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Giovan Pietro Bellori: Die Gesamtausgabe
Der Künstler als Gott

Giovan Pietro Bellori gilt als Begründer einer klassizistischen Kunstauffassung. Seine Mitte des 17. Jahrhunderts erschienene Sammlung der Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten seiner Zeit gilt zugleich als Anfang der modernen Kunstgeschichtsschreibung.

Von Michael Wetzel |
Giovan Pietro Bellori auf einem Kupferstich von Thomas Patch, 1769
Giovan Pietro Bellori auf einem Kupferstich von Thomas Patch, 1769 (picture alliance / akg-images)
Als der römische Kunstgelehrte Giovan Pietro Bellori Mitte des 17. Jahrhunderts damit begann, seine Sammlung der Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten seiner Zeit zu konzipieren, konnte er nicht ahnen, daß er damit zum Begründer der modernen Kunstgeschichtsschreibung wurde.
Er war nicht der erste, der sich mit theoretischen Überlegungen an die bildende Kunst herangewagt hatte und Anekdoten herausragender Künstler-Genies gesammelt hatte. Vielmehr stellte er sich bewußt in die Tradition früherer Versuche aus der Zeit der Hochrenaissance, die mit Leon Battista Alberti ihren Anfang genommen hatten und nach Leonardos Buch der Malerei in Vasaris "Viten", den Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten der italienischen Renaissance, zu einem ersten Höhepunkt gelangt waren.
Und er vergaß auch nicht, die Anfänge schon in der Antike etwa bei Plinius zu würdigen. Aber Bellori war im Gegensatz zu seinen Vorgängern der italienischen Renaissance der erste Nichtkünstler, der über Kunst schrieb. Schon in seinem Elternhaus kam er mit zahlreichen Künstlern in Kontakt und konnte ein Wissen ansammeln, das er als Archäologe und Denkmalpfleger des Papstes zu vertiefen wußte.
Die Idealisierung des Schönen
Im Mai 1664 ließ er in der einflußreichen römischen "Accademia di San Luca" seine programmatische Rede über "Die Idee des Malers, des Bildhauers und des Architekten" vortragen, die eine theoretische Bilanz dieser Kenntnise der modernen Kunst seiner Zeit zog. Dem Sammelband der 1672 publizierten Künstlerporträts wurde dieser Text dann als theoretische Einleitung vorangestellt, und schon eine in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienene deutsche Übersetzung würdigte die Bedeutung dieser Schrift für das moderne Kunstverständnis der Klassik und Romantik.
Aber es war erst Erwin Panofskys Buch, das, schon im Titel "Idea" seinen Leitbegriff zitierend, Belloris Ruhm als Urvater einer modernen Kunsttheorie begründete: einer Kunsttheorie allerdings, die ihren Ursprung sehr speziell im Rahmen einer für die Renaissance typischen neoplatonischen Idealisierung des Schönen fand.
Dieser programmatische Begriff der Idee ist eine höchst vieldeutige Wortschöpfung. Schon in der griechischen Bedeutung bezieht sie sich nicht nur auf geistige Vorstellungen oder Einfälle, sondern schließt eine besondere Weise des Sehens, des Einsehens mit ein. Ideen bezeichnen auch Bilder, Urbilder, wie sie Platon genannt hat, die den Erscheinungen der Dinge zugrunde liegen. Es sind die idealen Muster, die im Verlauf der materiellen Verwirklichung nur an Reinheit verlieren können.
Künstler werden gottgleich
Und hier ergibt sich der Anschluß an das Kunstverständnis der Moderne. Mit der Orientierung am Konzept der platonischen Idee sollen die Künstler sich auf die Vorstellungen einer Vollkommenheit der Dinge in ihrer übersinnlichen Schönheit konzentrieren und nicht vom natürlichen Aussehen des Wirklichen ausgehen. Die Inspiration zum Schaffen großartiger Werke empfangen sie also in den inneren Bildern ihres Geistes, den Visionen einer höheren Natur, die sie ins Geistesreich eines schöpferischen Göttlichen entrückt und als gottgleiche Künstler adelt. Der Schöpfergott wird selbst zum Künstler als Handwerker, ja sogar als "Schmied", dem die Künstler wie ihre Vorbilder in der Antike nacheifern sollen, um Verstand und Hand miteinander zu versöhnen:
"Aus diesem Grund bilden auch die vornehmen Maler und Bildhauer, jenen ersten Schmied nachahmend, in ihrem Geist ein Modell von höherer Schönheit aus, und indem sie diese betrachten, verbessern sie die Natur ohne Verfehlungen in Farbe und Umriss. Diese Idee, oder besser Göttin, der Malerei und der Bildhauerei offenbart sich uns , sobald die heiligen Schleier von den großen Begabungen eines Daedalus und eines Apelles gelüftet werden, und schwebt auf Marmor und Leinwände hernieder. Hervorgegangen aus der Natur, überwindet sie ihren Ursprung und macht sich zum Vorbild der Kunst. Vermessen vom Zirkel des Verstandes, wird sie zum Maßstab der Hand; und beseelt von der Einbildungskraft verleiht sie dem Bild Leben."
Kunst, so lautet das neue Ideal, muß sich von den Erscheinungen der Natur lösen und sich auf die Urformen der göttlichen Originale zurückbesinnen, wie sie allein in der Phantasie des Künstlers gegeben sind. Bellori erweist sich somit als Feind einer jeden Vorstellung von Nachahmung der Natur. Es gilt, sie vielmehr zu verschönern, das Wirkliche dem Idealen anzunähern, das Unschöne, Unvollkommene der irdischen Dinge in der Kunst zu überwinden und die Welt so neu zu erschaffen.
Die Kunst ist der Natur überlegen
In diesem Sinne zitiert Bellori auch all die ästhetischen Kriterien, die seine kunsttheoretischen Vorgänger an den Meistern der Renaissance wie Raffael oder Leornardo so bewundert hatten: wie die Erfindungskraft (invenzione), die konzeptuelle Auffassungskraft (concetto), die Begabung (ingegno), sowie das von Alberti bis Vasari hochgelobte disegno als entwerfende Kraft des künstlerischen Genies, um die Überlegenheit der idealischen Kunst über die sichtbare Natur zu unterstreichen.
Er bezieht damit eine entschiedene Position in der Kunstdebatte seiner Epoche, die als Klassizismus zwischen Manierismus und Barock stand. Auf der Suche nach einer kunsttheoretischen Orientierung plaidiert Belloris ästhetisches Ideal für eine Wiederbesinnung auf die Werte der Renaissance, die ihre Vollkommenheit der Darstellung menschlicher Schönheit zugleich aus der sinnlichen Anschauung gewinnen soll. Insofern darf sich die Idee nicht in blutleerer metaphysischer Abstraktion verlieren, sondern muß der Mannigfaltigkeit der Formen und Gefühle gerecht werden:
"Die Menschen schöner zu machen, als sie gewöhnlich sind, und das Vollkommene auszuwählen, entspricht daher der Idee. Aber die Idee meint nicht nur eine Schönheit; mannigfaltig sind ihre Formen, kräftig und edelmütig wie auch heiter und erlesen, gleich welchen Alters und welchen Geschlechts. Da die Malerei die Darstellung menschlicher Handlungen ist, müssen wir zudem bedenken, dass der Maler die Beispiele der Gefühle (affeto), die zu diesen Handlungen gehören, im Geist genauso behalten muss, wie der Dichter die Idee des Zornigen, des Schüchternen, des Traurigen, des Heiteren und auch die des Lachens und Weinens, der Furcht und der Kühnheit bewahrt. Diese Gemütsbewegungen müssen durch ständige Betrachtung der Natur viel stärker in die Seele des Künstlers eingeprägt werden, weil es unmöglich ist, dass dieser sie mit der Hand der Natur entwinde, wenn er sie nicht zuvor in seiner Phantasie geformt habe."
Der wahre Kriegsgrund gegen Troja
Auch bei dieser Frage der Naturbetrachtung kann Bellori auf antike Autoren verweisen, die von der Perfektionierung durch die Kunst zeugen. Das populärste Beispiel ist der griechische Bildhauer Zeuxis, der für seine Statue der Helena eine Auswahl aus fünf Modellen schöner Jungfrauen getroffen habe. Und da die Natur nichts in allen Teilen so Vollkommenes wie die Kunst erschaffen könne, vermutet Bellori sogar, dass der Krieg um Troja gar nicht um eine wirkliche Frau geführt worden sei, sondern Paris wahrscheinlich eine Statue der Helena entführt habe.
Belloris Grundlegung einer klassischen Ästhetik gegen die von ihm so genannten "Naturalisten", die gerade die Mängel der Naturvorbilder in ihrer ganzen Häßlichkeit kopieren, unterscheidet sich auch von seinen Vorgängern durch eine bewußte Internationalisierung der Künstlerauswahl. Neben italienischen zieht er flämische und vor allem französische Beispiele wie den mit ihm eng befreundeten Poussin heran. Diese Tendenz kommt auch in der Widmung an den französischen Minister Jean-Baptiste Colbert zum Ausdruck, der als Finanzminister auch der königlichen Akademie der Malerei und Bildhauerei vorstand.
Die jetzt im Wallstein gestartete Neuausgabe der Künstlerleben besticht schon mit diesem Eröffnungsband durch eine herausragende editorische Leistung. Die zahlreichen Kommentierungen lassen die Übersetzung des im Original gegenübergestellten Textes im höchsten Maße transparent werden. Das umfangreiche Nachwort führt in den Kontext der Entstehung und in die Rezeptionsgeschichte des Werks kenntnisreich ein. Auch der erste Band der Einzelbiographien, "Das Leben des Michelangelo Merisi da Caravaggio", folgt dieser Vorgabe. Hier hat es Bellori mit einem der von ihm geschmähten Naturalisten zu tun, dessen Fokussierung des Anstößigen er allerdings als künstlerische Innovation gegen seine Nachahmer würdigt und verteidigt. Man kann nur mit Spannung die weiteren, zudem auch noch preiswert auf den Markt gebrachten Bände dieser zugleich Wissenschaftlichkeit und Lesbarkeit verbindenden Edition erwarten.
Giovan Pietro Bellori: "Die Idee des Malers, des Bildhauers und des Architekten". Kommentiert von Elisabeth Oy-Marra unter Mitarbeit von Sabrina Leps, mit einer Einführung und einem Essay von Elisabeth Oy-Marra. Aus dem Italienischen übersetzt von Anja Brug und Irina Schmiedel unter Mitarbeit von Ulrike Tarnow. Italienisch-Deutsche Ausgabe von: Giovan Pietro Bellori: Le vite de’ pittori scultori ed architetti moderni. Die Lebensbeschreibungen der modernen Maler, Bildhauer und Architekten, hg. von Elisabeth Oy-Marra, Tristan Weddinger und Anja Brug, Bd. 1, 232 S., Wallstein Verlag, Göttingen, 24 Euro
Giovan Pietro Bellori: "Das Leben des Michelangelo Merisi da Caravaggio". Herausgegeben, neu übersetzt, kommentiert und mit einem Essay versehen von Valeska van Rosen. Übersetzung und Kommentar unter Mitarbeit von Anja Brug und Isabell Franconi. Italienisch-Deutsche Ausgabe von: Giovan Pietro Bellori: Le vite de’ pittori scultori ed architetti moderni. Die Lebensbeschreibungen der modernen Maler, Bildhauer und Architekten, hg. v. Elisabeth Oy-Marra, Tristan Weddinger und Anja Brug, Bd. 5. 164 S., Wallstein Verlag, Göttingen, 24 Euro