Von Anfang an hat Elfriede Jelinek die an den Konsum gekoppelten Sehnsüchte, vor allem die weiblichen, mit sarkastischer Ratlosigkeit entlarvt. Eines ihrer schönsten frühen Hörspiele trägt den Titel "Wenn die Sonne sinkt, ist für manche auch noch Büroschluß". Die Kunstfiguren des Kaufhauskönigs Markus und der rehäugigen Verkäuferin Gaby, zwischen denen die Liebe ausbricht, sind als geschlossene Nicht-Individuen gezeichnet. Mit gestanzten Dialogen aus dem Groschenroman vertreten sie ein ureigenes Jelineksches Anliegen: die Demontage der idealistischen Philosophie - zuletzt explizit in ihrem Anti-Heidegger-Stück "Totenauberg" vorgenommen. In "Gier" heißt es dazu:
"Früher war der Geist die ganze Welt, heute ist er z.B. eine Familienserie, die ihm die Füße versengt, wenn er nicht sofort weiterläuft, zur nächsten Folge, immer vor der Werbung her, von ihr gejagt wie von einer schlecht gelaunten Löwin."
Der Mensch hat keine Wahl: Die im Kapitalismus suggerierte Entscheidungsfreiheit ist eine – Zitat - "Wunschmaschine als Waschmaschine der Wirklichkeit" und somit Teil des Systems. Das Kaufhaus- und Büro-Hörspiel schrieb sie 1972. Seitdem ging sie konsequent ihren Weg, bis sie vor fünf Jahren mit dem Opus magnum "Die Kinder der Toten" auf einsamem Niveau all ihre Themen, Anklagen und Besessenheiten bündelte und mit dem Leichengift der Hoffnungslosigkeit vermischte.
Der sogenannte Unterhaltungsroman "Gier" wiegt um vieles leichter als "Die Kinder der Toten". Es fehlen ihm das große Thema, der historische Furor und die überragende Symbolsprache. "Gier" wirkt wie ein ermatteter Epilog auf die zentralen, immer wieder variierten Jelinekschen Themen. Fast scheint es, als sei Elfriede Jelinek der Attacken in ihrem Heimatland müde geworden, als habe sie vor der Macht des Faktischen - in diesem Fall der schwarz-blauen Koalition - resigniert.
Als sie im Oktober 1998 den Georg-Büchner-Preis erhielt, sagte Ivan Nagel in seiner Laudatio, dass kaum ein anderer deutschsprachiger Schriftsteller der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts so geschmäht worden sei wie Elfriede Jelinek. Als "rote Pornographin" oder "Kunst- und Kulturschänderin" gilt sie einer Phalanx von der FPÖ über die "Kronenzeitung" bis zu Teilen des Klerus. "Warum der Hass?" fragte Nagel und ging auf die Bedeutung der Lüge im Werk der Autorin ein: Dieses bebe und zucke in den Fängen der Lüge, die sie mittels der Montage entlarve. Eine Wahrsagerin sei Jelinek, "die unausweichlichste, die wir haben".
Die Wahrsagerin ist mittlerweile eher kleinlaut geworden. Sie hat sich auf heimisches Terrain zurückgezogen, nämlich in die Steiermark, in die alpinen Talzonen von Enns, Mur und Mürz. In Mürzzuschlag wurde Elfriede Jelinek 1946 geboren. Der Roman "Gier" sagt unmissverständlicher als der Vorläufer "Lust", wo er hinzielt: auf die Verbindung von Geschlechtstrieb und Besitztrieb im Jahre eins der schwarz-blauen Koalition in Österreich. Das Kleinbürgertum mit seinen Gemeinheiten und Trivialmythen, von Elfriede Jelinek seit ihren Frühwerken wie "wir sind lockvögel baby!" aufs Korn genommen, hat jetzt das Ruder in der Hand.
Im Roman blitzen die Freudschen und sonstigen Fehlleistungen der neuen Regierung vereinzelt auf. Thomas Prinzhorn von Jörg Haiders Freiheitlicher Partei zum Beispiel faselte etwas von der gefährlichen Fruchtbarkeit der Ausländer. Darob fragt ihn die Erzählerin, ob er - Zitat - "das ganze Land in Besitz nehmen und ficken" wolle. Damit ist die skandalöseste Stelle des Buchs schon benannt. Prinzhorns Äußerung traf auf verbrannten Boden, den der verwirrte Ausländerhasser Fuchs mit selbstgebastelten Bomben bereitet hatte. Der ewige Spießer kann sich jetzt, im Jahr 2000, von der Politik bestätigt fühlen. Er kehrt sein Innerstes nach außen und stellt es aus. Allerdings: die an sich harmlose Alpenrepublik steht als "Menschenfresserland" unter internationaler Beobachtung.
"Behandeln wir einmal kleine Figuren als etwas ganz Großes. Werden wir unruhig, weil wir selber dazugehören könnten, ohne groß geworden zu sein. Ebenfalls. Für immer klein geblieben, trotz allem: das Urteil. Was wir auch erzeugen, es bleibt uns unbenommen, es nimmt uns halt keiner ab. Kein Käufer. Wir beteuern vieles, wir haben es nicht so gemeint, doch die EU zerrt mit ihren Mutterhänden an uns, nicht einmal die Nase putzen können wir uns mehr, ohne daß wir von ihr streng beobachtet werden. Was haben wir da schon wieder angerichtet? Einen leckeren Kaiserschmarrn. Der Herr Fuchs mit seinen bombigen Armstümpfen hätte das nicht zusammengebracht, der hat nicht zu uns gehören dürfen, obwohl er die ganze Arbeit für uns gemacht hat. Jetzt hat er sich an einem Wandhaken aufgehängt. [...] Der Fremdenverkehr ist jetzt ein bissel vorbei, weil wir in Europa boykottiert werden."
Wie alle Jelinekschen Helden ist der Gendarm Kurt Janisch, die männliche Hauptfigur von "Gier", ein Prototyp, ein Popanz. Wie dem Alptraum-Ehepaar Gerti und Hermann aus "Lust" ist auch in "Gier" den Protagonisten keine eigene Stimme gegeben. Sie nehmen durch Charakterisierung und Rollenprosa Kontur an, nicht durch wörtliche Rede. Fesche steirische Burschen wie Janisch, der immerhin schon Mitte fünfzig und Großvater ist, wittern durch die neue politische Großwetterlage offenbar Morgenluft. Eine seltsam ungehaltene, zugleich ihres eigenen Tuns unsichere Erzählerinnen-Figur solidarisiert sich mit jenen Frauen am Steuer, deren Führerscheine und Körper der Gendarm im Dienst kontrolliert:
"Nicht nur zum Erhalt des Weltfriedens tischen Männer den Frauen Lügen auf, um sie von sich abhängig zu machen, während Frauen doch was Besseres anzubieten haben, ihr ganzes Denken und Fühlen und vieles aus bunten Wollen. Es ist ja verständlich, daß wir, vor allem die mit den älteren Geschlechtern, die nicht viel gesehen haben durch die kleinen Ausstiegsluken des Körpers, uns trotzdem Fremde bleiben müssen! wir liebeshungrigen Damen, wir kennen diesen Gendarmen (die Blüte der Landstraße verkehrt direkt vor seinem Einsatz-Wagen und wir sind nicht dabei) leider nicht persönlich. Keine Sorge, ich mach das schon: Um Ihr kleines Liebesglück, das, wie jedes andre auch, auf Täuschung beruht, nicht zu gefährden, übernehme ich jetzt lieber allein das Erzählen. Fallen Sie mir nicht ins Wort hinein! Ich sehe, um den Krieg zwischen den Körpern zu verhindern, im Moment noch nicht einmal genau deren Aufgabe. Nicht einmal diese Entschlossenheit in dem Mann, die ich bereits spüre, kennt derzeit noch recht ihr Ziel, aber ich weiß, sie sucht es seit langem und wird es im leichtest Verderblichen, dem menschl. Körper, finden. Wer sich selbst kennt, will danach sofort was vom andern, aber die anderen wollen es dann auch gleich."
Zwei Bedürfnisse prallen hier aufeinander: der elementare Liebeswunsch von Frauen jeden Alters begegnet der erotisch verbrämten Habgier des hochverschuldeten Gendarmen. Die Liebe wird im wahrsten Sinne des Wortes materialisiert. Die Frau wird zum Haus, in das der allzeit bereite Janisch eindringt, wann immer es ihm beliebt:
"Zwei Beine spreizen sich, ganz für ihn allein, einfach so, und ein ganzes Haus kommt in ihrer Mitte daher. Dieser Mann schießt sich also für ein Haus vor, verlangt sich aber im gleichen Atemzug wieder zurück, denn er selbst ist ja schon alles, was er zu investieren hat."
Sein Ziel ist die Inbesitznahme von Eigenheimen aus Frauenhand. Dafür geht Janisch über Leichen. Im Jelinekschen Begriffskosmos sind Männer Agenten des Todes, Frauen hingegen Hüterinnen des Lebens. Letztere mag die altgediente Misanthropin trotzdem nicht. Sie wirft ihnen Fixierung auf den Mann, Passivität, Masochismus vor, getreu einem Diktum Friedrich Nietzsches: "Das Glück des Weibes heißt: er will. - Das Glück des Mannes heißt: ich will." Was liegt da näher, als um den männlichen Willen Kurt Janischs herum eine Kriminalhandlung zu konstruieren? Als Referenztexte des Romans gibt Elfriede Jelinek unter anderem Sachbücher über Sexualmörder und die Liebeskommandos der Stasi an. In einer Einführung zu ihrem Science-Fiction-Hörspiel "Die Bienenkönige" begründet sie ihre Leidenschaft für Verbrechensgeschichten:
"In der Kriminalgeschichte werden die Ventile vorgeführt, durch die in scharfem Dampfstrahl die allgemeine Gewalttätigkeit der Gesellschaft hindurchzischt. Der Deckel will sich vom Topf heben, in dem die Aggressivität siedet, er kann aber nicht in die Höhe, denn er ist von Kirche, Staat, Schule, Gesellschaft fest angeschraubt worden. So muß eine winzige Schwachstelle herhalten, ein bewegliches Dampfdruckventil, und der gebündelte Dampfstrahl rast mit ungeheurer Wucht gegen die Decke, wo dann ein feuchter Fleck übrigbleibt."
Die in Österreich seit jeher hochgeschätzte "schöne Leich’" lässt nicht lange auf sich warten. Es ist eine wunderschöne junge Wasserleiche namens Gabi. Der Teenager war zu Lebzeiten die Zweitgeliebte des Gendarmen. Jeden Morgen nahm er sie zur Firma mit, beziehungsweise zum Stelldichein im verschwiegenen Wald. Als er befürchtet, sie könnte seiner Liaison mit seiner Hauptgeliebten, der Hausbesitzerin Gerti, im Wege stehen, erdrosselt er sie und wirft die Leiche in den See. Flugs wird dem See ein eigenes, sich endlos hinziehendes Kapitel gewidmet, eine Ode an die Natur. Die von Industrie und Fremdenverkehr geschändete Natur und ihre Verbündeten, die im Patriarchat zum vegetativen Dasein verdammten Frauen, bilden die Gegenwelt zur Hegemonie der Männer. In "Gier" kommen als weitere Verbündete noch die Berge hinzu, deren unberechenbare Lawinen dem Fremdenverkehr den Garaus machen. Die Natur habe immer Lust auf Katastrophen, und der Sex sei nur eine davon, erfahren wir. Alle diese Motive sind im Jelinekschen Werk sattsam bekannt, nicht erst seit ihrem Hörspiel "Porträt einer verfilmten Landschaft" - auch hier handelte es sich um die Steiermark.
Addiert man die oft müßigen, krampfhaft um Kalauer ringenden Kommentare und Befehle der offensichtlich gelangweilten Erzählerin hinzu, gewinnt man immer stärker den Eindruck eines Abgesangs. Das Eigenheim-Sujet hat die ansonsten so gefürchteten Sprachkrallen und -Zähne der Autorin stumpf werden lassen, scheint es. Es führt zu einer enttäuschenden Biederkeit, zu einer eigenartigen Bausparkassen-Prosa. Selbst dem Tod wird ausdrücklich eine gute Hausfrauenhand bescheinigt. Bemüht selbstironisch beschreibt die Erzählerin ihr Tun, kritisiert ihre Figuren und greift damit jederzeit in die Handlung ein. Das erweist sich bald als Eigentor. So ist man geneigt, ihr zuzustimmen, wenn sie über ihren männlichen Helden sagt:
"Ich mag ihn jetzt schon nicht. Das wirft man mir oft vor, daß ich dumm dastehe und meine Figuren fallenlasse, bevor ich sie überhaupt habe, weil sie mir offengestanden rasch fade werden. Vielleicht gerade jetzt, da der Staatsdiener sich über den fremden Bauplan beugt, den er gestohlen hat, vielleicht ist er jetzt glücklicher als wir? Und das soll uns interessieren?"
An anderer Stelle delegiert sie ihre Ratlosigkeit direkt an die Leserschaft. Dabei demonstriert sie ihr Verfahren der Collagierung von Sentenzen und Spruchweisheiten:
"Ich zum Beispiel habe nichts zu sagen angesichts der Figuren, die ich erschaffe, her mit den Redewendungen und drauf, und noch eine und noch eine, bis sie sich unter mir winden vor Schmerz oder vielleicht auch, weil sie zuwenig Platz haben. Diesen Sprachnerv hätten Sie mir niemals ohne Narkose ziehen dürfen!"
Es nützt alles nichts, Erzählerin und Leser müssen mit diesem Personal vorankommen. Trost bietet der weite literarische und musikalische Anspielungshorizont des Romans. Er reicht von diversen Operetten über Franz Schuberts "Winterreise" mit ihrem Fremdheitsmotiv bis zu Ingeborg Bachmann und den klassischen Burgtheater-Autoren Anton Wildgans und Johann Nestroy.
Dennoch: Durch neun Kapitel hindurch entfaltet sich ein Wiederkäuer-Text über Hörigkeit, Friseurbesuche, Frauenprobleme im allgemeinen. Die Kopulationsszenen zwischen Janisch und Gerti stehen in puncto Drastik denen aus "Lust" kaum nach, wenn sich jetzt auch ein grimmiger Humor eingeschlichen hat - denn die Frauen, suggeriert der Roman, wollen es ja so.
"Einsame Frauen, sehr gepflegt, aber nicht mehr jung, sie schnappen nach allem, was sich regt und Hosen trägt, was sie selber schließlich auch tun. Aber das genügt ihnen nicht, und sie bekommen manchmal Appetithappen dazugelegt, Fleisch, mit dem sie noch nicht mehr gerechnet hatten, und das jetzt dafür mit ihnen rechnet. Hmm, ob die Wohnung wohl ausbezahlt ist? Eine sehr gepflegte Frau geht diese Woche schon zum zweiten Mal zum Friseur und läßt sich die Nägel seidenfein lackieren, sowas fällt allgemein auf; besser als ein Dichter es sagen könnte, sagt ihr Körper mit diesen Zeichen, daß er sich sehnt und auch endlich weiß, nach wem."
Wie zu den vor-emanzipatorischen Zeiten Simone de Beauvoirs wird die Frau als das "andere", auf den Mann bezogene und ohne ihn unvollständige Geschlecht definiert. Der Backfisch Gabi gerät eher zufällig in den Reigen unerfüllter Existenzen. Die Erzählerin hingegen gehört wie Gerti der "Herbstkollektion des Lebens" an. Sie ist stark vom ewigen weiblichen Selbsthass affiziert:
"Jede Frau vergißt sich einmal. Da ist ja auch nicht viel, was man sich merken müßte."
In diesen monothematischen Sermon können sich ganz unvermittelt relativ ironiearme Landschaftsschilderungen mischen. Hier endet die Beschilderungswut der Erzählerin plötzlich, sie wird beinahe kleinlaut. In ihrer Büchnerpreis-Rede sagte Elfriede Jelinek: "Es stehen einander zwei Dinge gegenüber, die Sprache und ihr Besitzer." In "Gier" fragt sie sich, wie man eine Wasserlandschaft wie die des Sees schildern könne, ohne wirklich ihre Sprache zu kennen. In solchen Momenten wird der Roman poetologisch interessant. Die Autorin wagt sich auf neues Gebiet, jenseits der bei Jelinek häufig vorkommenden vegetativen Anverwandlung von Frau und Natur. So ist Gabis Leiche, die endlos lang auf ihre Entdeckung warten muss, schließlich doch noch zu etwas nutze: Sie dient der Anrufung von Wasser und Bergen als nicht domestizierbaren, politikfernen Elementen. Dass es auch mit Gerti, jener einstmals selbstbestimmten Frau, die am Alleinsein scheitert und der schlichten Virilität des Gendarmen verfällt, nicht gut ausgehen kann, versteht sich von selbst. Sie stirbt von eigener Hand, vergiftet sich - eine klassische weibliche Todesart. Doch schon lang vor ihrem Exitus interessiert auch diese Figur nicht mehr. Ihr hauptsächlicher Daseinszweck bestand darin, sich und ihr Haus appetitlich für den Herrenbesuch herzurichten. Keinerlei Aufbegehren findet mehr statt, kein Vampirismus, kein Kastrationsversuch - erfrischende Untaten, die im letzten Roman "Die Kinder der Toten" noch zuhauf vorkamen. Die erzählte Zeit von "Gier" ist eine bleierne."
Die souveräne, unbeirrbare Aufklärerin Elfriede Jelinek ist ratlos geworden. Unter der geistigen Regentschaft des Jörgl H. hat sich die zuverlässige Staatsfeindin ins Einfamilienhaus zurückgezogen. Das ist entschieden zu klein für eine Schriftstellerin ihres Formats.