Christoph Vormweg: Frau Lustiger, ich kann mich nicht erinnern, in den letzten Jahren einen französischsprachigen Roman gelesen zu haben, der so viele höchst unbequeme Informationen über das heutige Frankreich transportiert: das Leben in den Banlieues, die Konflikte an den Schulen, die Prostitution, Antisemitismus und Korruption in der Politik, den krebsfördernden Arbeitsalltag in der französischen Chemieindustrie und so weiter. Meidet die Mehrheit der französischen Schriftsteller solche brisanten Themen lieber? Und: Warum greifen ausgerechnet Sie all diese Themen auf?
Gila Lustiger: Ich würde nicht direkt sagen, dass die französischen Schriftsteller diese Themen meiden. Ich würde eher sagen, sie interessieren sie nicht. Und das hat sehr wahrscheinlich mit dem Selbstverständnis der Franzosen zu tun - wenn man so pauschal reden kann -, dass sie sich eben doch sehr individuell definieren und nicht als Teil einer Gesellschaft. Die meisten französischen Schriftsteller heute schreiben Autofiktion, schreiben über sich selber, über ihre Depressionen, über ihre Ehe, über ihre Kindheit, über ihre Krankheiten, über ihre Sorgen - und eben nicht über Frankreich. Ich wollte eigentlich gar keinen Roman schreiben. Ich hatte nur irgendwann mal das Gefühl, dass ich das Land, in dem ich lebe, nicht mehr verstehe. Marine Le Pen, also die Front national, das ist die rechtsradikale Partei, wurde gerade in den Regionalwahlen zweitgrößte Partei Frankreichs. Dann fingen die Unruhen in den Banlieues an, da wurden Autos abgefackelt. Die ersten antisemitischen Übergriffe fingen an.
Jede fünf Minuten stand jemand anderes streikend auf den Straßen: Mal waren es die Hebammen, dann waren es die Ärzte, dann waren es die Apotheker, dann waren es die Taxifahrer - und irgendwie habe ich gemerkt: Es gibt hier soziale Unruhen, das Land ist im Umbruch - und ich las nichts darüber. Nicht nur, dass ich nichts darüber bei den Schriftstellern las, auch nicht in der Presse, in den Medien. Keiner erklärte mir, was hier eigentlich vorgeht. Und daraufhin bin ich losgezogen und habe mir das Land angeschaut und bin in verschiedene Orte, auch in Industrie-Kleinstädte, in kleine Käffer, in denen es 30 Prozent Marine-Le-Pen-Wähler gab, in Banlieues und Vororte mit Immigrationshintergrund, mit hoher Arbeitslosigkeitsquote - und so ist dieser Roman erst entstanden.
"Das Arbeiter-Milieu hat mir am meisten imponiert"
Vormweg: Und wie haben Sie verhindert, dass Ihr Roman "Die Schuld der anderen" bei einer so hohen Informationsdichte schwerfällig wird? Denn er liest sich ja wie ein "Page-Turner". Also der ist ungeheuer spannend und auch rasant, kann man sagen.
Lustiger: Ich habe einfach, um keine These zu schreiben und lange über die französischen Verhältnisse zu debattieren, was ich gerne mache, habe ich mir einfach eine Gattung als Scheuklappen praktisch ausgesucht, die handlungsorientiert erzählen muss. Die Krimistruktur war mein Korsett. Die Struktur eben dieses Polit-Thrillers war etwas, was mich daran gehindert hat, lange zu erklären, zu beschreiben und einfach immer wieder, wenn es ausufernd wurde, zurückzugehen zur Handlung.
Vormweg: Und wie kommt es zu diesem Roman-Titel "Die Schuld der anderen"?
Lustiger: Es geht ja immer wieder um die Schuldfrage in dem Roman. Mein Protagonist hebt ja sehr gerne den Zeigefinger und beschuldigt alle möglichen Leute und entdeckt am Ende etwas, was wir jetzt nicht verraten sollten.
Vormweg: Dieser Marc Rappaport ist ja ein Protagonist, der geradezu recherche-süchtig ist. Ist ihr Roman auch einfach ein Lob des sogenannten investigativen Journalismus?
Lustiger: Ich war ja diejenige, die Recherche betrieben hat zwei Jahre. Und eigentlich sind die Orte, die er aufsucht, die Orte auch, die ich aufgesucht habe. Von daher ist diese Suche oder dieses Durch-das-Land-Ziehen etwas total Autobiografisches.
Vormweg: Mit welchen Milieus haben Sie sich bekannt gemacht?
Lustiger: Eigentlich quer durch Frankreich. Und was mich im Nachhinein, heute kann ich sagen - was mir am meisten imponiert hat, ist das Arbeiter-Milieu in Frankreich: in den Industrie-Kleinstädten mit hoher Arbeitslosigkeitsquote. Diese Menschen sieht keiner eigentlich, sie kommen nie zu Wort. Die Leute, die ich in dem Roman beschreibe, sind Arbeiter, die einem krebserzeugenden Zwischenstoff ausgesetzt waren, die ich auch getroffen habe. Die sind alle stumm. Die haben überhaupt keine Sprache und auch überhaupt keine Möglichkeit, ihr Leid herüberzubringen und zu artikulieren.
"Ich komme von meinen Identitätsproblemen nicht weg"
Vormweg: Inwiefern ist "Die Schuld der anderen" auch ein Familienroman? Sie haben ja schon öfter Familienromane geschrieben.
Lustiger: Ich komme davon einfach nicht weg: Ich komme weder von meinem Judentum weg noch von meinen Identitätsproblemen noch von meiner Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Das ist bei mir immer irgendwie - obwohl ich es nicht will - ein Thema.
Vormweg: Und was war in den Familienzusammenhängen für Sie besonders wichtig?
Lustiger: Was ich im Nachhinein sehr spannend bei ihm finde, ist, dass mein Protagonist eigentlich zwischen den Milieus steht. Er kommt aus einem guten Stall, aus einer Industriellen-Familie, die nicht-jüdisch ist, einerseits. Andererseits ist sein Vater ein jüdischer Intellektueller, er kommt aus einer Akademiker-Familie, also nicht so gut situiert. Und er möchte es eigentlich allen recht machen und weiß eigentlich nicht, wo er dazugehört: ob er nun Jude ist oder Christ, ob er nun Intellektueller ist... Es ist so ein Protagonist, der gerne die Welt auffächert in Schwarz und Weiß, aber selber in einer Grauzone ist.
Vormweg: Die Übersetzung ins Französische Ihres Romans ist schon in Arbeit oder schon fertig. Was erwarten Sie als Wahl-Pariserin für eine Reaktion?
Lustiger: Ich glaube nicht, dass ich "french bashing" betreibe. Ich glaube, dass ich einfach die Zustände hier darstelle. Und ich hoffe, dass man, anstatt sich zu sagen, dass ich Deutsche bin, einfach sich überlegt, was ich beschreibe und dann darüber redet.
Vormweg: Vielen Dank für das Gespräch, Frau Lustiger.
Gila Lustiger: Die Schuld der anderen. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2015. 493 Seiten, 22,99 Euro.