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Gilles Reckinger: "Bittere Orangen"
Sklaverei in Europa

Hungerlöhne und katastrophale Lebensbedingungen: In der süditalienischen Zitrusfrüchteproduktion arbeiteten überwiegend afrikanische Migranten unter erschütternden Verhältnissen, sagte der Ethnologe Gilles Reckingers im Dlf. In seinem neuen Buch beschreibt er seine jahrelangen Beobachtungen vor Ort.

Gilles Reckinger im Gespräch mit Tanya Lieske |
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    "Bittere Orangen" von Gilles Reckinger zeigt ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa (Cover: Peter Hammer Verlag, Hintergrund: picture alliance / dpa / Matthias Tödt)
    Tanya Lieske: Zitrusfrüchte, Orangen, Mandarinen, Zitronen, erreichen uns als Verbraucher im nördlichen Teil Europas meist frisch gepflückt und erstaunlich preiswert. Eine Massenprodukt, das seine Reise in den Norden in orangefarbenen Kisten angetreten hat. Sofern diese Kisten in Italien, in Kalabrien oder auf Sizilien gefüllt werden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Migranten am Werk waren, die mit ungesichertem Aufenthaltsstatus in Italien leben. Sie kommen aus Afrika und haben die gefährliche Reise über das Mittelmeer hinter sich. Gilles Reckinger ist Ethnologe, er lehrt und unterrichtet an der Universität Innsbruck. Ihn erinnern die Umstände, unter denen diese Menschen nach Europa gekommen sind, und die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, an das Schicksal der afrikanischen Sklaven aus früheren Jahrhunderten.
    "Die Menschen müssen zu extrem ausgebeuteten Bedingungen arbeiten"
    "Bittere Orangen, eine neues Gesicht der Sklaverei" heißt Gilles Reckingers neues Buch. Herr Reckinger, warum sind afrikanische Erntearbeiter Sklaven?
    Gilles Reckinger: Es ist so, dass im äußersten Süden Kalabriens, in der Ebene von Gioia Tauro um die Stadt Rosarno herum, sich das Herz der kalabrischen oder süditalienischen Orangenproduktion oder Zitrusfrüchteproduktion konzentriert. Es gibt einen zweiten, bedeutenderen Produktionsort, das ist Sizilien, aber auf dem Festland ist diese Region sozusagen die bedeutendste. Es ist eben so, dass die Menschen, die diese Orangen pflücken, in sehr großer Zahl eben Menschen sind aus afrikanischen Ländern jenseits der Sahara, also subsaharischen Gebieten. Es gibt auch Menschen aus Osteuropa, die dort arbeiten, das ist eine andere Migration, und die sind auch anders mit Rechten ausgestattet - deswegen möchte ich das jetzt hier nicht so in den Blick nehmen -, aber eben die Menschen, die aus Afrika kommen, die sind überwiegend eben über das Meer gekommen, also diese viel beschworene zentrale Mittelmeerroute über die Insel Lampedusa nach Italien hinein. Und wir wissen ja, dass die europäische Solidarität in Bezug auf den Umgang mit diesen Menschen, die über das Meer kommen, nicht sehr gut funktioniert und dass ganz viele Menschen in Italien festsitzen.
    Das bedeutet, dass die Menschen zu extrem ausgebeuteten Bedingungen arbeiten müssen. Die Menschen verdienen für einen Arbeitstag zwischen zehn und zwölf Stunden 25 Euro, sie müssen aber dann noch den Transportteil quasi, dass der Bauer sie in einem überfüllten Minibus zu der Plantage bringt, die vielleicht ein, zwei Kilometer entfernt ist von dem Arbeitsstrich, wo er die Arbeiter abholt, noch mal fünf Euro zahlen. Das heißt, es bleiben maximal 20 Euro für einen Arbeitstag zurück. Es ist eine Tagelöhnerarbeit und eine saisonale Arbeit. Dadurch, dass die Konkurrenz inzwischen groß ist, weil sehr viele Menschen in Italien festgesetzt sind, finden die Leute nur an fünf bis zehn Tagen während drei Monaten im Jahr Arbeit, das heißt, es sind nur wenige hundert Euro, die in diesem Zeitraum verdient werden können.
    "Die Leute wohnen in regelrechten Slums"
    Lieske: Wie leben diese Menschen?
    Reckinger: Dementsprechend sind die Lebensbedingungen natürlich katastrophal, das ist klar. Aufgrund der extrem engen finanziellen Lage wohnen die Leute dann in regelrechten Slums tatsächlich, also so, wie wir sie aus Fernsehbildern vielleicht aus der sogenannten Dritten Welt kennen. Diese Verhältnisse gibt es eben auch in Europa - also Plastikbehausungen, Kartonbehausungen, in verlassenen Fabriken, direkt auf den Plantagen, ganz unterschiedliche Wohnverhältnisse, die aber alle von extrem schwierigen Bedingungen gekennzeichnet sind, also kein fließend Wasser, in den allerseltensten Fällen Strom, keine hygienischen Vorkehrungen, also kein Anschluss ans Kanalsystem, der Müll wird nicht abgeholt von der Gemeindeverwaltung und so weiter.
    Lieske: Sie haben dort vor Ort in diesen Slums zahlreiche Interviews mit Migranten geführt, aus der Subsahara-Gegend sagen Sie, viele kommen aus Ghana. Gibt es etwas, was all diesen Erzählungen gemeinsam ist?
    Reckinger: Was mich auf jeden Fall immer wieder gewundert hat, ist, dass die Menschen gesagt haben, wir haben niemals in unserem Leben in solchen Verhältnissen leben müssen wie jetzt hier in Europa. Und wenn man sich den Kilopreis, den sie bekommen, ausrechnet für ein Kilo Orangen, das sie pflücken, dann kommt man auf ungefähr zwei Cent. Das ist in keinem Land der Welt ein guter Lohn, auch nicht in Afrika, auch wenn viele in Europa das oft denken. Aber tatsächlich sind die Leute schockiert über die Bedingungen, unter denen sie hier leben müssen, und zwar unabhängig davon, ob sie jetzt aus Ländern kommen, die verhältnismäßig politisch stabil sind, wie etwa Ghana - weil Sie es erwähnt haben - oder Senegal, als auch Menschen, die aus Kriegsgebieten kommen, wie der Zentralafrikanischen Republik oder Ländern wie Liberia, die hier von anderen Krisen erschüttert wurden in den letzten Jahren.
    Wirtschaftsflucht "ist von Europa produziert"
    Lieske: In der medialen Debatte in Europa wird sehr viel Wert gelegt auf diese Grenze zwischen Wirtschaftsflüchtling und Kriegsflüchtling. Halten Sie diese Grenze - das entnehme ich dem, was ich eben gehört habe -, halten Sie die für nicht existent oder für nicht so klar definiert?
    Reckinger: Genau, die ist nicht so klar zu definieren, denn vieles, das als wirtschaftliche Gründe sozusagen bei uns verhandelt wird, ist von Europa produziert und ist Ausdruck imperialer Vorgangsweisen. Also etwa, wenn man jetzt schaut, verschiedene westafrikanische Länder, die unter diesem CFA-Franc stehen, einer Währungsunion, die einseitig an den französischen Franc beziehungsweise an den Euro gebunden ist und die Wirtschaft in dieser Gegend ganz massiv hemmt, weil sie überwiegend europäischen Interessen dient und die Währung zu hart ist für sozusagen die Wirtschaftsleistung dieses Landes, dann muss man sagen, diese Perspektivlosigkeit, aus der die Leute dann fliehen, die hat auch mit uns in Europa zu tun.
    Ethnologen analysieren und verändern nur mittelbar
    Lieske: Migration setzt sich aus vielen Einzelschicksalen zusammen, das wird sehr deutlich, wenn man Ihr Buch liest. Sie sind mit der Fragestellung und der Haltung des Ethnologen unterwegs. Beschreiben Sie mir diese vielleicht in Abgrenzung, ja, zu Mitarbeitern von NGOs, die sich mit den Migrantinnen und Migranten beschäftigen oder auch mit journalistischen Fragen.
    Reckinger: Der größte Unterschied zum journalistischen Fragen ist sicherlich der, dass der Ethnologe, die Ethnologin den Luxus der Zeit mit sich hat, das heißt, ich kann tatsächlich über Jahre da hingehen - ich bin 2012 erstmals hingefahren und bis heute sozusagen regelmäßig dort und kann deswegen eine langzeitlichere Perspektive einnehmen. Das ist sicherlich eines - und auch die feinen Veränderungen wahrnehmen, die es gibt, zum Beispiel auch, dass eben die Diskurse über die Migration über das Mittelmeer in Europa bestimmten Konjunkturen unterliegen, so wie es aktuell ja sehr, sehr deutlich ist, also immer restriktiver. Aber eben die strukturelle Orientierung, die bleibt gleich. Das kann ich als Ethnologe sozusagen langzeitlicher begleiten, verstehen und analysieren, das ist das eine.
    Das andere ist, dass ich als Ethnologe im Gegensatz zu NGOs losziehe, die Menschen aus ihrer Perspektive sozusagen zu verstehen und die Arbeits- und Lebensbedingungen auch sichtbar zu machen, Zusammenhänge verstehbar zu machen, auch die Menschen dabei unterstützen, ihre Stimme hörbar zu machen. Und NGOs oder Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen von NGOs haben einen Handlungsimperativ, die wollen und müssen ganz unmittelbar etwas für die Menschen tun. Ich kann das allenfalls mittelbar hoffen zu erreichen beziehungsweise einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich die bestehenden Verhältnisse vielleicht ändern können über ein Bewusstmachen der Ungerechtigkeiten, die dem zugrunde liegen. Das führt durchaus zu Schwierigkeiten. Das führt einerseits zum Teil zu Schwierigkeiten, dass verschiedene Menschen, die in diesen Slums wohnen, sagen: Was machst du hier, es wird doch für uns nicht besser. Andere sagen natürlich, nur über eine strukturelle Analyse kann es überhaupt besser werden. Aber das gibt es natürlich, solche Widerstände, und das kann ich nur zu gut verstehen, und andererseits macht das auch mit Ihnen als Forscher etwas. Es ist natürlich klar, wenn man dieses Elend sieht, Tausende von Menschen, die jedes Jahr unverändert in der Nässe und in dem Schimmel und in der Kälte leben, dann ist man auch als Individuum und als Privatperson gefordert. Ich bin es als Bürger, ich bin es als Wissenschaftler, ich bin es auch als Konsument, und ich bin es eben wirklich ganz direkt als Mensch.
    Frauen landen in Haushaltspflege und Sexarbeit
    Lieske: Sie sprechen in Ihrem Buch sehr tapfer von Migrantinnen und Migranten, sie gendern durch, auch in unserem Interview, tatsächlich tauchen bei Ihrer Forschungsarbeit Frauen nur sehr am Rande auf. Woran liegt das, Gilles Reckinger?
    Reckinger: Tatsächlich sind die meisten der Erntearbeiter männlich. Das liegt ganz offen daran, dass die Migrantinnen, wenn sie in Lampedusa und anderswo im Süden ankommen, nur erstversorgt werden und dann zur weiteren Identifizierung und Klärung ihrer Asylprozedur verlegt werden in Zentren, die sich über das italienische Staatsgebiet verteilen. Es ist erstaunlicherweise so: Die meisten Lager, in denen Männer untergebracht sind, werden sich eher im Süden befinden, während die Lager, in denen gemeinsam reisende Familien oder eben Frauen untergebracht sind, tendenziell am Rande der Großstädte sich befinden und mehr im Norden. Es liegt der Verdacht nahe, dass hier sozusagen diese Arbeitsmärkte eben gezielt bespielt werden. Also der Süden Italiens hat einen hohen Bedarf an händischer Erntearbeit, das ist eine körperlich anstrengende Arbeit, während im Norden in der Haushaltspflege, der illegalen oder illegalisierten Haushaltspflege, 24-Stunden-Pflege tendenziell eher auf Frauen zurückgegriffen wird, ebenso wie in der Sexarbeit. Das heißt, hier haben wir noch mal ein ganz anderes Gewaltfeld sozusagen, das sich auftut. Man muss aber auch sagen - und auch das sehen wir ja in den Medien -, dass Frauen in weniger großer Zahl in Europa landen. Das liegt daran, dass für Frauen diese Reise noch mal ungleich gefährlicher ist, weil sie eben schon viel früher versklavt, verschleppt, vergewaltigt oder umgebracht werden als die Männer.
    Lieske: Gerade in Italien sind die Zahlen aber beachtlich, und das taucht auch am Rande Ihrer Forschungsarbeit auf. Sie erfahren im Dezember 2015, dass in der Nähe von Rosarno sich rund 40 Mädchen und Frauen aus Nigeria prostituieren. Ich bin dem ein bisschen weiter nachgegangen, das Schicksal dieser Nigerianerinnen ist ja mittlerweile auch bekannt und gut dokumentiert. 2016 waren es circa 11.000 jüngste Mädchen, junge Frauen, die über das Mittelmeer gebracht worden sind, die dort brutal gefügig gemacht werden, auf den Strich und zur Prostitution gezwungen werden. Ist da nicht sogar noch einen Ticken mehr dran an dem Originalbild der Sklaverei, Stichwort körperliche Unversehrtheit, das Sie ja zitieren?
    Reckinger: Also es ist ganz klar, ich hab mit meinem Buch eine Ausprägung dieser Sklaverei in den Blick nehmen wollen, und das beschränkt sich durchaus nicht auf dieses eine Feld. Wichtig ist allerdings für mich als sozialen Kulturwissenschaftler auch deutlich zu machen: Es geht nicht darum, das Elend zu messen und in einen Vergleich zu setzen, aber ganz klar: Hier haben wir zu der ganzen Misere auch noch die Unsichtbarmachung dazu, also die Frauen sind nicht erreichbar, die waren auch für mich ganz, ganz schwer zu erreichen, und es war aus methodischen, durchaus auch nachvollziehbaren Gendergesichtspunkten nicht möglich, mit diesen Frauen ins Gespräch zu kommen, aber es ist Ausdruck des gleichen Systems, das auf Ausbeutung und Missachtung von bestimmten Kategorien von Menschen basiert, also Stichwort: blanker Rassismus.
    "Angst vor Fremdheit, vor Invasion in Europa wird geschürt"
    Lieske: Sie zitieren sehr richtig die furchteinflößenden Vokabeln, die derzeit auch in den Medien unterwegs sind: Welle, Strom, Masse, wenn Migration als Bedrohung für den Kontinent Europa dargestellt wird. Ich hab in diesem Zusammenhang eine Frage an Sie als Ethnologen, Gilles Reckinger: Die uralte Angst im Menschen vor Fremdheit, vor Invasion - ist das vielleicht doch auch so was wie eine anthropologische Konstante und ist es sehr leicht, diese zu schüren und sich dieser nun auch zu bedienen in der doch sehr aufgeheizten politischen Debatte um Flucht und Vertreibung?
    Reckinger: Als europäischer Ethnologe bin ich immer skeptisch, wenn so Grundkonstanten, menschliche Grundkonstanten ins Feld geführt werden, denn das meiste, was um uns herum passiert, ist nicht aus unserer Natur zu erklären, sozusagen dem tierischen Anteil im Menschen, sondern aus sozialen Verhältnissen - und soziale Verhältnisse sind immer auch Gewaltverhältnisse. Und diese Angst vor Fremdheit, vor Invasion in Europa ist tatsächlich etwas, das geschürt wird, es ist etwas, mit dem man eben sehr gut aktuell Politik machen kann. Es wird eine neokonservative Agenda vorangebracht all dieser rechtsextremen Parteien, denn wenn wir uns die anschauen in ganz Europa, dann sehen wir, dass ihre Agenda eben sehr konservativ ist und gleichzeitig eben sehr neoliberal, und da werden zwar die Migranten diese an die als Erste verlieren, aber alle anderen verlieren gleichermaßen. Das heißt, dieser Diskurs sozusagen um diese Überfremdung oder wie man das dann immer nennen will, Flüchtlingswelle - was auch immer, die dient anderen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Gilles Reckinger: "Bittere Orangen. Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa"
    Edition Trickster im Peter Hammer Verlag, Wuppertal. 228 Seiten 24,00 Euro.
    Gilles Reckinger: "Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas"
    Edition Trickster im Peter Hammer Verlag, Wuppertal. 228 Seiten 19,00 Euro.