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Gigantische Aufgaben für die neue chinesische Führung

Auf dem Nationalen Volkskongress soll der Führungswechsel in China besiegelt werden. Große Probleme warten: Das chinesische Wachstum lahmt, dafür wächst die Kluft zwischen Arm und Reich. "Ich traue der neuen Führung zu, das zu schaffen", sagt Frank Sieren, Journalist und Autor des Buches "Angst vor China".

Frank Sieren im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Jasper Barenberg: Von heftigen Machtkämpfen ist er überschattet, öffentlich sichtbar wie noch nie zuvor, und von Korruptionsskandalen auch. Und doch ist der Führungswechsel in China seit Jahren sorgsam vorbereitet, gilt der Umbruch erst als der zweite geordnete in der Reihe der Machtübergaben überhaupt in der mehr als 60-jährigen Geschichte der Volksrepublik China. Und diese Machtübergabe hat vor vier Monaten begonnen, als Xi Jinping an die Spitze der Kommunistischen Partei trat. In den nächsten Tagen wird er vom bisherigen Parteichef Hu Jintao auch das Präsidentenamt übernehmen, auf der Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses in Peking. Dort nimmt auch Regierungschef Wen Jiabao seinen Hut, macht Platz für den deutlich jüngeren Li Keqiang. Die alte Führung hat China ein rasantes Wachstum beschert, das Land ist heute die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Gemessen am bisherigen Tempo aber lahmt das Wachstum inzwischen, dafür wächst die Kluft zwischen Arm und Reich, erschüttern soziale Proteste das Land, untergräbt Korruption den Führungsanspruch der Partei. Was wird die neue Führung also unternehmen oder unternehmen können? In den nächsten Minuten wollen wir darüber mit dem Buchautor und Journalisten Frank Sieren sprechen. Einen schönen guten Morgen nach Peking.

    Frank Sieren: Guten Morgen!

    Barenberg: Herr Sieren, ist das chinesische Wirtschaftswunder zu Ende?

    Sieren: Nein, auf keinen Fall. Das ist sicherlich noch viel zu früh, davon zu sprechen. Dazu ist China auch viel, viel zu wichtig für die Weltwirtschaft, weil viele unserer Produkte, man kann sogar sagen die meisten unserer Produkte ja in China hergestellt werden und eben nicht mehr nur die Badeschlappen, sondern auch die iPhones und die Computer. Und weil es umgekehrt natürlich das Land ist, wo die meisten deutschen Autos hin verkauft werden. Das heißt, dieses Geschäftsmodell, diese Beziehung wird noch eine ganze Weile halten, trotz der großen Probleme, die das Land hat.

    Barenberg: Stößt das bisherige Wachstumsmodell denn an Grenzen?

    Sieren: Das stößt natürlich an Grenzen. Einerseits im Umweltbereich: Da hat es ja in den letzten Wochen und Monaten doch dramatische Entwicklungen gegeben mit Luftschadstoffwerten von 900. Zum Vergleich: In München schlägt man schon bei 30 die Alarmglocken. Und das bedeutet natürlich, dass man nicht einfach so sorglos weiter wachsen kann, sondern aufpassen muss und versuchen muss, diese Schattenseiten der Entwicklung in den Griff zu kriegen. Das Problem der Umweltverschmutzung, vor allem der Luftverschmutzung ist besonders dringend, weil natürlich auch die mächtigen Kader die gleiche Luft einatmen und deren Kinder und deren Ehefrauen genauso besorgt sind wie die Menschen auf der Straße, die auch diesen widrigen Umweltbedingungen ausgesetzt sind. Also da muss auf jeden Fall was passieren. Zum anderen ist das große Thema die Korruption. Bisher war es halt so, dass man gesagt hat, na ja, gut, das Land wächst, ist einigermaßen stabil, und wenn sich da der eine oder andere was einsteckt, dann ist das so schlimm nicht. Inzwischen ist die Entwicklung aber an einen Punkt gekommen, ist die Korruption an einen Punkt gekommen, wo die Bevölkerung sagt, so geht es nicht mehr weiter. Das hat ein so großes Ausmaß angenommen und ist so unverschämt, dass in dieser Frage auch dringend was passieren muss, wenn die Partei, die Politiker in China nicht ihre Legitimation verlieren wollen.

    Barenberg: Sie haben Umweltverschmutzung genannt und die verbreitete Korruption. Kritiker beschreiben ja noch weitere Schattenseiten: die große Armut, die sozusagen die Kehrseite des Wirtschaftswachstums ist, Ansprüche einer wachsenden Mittelschicht, viele soziale Spannungen, soziale Proteste, die das Land immer wieder erschüttern. Beschrieben wird da ein Bild einer Gesellschaft, die auseinanderdriftet. Und es ist ja auch von einem verlorenen Jahrzehnt die Rede, jetzt wo die Führung abtritt. Teilen Sie diese doch sehr pessimistische Einschätzung?

    Sieren: Die teile ich in dem Ausmaß nicht. Es ist ein sozusagen Jahrzehnt gewesen, in dem man hätte mehr machen können, aber in dem man es immerhin geschafft hat, das Land und die Entwicklung einigermaßen in der Balance zu halten. Was die Frage der Schere zwischen Arm und Reich betrifft, da ist natürlich schon dann ein Vergleich angebracht zu anderen Ländern, dass man mal nach Russland schaut, dass man nach Indien schaut, in andere Entwicklungsländer, und da zeigt sich dann schon, dass China doch vergleichsweise gut dasteht. Vor allem im Vergleich zu Indien, was solche Fragen betrifft wie Schulausbildung, wie Lebenserwartung, medizinische Versorgung. Da hat man auch in den letzten zehn Jahren einiges hinbekommen. Aber es ist natürlich schon so, dass die Erwartungen der Menschen vor allem in den Städten, in den Küstenregionen natürlich steigen und damit auch die Erwartungen an die Regierung größer werden.

    Barenberg: Was muss denn die neue Führung aus Staatspräsident und Regierungschef jetzt aus Ihrer Sicht als Erstes anpacken?

    Sieren: Das Wichtigste sind schon diese beiden Themen, die ich eben genannt habe, weil das die Themen sind, die sozusagen bei der Bevölkerung auf der Straße die größte Rolle spielen. Und gleich danach kommt die Frage, wie kann man es hinbekommen, dass die Menschen in dem großen Land gleichmäßiger an dem Wachstum teilhaben. Das ist natürlich auch ein riesiges Thema. Der Küstenregion geht es sehr, sehr gut, im Hinterland sieht das schon schlechter aus, und deswegen muss die Regierung jetzt versuchen, mehr Unternehmen im Hinterland anzusiedeln, auch mehr des Geldes, was sie einnimmt, zum Beispiel durch die Exporte, an die Ärmeren zu verteilen. Die Regierung muss dringend damit beginnen, das Sozialsystem aufzubauen, damit auch die Menschen in ärmeren Regionen, wenn sie krank werden, nicht völlig auf sich allein gestellt werden. Und sie muss es noch besser als bisher hinbekommen, dass die Menschen ordentlich ausgebildet werden. Das ist zwar im Vergleich zu Indien schon sehr, sehr viel besser, aber wenn das Land mit dem internationalen Wettbewerb mithalten will, dann muss man in dieser Frage noch sehr, sehr viel mehr tun, und das sind natürlich große, wenn nicht sogar gigantische Aufgaben für die neue Führung unter Staatspräsident Xi Jinping.

    Barenberg: Ganz kurz zum Schluss: Trauen Sie es der neuen Führung zu, das zu schaffen?

    Sieren: Ich traue der neuen Führung zu, das zu schaffen. Ich glaube auch, dass die beiden Führungsfiguren das wollen. Die Frage ist natürlich, wie viel Spielraum sie haben, weil sie haben natürlich auch mächtige Gegner, die zum Beispiel ihre Staatsbetriebe schützen wollen und die dann bestimmte Fortschritte verhindern. Das wird sich erst in den nächsten sechs, acht Monaten zeigen, wie viel Spielraum da vorhanden ist.

    Barenberg: Wir werden das weiter beobachten. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen. Frank Sieren, Journalist und Buchautor, heute Morgen hier im Deutschlandfunk.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.