassung, immer mit jeweils typischer zeichnerischer Handschrift bei. Zudem hat Russ Kick sein Unternehmen offen gestaltet. Wer, wie der deutsche Verlag Galiani, die Rechte der Übersetzung erwirbt, darf die Sammlung um Texte aus dem eigenen Sprach- und Kulturkreis ergänzen. So hat die Künstlerin Kat Menschik der deutschen Ausgabe drei Bögen, die das Nibelungenlied illustrieren, beigesteuert. Also, nicht nur Größenwahn, sondern auch Meister Zufall und angelsächsischer Pragmatismus begleiten das Unternehmen. Der Verlag Galiani stapelt mit dem deutschen Titel "Weltliteratur als Graphic Novel" sowieso eher zu tief als zu hoch. Am besten kommt man mit diesem Kanon klar, wenn man ihn als Leistungsschau betrachtet: als ein Streifzug durch die Gegenwartskunst der Graphic Novel.
"Zurück in Uruk, säubern sie ihre Körper. Gilgamesch wäscht seine verfilzten Haare und kratzt den Dreck von den Waffen.
Plitsch Platsch!
Plonk!
Tropf!
Plosch!
Reib Reib!
Gluck Wuschi Blubb!"
Plitsch Platsch!
Plonk!
Tropf!
Plosch!
Reib Reib!
Gluck Wuschi Blubb!"
Der Zeichner Kent Dixon zum Beispiel hat seine Wurzeln erkennbar im Comic. Dixons Panels sind ebenmäßig, die Figuren schwarz weiß, Text und Bild illustrieren einander, die Vorlage wird auf ihren Witz hin untersucht. Ein Verfahren, das wiederkehrt bei Künstlern wie Valerie Schrag, die sich das griechische Lustspiel Lysistrata vorgenommen hat, oder bei Julian Peters, der eine Ballade von Francois Villon umsetzt. Weitere Künstler, die ebenfalls in Schwarz-weiß arbeiten, beziehen das Lettering oder die Visualität der Epoche in die Architektur ihrer Seiten mit ein. Als Beispiel sei hier das biblische Buch Esther, genannt, illustriert von J.T. Waldman:
"Am Ende dieser Tage gab der König allen, die in der Hauptstadt Susa waren, vom Größten bis zum Geringsten, Sieben Tage lang im Hofgarten des Palastes ein Festmahl. Weisses Leinen, mit Purpur gerahmt, hing an silbernen Ringen von Marmor-Säulen herab. (...) Am siebten Tag war der König voll des Weines. Da befahl er seinen sieben Eunuchen, die ihn persönlich bedienten, Mehumam, Biseta, Harbona, Bigta, Abagta, Setar und Karkas: 'Königin Waschti soll im königlichen Diadem vor mich treten'."
Opulenz, Dekadenz, Pracht und Verschwendung, auch die latente Drohung, die sich hinter dem königlichen Befehl verbirgt, all das findet sich im Bild wieder. In überladenen Säulenhallen, zwischen die hebräische Buchstaben, Fresken und Mosaike gesetzt werden, in stürzenden, sich auflösenden Bildfluchten. Hier sind Text und zeichnerische Gestaltung eine Verbindung eingegangen, die neue Betrachtungen eröffnet. Der Band "Graphic Canon" bietet viele Überraschungen, viele solide Einfälle - etwa wenn eine Schachtelerzählung aus 1001 Nacht in immer kleinere Bildkästchen gesetzt wird. Oder die Briefe, die zwischen den unglücklichen Liebenden Abelard und Heloise gewechselt wurden. Für ihre Interpretation wählt die Künstlerin Ellen Lindner florale Ornamente und sie verleiht dem Liebespaar bewusst grobe Gesichtszüge. Damit zitiert sie die Technik des mittelalterlichen Holzschnitts. Lindner arbeitet, im Kontrast zur Dramatik der Briefe, mit warmen Herbstfarben, womit man beim vielfältigen Thema der Koloration angekommen ist. Spätestens hier wird deutlich, wie frei sich die vom Herausgeber Russ Kick angesprochenen Künstler bewegen. Von monochrom bis bunt, vom spärlich betexteten Bildbogen bis zum Gemälde geht hier alles: Die Grenzen zur Buchillustration und zur Bildenden Kunst wurden offen gehalten. Es liegt nahe, dass eine solche Vielfalt auch Mittelmaß produziert. Nicht jeder Beitrag zu diesem Band ist ein absolutes Muss. Aber: Nebenbei, und gerade auch bei den Auftragsarbeiten, sind auch echte Kunstwerke entstanden.
So hat der amerikanische Zeichner Gareth Hinds einen Beowulf geschaffen, der ganz ohne Worte auskommt. Man sieht in seinen unsymmetrischen Panels die Klauenhand und den langen Schatten des Monsters Grendel, dann das Entsetzen in den Gesichtern der trinkenden Männer in der Methalle, erst dann die Fratze des Menschenfressers. Diese Auflösung in Bildsequenzen erzielt Dynamik, zugleich bleibt die Bildaussage archaisch. Preisverdächtig ist auch eine Interpretation des berühmten 18. Sonetts von Shakespeare, vorgelegt vom Künstlerduo Robert Berry und Josh Levitas. Shall I compare thee to a summers day?
"Soll ich vergleichen einem Sommertage
Dich, der du lieblicher und milder bist?
Des Maien teure Knospen drehn im Schlage
Des Sturms und allzu kurz ist Sommers Frist."
Dich, der du lieblicher und milder bist?
Des Maien teure Knospen drehn im Schlage
Des Sturms und allzu kurz ist Sommers Frist."
Mit einer Rahmenhandlung, einem Blick in das Ateliers eines Zeichners, mit Bild und Bild im Bild, mit einer versetzten Chronologie und einem langen Blick durch das Atelierfenster hinaus in den Sommertag schaffen die beiden Künstler einen perfekt anmutenden Moment der Stille. Fast meint man zu hören, wie Shakespeare selbst auf Socken den Raum durchquert. Das ist grandios, und wer den Graphic Canon, die Weltliteratur als Graphic Novel gekauft hat, wird sich spätestens auf dieser Seite freuen.
Russ Kick (Herausgeber): The Graphic Canon,
Weltliteratur als Graphic Novel,
Verlag Galiani, Berlin. 504 Seiten, 49,99 Euro.
Weltliteratur als Graphic Novel,
Verlag Galiani, Berlin. 504 Seiten, 49,99 Euro.