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Gift fürs Gehirn
Heuschrecken-Embryos entlarven schädliche Chemikalien

Von zehntausenden Industriechemikalien, die uns im Alltag umgeben, könnten einige der Gehirnentwicklung schaden. Welche, ist weitgehend unbekannt, denn die Tests sind aufwändig und teuer. Laborversuche mit Heuschreckenembryos sollen das ändern.

Von Andrea Hoferichter |
Eine 3D-Animation zeigt in roter Farbe das Nervensystem eines Heuschrecken-Embryos.
Ein Heuschrecken-Embryo mit rot eingefärbtem zentralen und peripheren Nervensystem. (Karsten Bode, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover)
Der Biologe Gerd Bicker von der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover öffnet die Tür zum Heuschreckenhaus. Die Luft ist warm und feucht. Die Insekten tummeln sich in Glaskästen. "Hier sehen Sie die erwachsenen Tierchen, wie die futtern. Das sind die Larvalstadien. Und dieses hier sind die Gefäße, in denen die Weibchen dann ihre Eier ablegen."
Gerd Bicker und sein Team haben es auf die Embryos in den Eiern abgesehen. Mit ihrer Hilfe wollen sie giftige Substanzen ausfindig machen, die die Entwicklung des menschlichen Gehirns negativ beeinflussen, oft schon im Mutterleib. Die Folgen können zum Beispiel Lernschwierigkeiten sein, das Zappelphilipp-Syndrom ADHS oder autistische Störungen.
Günstiger als Ratten, aussagekräftiger als Zellversuche
Bisher ist die sogenannte Entwicklungsneurotoxizität nur für gut ein Dutzend Substanzen nachgewiesen, darunter Blei, Arsen, Alkohol und Quecksilberverbindungen. Von den zehntausenden künstlich hergestellten Chemikalien, die uns im Alltag umgeben, könnten manche ähnliche Effekte haben. Doch das wurde noch nicht getestet. Der Grund: Die bislang notwendigen Tierversuche mit Laborratten sind zeitaufwändig, teuer und ethisch umstritten.
Gerd Bicker erklärt: "Deshalb probiert man heutzutage, ob man so eine Testung durch Zellkulturen hauptsächlich ersetzen kann. Man kann in Zellkulturen testen: Wirkt eine Chemikalie auf die Vermehrungsfähigkeit der neuronalen Vorläuferzellen? Wirkt sie auf das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen? Wirkt sie darauf, ob Verschaltungsstellen gebildet werden? Das ist also alles möglich. Nur, es gibt bisher eben kein Verfahren, dass mir genau anzeigen kann: Wird die Verdrahtung von Nervenzellen wirklich exakt durchgeführt? Und dafür haben wir eine Testmethode entwickelt."
Auf Heuschreckenembryos setzen die Forscher, weil in ihnen Nervenbahnen nach ähnlichen Prinzipien wachsen wie in der menschlichen Hirnrinde, dem Ort des Denkens und Fühlens. In den Embryos spielen dabei sogenannte Pionierneuronen eine wichtige Rolle, die eine erste Nervenbahn aus dem Bein in Richtung zentrales Nervensystem bilden.
Leuchtendes Nervensystem
"Die Nervenbahn, die ist sehr, sehr definiert", sagt Gerd Bicker. "Das passiert in jeder Heuschrecke, seit Millionen von Jahren, seitdem es also Heuschrecken gibt. Und wenn Chemikalien Effekte auf die Verdrahtung haben, dann gibt es Abnormalitäten. Dann wachsen die nicht mehr auf dem richtigen Weg aus."
Zu erkennen ist das Ganze auf einem Computermonitor, der an ein Fluoreszenzmikroskop angeschlossen ist. Gerd Bickers Kollege Dr. Karsten Bode erklärt das leuchtend rote Bild eines Heuschreckenembryos: "Mit diesem fluoreszierenden roten Antikörper hier kann ich das zentrale Nervensystem markieren und dann sehen wir hier die Beine und diese Pionierneurone. Und wir gucken dann: Sind die in die richtige Richtung gewachsen, wie lang sind die geworden und ob diese Chemikalie einen Einfluss hat, ob sich diese Pionierneuronen überhaupt richtig ausbilden."
Offiziell keine Tierversuche
Mit diesem Verfahren und einer lasergestützten 3D-Bildgebung konnte das Team entwicklungsneurotoxische Substanzen zu 83 Prozent korrekt erkennen. Da Experimente mit Heuschrecken vom deutschen Tierschutzgesetz nicht erfasst werden, gelten sie nicht als Tierversuche, sagt Gerd Bicker. Die untersuchten Embryos hätten zudem noch keine Sinneszellen, die einen eventuellen Schmerzreiz weiterleiten könnten.
Als Nächstes möchte er die Methode mit anderen tierversuchsfreien Verfahren zu einer Art Testbatterie kombinieren. "Man nimmt menschliche Zellen, man nimmt Zellen von Labornagern, entwickelt damit Testsysteme. Und es gibt schon welche, die zur Verfügung stehen. Und da würde eben jetzt als besonderer Knackpunkt Wegfindung unser System gut reinpassen."
Ausweitung von neurotoxischen Tests gefordert
Um Menschen besser vor gehirnschädigenden Chemikalien zu schützen, fehlt es bisher aber nicht nur an Testverfahren, sondern auch an Methoden zur Risikobewertung und vor allem an politischen Vorgaben. Tests zur neurotoxischen Wirkung von Chemikalien auf das sich entwickelnde Gehirn müssten verpflichtend werden und Chemikalien strenger reguliert, am besten international. Fachleute aus Wissenschaft und Medizin fordern das schon seit Jahren.