Sebastian Wellendorf: "Der Widerstand im Volk wird weiter wachsen", sagt die AFD-Anhängerin Nicole Klinger. Sie sagt es zu Sachsens Ministerpräsident Kretschmer, der in einem Streitgespräch auf verschiedene politisch enttäuschte Bürgerinnen und Bürger trifft. Und gelinde gesagt: Er hat es nicht leicht in diesem Streitgespräch. Das können Sie nachlesen ab heute im neuen Ressort namens "Streit" in der "Zeit". Ein Ressort, das bei all der zunehmenden Polarisierung, bei all den poltisch tiefer werdenen Gräben für mehr Dialog plädiert. Natürlich unter dem Helmut Schmidtschen Leitspruch: "Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine."
Giovanni de Lorenzo, ist der Gesellschaft das anständige, respektvolle, sachorientierte Streitgespräch abhanden gekommen?
Giovanni di Lorenzo: Ja, wir finden schon. Und das ist auch der Grund, warum wir dieses Ressort ins Leben gerufen haben. Der sogenannte Diskurs wird ganz stark von den Rändern her bestimmt, er ist weitgehend vergiftet; er ist von dem unbedingten Willen getragen, die jeweils andere Seite misszuverstehen. Daran können wir nur ganz wenig ändern, das ist uns bewusst. Und unser Beitrag ist klein, aber wir wollen zeigen, dass Streit auch etwas Positives sein kann. Und vor allen Dingen wollen wir den unendlich vielen Meinungen, die es in der politischen Mitte des Landes gibt, eine kleine, aber feine Bühne geben.
Wellendorf: Also, ich übersetze das mal: den Journalismus aus dem Elfenbeinturm runterholen?
di Lorenzo: Auch das gehört dazu, dass wir nicht nur in der eigenen Blase, in der viele von uns sicherlich auch leben, diskutieren. Dieses Streitgespräch zwischen Kretschmer und drei – mindestens enttäuschten – Wählern, da sind ja manche Aussagen auch sehr krude, dass man richtig erschrickt, dass man auch denkt: Wie kann man nur so denken? So war auch die Reaktion, übrigens, gerade in der "Zeit"-Konferenz, wo wir immer das Blatt leidenschaftlich diskutieren. Aber das gehört eben auch dazu: genauer hinzuhören, hinzuschauen und aufzumachen. Wir können uns nicht immer und weiter verschließen.
"Kann man Bürger so ungefiltert reden lassen?"
Wellendorf: Aber es ist ja nicht nur wichtig, dass man diskutiert, sondern wie man darüber spricht, Stichwort "Man wird ja wohl noch sagen dürfen". Für viele Tabus ist die politisch extrem Rechte in Deutschland zuständig. Das birgt ja die Gefahr, dass Grenzen dessen, was sagbar sein und diskutiert werden darf sich verschieben. Sie haben gerade gesagt, das wurde in der Redaktionskonferenz kontrovers diskutiert?
di Lorenzo: Nicht die Tatsache, dass wir das machen, und die Absicht nicht. Aber: Kann man Bürger so ungefiltert reden lassen? Das war durchaus eine Frage, neben viel Lob und Zustimmung, die es gegeben hat, auch auftaucht. Aber ich meine eben: unbedingt. Unser Ansatz ist: hart in der Sache, aber fair im Ton. Und es gibt Meinungen, die ganz sicher bei uns auch nicht stattfinden werden; die haben auch andere Foren, an den Rändern gibt's genug Foren. Aber wir glauben eben, dass zunächst einmal das Argument gehört werden muss und nicht gleich die Schublade aufgemacht werden muss: Der ist links oder rechts, also lohnt sich keine Auseinandersetzung.
Keine Leugnung von Rassismus, Nazi-Gräuel und Klimawandel
Wellendorf: Manchmal geht es aber auch gar nicht um links oder rechts. Ich erinnere mich auch an den "Zeit"-Artikel mit der Leitfrage, ob man Seenotrettung vielleicht lassen sollte. Und dieser Artikel wurde sehr kontrovers diskutiert. Über welche Themen und Positionen sollte in einer Gesellschaft Konsens herrschen und nicht gestritten werden, Herr di Lorenzo?
di Lorenzo: Rassismus. Ich finde allerdings die Frage, wo Rassismus beginnt, sehr wohl diskussionswürdig. Die Leugnung von der nationalsozialistischen Gräuel. Und ich finde, auch über das Klima, Klimawandel, und welche Maßnahmen helfen, muss man leidenschaftlich und immer wieder diskutieren. Aber ich glaube, eine Position, die sagt "Es gibt keinen Klimawandel", jedenfalls keinen menschengemachten, diese Leute haben ihre eigenen Foren.
Wellendorf: Das heißt, diese Leute würden nicht zum Streitgespräch eingeladen werden?
di Lorenzo: Ich glaube, dass sie da nicht notwendig sind. Wir brauchen nicht, um eine klare Position zu haben, einen, der sich im Prinzip überhaupt auf keine Diskussion mehr einlässt, weil er sagt "Es gibt ihn nicht".
"Der Leser braucht nicht die ideologische Keule"
Wellendorf: Wir sind ein Medienmagazin und das Thema streift ja auch eine derzeitige Debatte im Journalismus, für den Viele mehr Haltung fordern, also Rassismus, Antismitismus, antidemokratisches Gerede beim Namen nennen und nicht der Ausgewogenheit halber faschistische Thesen als andere Meinungen darstellen, fordert zum Beispiel der Journalist Georg Restle in der aktuellen Ausgabe des "Journalisten" (dem Fachmagazin des Deutschen Journalisten-Verbandes). Mich interessiert Ihre Meinung, auch vor dem Hintergrund des neuen "Streit"-Ressorts, Herr di Lorenzo?
di Lorenzo: Ich habe Respekt vor seiner Position. Wir haben heute in der Konferenz darüber diskutiert, ob nicht auch er ein Essay bei uns schreiben sollte. Aber ich bin total anderer Ansicht als er. Ich glaube, das unser Job nicht primär ist, Haltung zu zeigen und Meinung zu äußern und uns auf eine Seite zu schlagen, sondern erst einmal darstellen, was ist. Und wir glauben auch, dass die Leserinnen und Leser mündig genug sind, dass sie sich eine eigene Meinung bilden können. Das war eigentlich immer schon unser Ansatz, von der Gründung an: Der Leser ist mündig genug, in der Konfrontation mit unterschiedlichen Meinungen sich was eigenes zurechtzuzimmern. Und er braucht nicht die ideologische Keule. Im Gegenteil. Ich glaube, je mehr Haltung wir zeigen, je einheitlicher wir das tun, desto mehr laufen wir Gefahr, an Glaubwürdigkeit zu verlieren, und in der Blase nur noch zu kommunizieren, die eh Bescheid weiß. Wichtiger aber ist, dass wir Menschen, die eigentlich für keine Argumente und für keine Fakten mehr zugänglich sind, jedenfalls den Kampf darum aufzunehmen, dass da wieder was durchdringt.
Wellendorf: Was kann Streit in den Medien in einem Medium wie der "Zeit" bewirken?
di Lorenzo: Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, der Versuch lohnt. Ich glaube, dass viel diskutiert worden ist in den letzten Jahren über Diversität. Das unterstütze ich sehr. Aber Diversität ist für mich nur, wir müssen schauen, ob unsere Redaktionen noch Abbild der Gesellschaft sind im Hinblick Mischung Mann-Frau, Alt-Jung, haben wir Kollegen, die einen Migrationshintergrund haben, 25 Prozent der Deutschen haben es, der deutschen Bevölkerung. Sondern, dass Diversität auch heißt: Unterschiedliche politische Haltungen und Meinungen, die zumindest zur Diskussion gestellt werden.
Giovanni di Lorenzo ist seit 2004 Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit". Stationen im Print davor waren der Berliner Tagesspiegel, wo er noch immer Mitherausgeber ist, und die Süddeutsche Zeitung. Im Fernsehen moderiert di Lorenzo seit 1989 bei Radio Bremen die Talkshow 3 nach 9.
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