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Gezielte Lockerungen oder No-Covid
Wissenschaftler streiten über die Wege aus der Coronakrise

Wie soll es weitergehen mit dem Lockdown in Deutschland? Darüber streiten nicht nur Bund und Länder. Auch unter Wissenschaftlern gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, mit welcher Strategie – auch mit Blick auf die SARS-CoV-2 Varianten – die Corona-Pandemie in Deutschland eingedämmt werden kann.

Volkart Wildermuth im Gespräch mit Lennart Pyritz |
Auf einer Schultafel steht mit Kreide geschrieben LOCKDOWN VERLÄNGERUNG.
Schultafel mit der Aufschrift "Lockdown-Verlängerung" (imago )
Die Infektionszahlen beginnen zwar zu sinken, auf der anderen Seite liegt die Sieben-Tage-Inzidenz für Deutschland aber immer noch bei 131,5 Infektionen pro 100.000 Einwohner und damit weit entfernt von dem angestrebten Wert von 50. Außerdem bereiten die neuen Varianten von SARS-CoV-2 Sorgen, die sich deutlich schneller ausbreiten. Bund und Länder haben sich sich bei ihrem Treffen am 19. Januar deshalb darauf geeinigt, den bestehenden Lockdown bis zum 14. Februar zu verlängern und strengere Corona-Regeln zur Bekämpfung der Pandemie umzusetzen.
Nicht nur unter Politikern, auch unter Wissenschaftlern gibt es unterschiedliche Ansätze und Konzepte, welche Strategie bei der Eindämmung der Corona-Pandemie tatsächlich nachhaltig ist. Dlf-Wissenschaftsjournalist Volkart Wildermuth erklärt im Gespräch mit Lennart Pyritz, welche Positionen unter Wissenschaftlern sich dabei grob beschrieben gegenüber stehen.

Volkart Wildermuth: Überspitzt gesagt gibt es da zwei Lager. Die einen – dazu zählen zum Beispiel Hendrik Streek und Jonas Schmidt-Chanasit, gucken eher auf die größte Risikogruppe. 70 Prozent der COVID-19 Todesfälle treten in Deutschland bei den über 80-Jährigen auf. Deshalb müssten gerade in Alten- und Pflegeheimen gezielt die Schutzmaßnahmen hochgefahren werden, konsequentes Maske tragen, konsequentes Testen. Das ist zwar eigentlich Standard, aber bei der Umsetzung ist noch Luft nach oben. Dann würde es zu deutlich weniger schweren Verläufen und Sterbefällen kommen. Und wenn die Intensivstationen wieder Luft haben, dann könnte man auch mit den Lockerungen in der breiten Bevölkerung beginnen. Gerade auch in den Schulen, denn Kinder selbst sind ja kaum gefährdet.

Der Blick auf die Über-80-Jährigen greift zu kurz

Die andere Gruppe sagt, das greift zu kurz. Dazu zählen zum Beispiel Christian Drosten und Melanie Brinkmann. Risikogruppe sind schließlich nicht nur die ganz Alten, in Deutschland haben 40 Prozent der Bevölkerung ein erhöhtes Risiko. Wenn man die Heime schützt und rundherum lockert, dann fürchten sie, erkranken die 65-jährigen. Die haben ein niedrigeres Sterberisiko, aber es liegt auch noch bei einem Prozent. Und weil es von diesen Babyboomern sehr viele Menschen gibt, werden eben doch wieder viele schwerbetroffene Patienten und Tote zu beklagen sein. Deshalb müssten die Infektionszahlen generell drastisch nach unten gedrückt werden.
Lennart Pyritz: Hendrik Streeck, also ein Vertreter der ersten Strategie, hat gesagt, solange der Winter andauere, sei es fast unmöglich, die Zahlen deutlich zu senken. Wie ist das einzuschätzen?
Wildermuth: Es ist sicher schwer, aber gucken wir, was gerade in anderen Ländern passiert: In England und Irland schossen die Zahlen um Weihnachten extrem nach oben, vielleicht auch wegen der neuen Variante B.1.1.7., die im Verdacht besonders ansteckend zu sein. Diese Welle hat mit dem üblichen Zeitverzug das Gesundheitssystem erreicht, so dass es aktuell am Rande der Kapazitäten agiert. Aber inzwischen weist die Zahl der Neuansteckungen so steil nach unten, wie sie vorher angestiegen ist. Es ist also möglich, mit einem harten Lockdown die Infektionen effektiv zu verhindern und die Epidemie sehr weit zurückzudrängen.

No-Covid - nachhaltige Strategie aus der Corona Pandemie?

Pyritz: Gestern wurde auch ein Vorschlag vorgelegt, der nennt sich No-Covid. Da wird ein noch härterer Lockdown gefordert, um die Zahlen schnell herunterzubringen. Was hat es damit auf sich?
Wildermuth:Da geht es im Grunde um eine Doppelstrategie. Zum einen soll ein starker aber zeitlich begrenzter Lockdown die Zahlen herunterbringen. Dann aber muss es eine zweite Phase der Wachsamkeit geben: viel, sehr viel testen, Kontakte nachverfolgen, schnell isolieren und wo immer es auch zu kleinen Ausbrüchen kommt, direkt wieder mit einem Lockdown gegensteuern. Das haben Australien und Neuseeland vorgemacht, auch China. Beispiel Melbourne: Als da 22 Fälle entdeckt wurden, ging die ganze Millionenstadt wochenlang in den Lockdown. Die Menschen hatten unter wesentlich stärkeren Kontakteinschränkungen zu leiden, aber dafür können sie sich inzwischen wieder frei bewegen.
Also insgesamt zwei Strategien mit unterschiedlichem Fokus. Im Grunde will die erste Strategie vor allem die Intensivstationen wieder handlungsfähig machen, akzeptiert aber ein, wenn auch niedrigeres Niveau von schweren Verläufen, während die zweite wirklich auf das Ende dieser Epidemie in Deutschland und idealerweise synchron in ganz Europa abzielt. Beide Strategien fordern natürlich ein möglichst schnelles Impfen um, wenn es geht, eine Gruppenimmunität zu erreichen.

Die Politik muss klare Ansagen machen

Pyritz: Gestern hat eine Gruppe von Forschenden aus Virologie, Epidemiologie, Psychologie, und Wirtschaftswissenschaften den Politikerinnen und Politikern ihre Argumente vorgestellt, wie es mit der Pandemiebekämpfung weitergehen sollte. Waren denn beide Strategien in dem Beraterinnenkreis von Bundes- und Landesregierungen vertreten?
Wildermuth: Ja, das kann man sagen. Gérard Krause hat immer eher für gezielte Maßnahmen plädiert, während Michael Meyer-Hermann einer der Unterzeichner des No-Covid Vorschlags ist. Wobei diese Seite doch die Mehrheit im Beratergremium hatte. Das spiegelt aber nach meiner Einschätzung durchaus wider, dass doch eine Mehrzahl der Forscherinnen und Forschern so argumentiert. Aber die verschiedenen Vorschläge liegen auf dem Tisch, und dann ist es eben eine politische Entscheidung, wo man den Schwerpunkt legt, was das Ziel sein soll. Klare Ansagen sind notwendig, denn es geht nicht nur um die konkreten Maßnahmen, sondern auch um die Bereitschaft sie einzuhalten. Bei den vielen Anpassungen und Nachjustierungen sinkt das Vertrauen. Während des ersten Lockdowns haben viele schon vor der offiziellen Verkündung der Einschränkungen freiwillig ihre Kontakte erheblich reduziert. Heute, das zeigen ja auch die Mobilitätsdaten, versucht im Grunde jeder für sich die Ausnahme zu finden

Studien brauchen Daten

Pyritz: Jetzt wird ja über ein ganzes Bündel von Maßnahmen diskutiert: Schulschließungen, medizinische Masken, mehr Homeoffice. Gleichzeitig fordert vor allem die Opposition, dass erst einmal belegt werden soll, was genau wie effektiv ist. Eine realistische Forderung?
Wildermuth: Leider nein. Studien brauchen Zeit und Studien brauchen Daten. Es gibt viele Erkenntnisse, aber die beziehen sich oft auf die erste Welle. Die Politik muss Entscheidungen treffen, bevor wirklich alle Daten im Detail vorliegen. Das geht, weil die großen Linien klar sind: Das Virus wird über Kontakte übertragen und wenn die eingeschränkt werden, gehen die Zahlen herunter und dazu trägt jede einzelne Maßnahme, medizinische Maske, Homeoffice und so weiter bei. Dieser Zusammenhang hat sich in vielen Ländern bestätigt, auch wenn nicht so einfach auseinander gerechnet werden kann, welchen Anteil die Schließung der Friseure jetzt genau hat.