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Giovanni di Lorenzo vs. Bernhard Pörksen
Wie gelingt Streit?

Öffentlich wird mehr diffamiert und denunziert als miteinander gestritten. Diesen Befund teilen Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der "Zeit", und der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Aber woran liegt die Vergiftung des Meinungsklimas? Was entgiftet? Und warum ist die Mitte so langweilig?

Moderation: Christiane Florin |
    Giovanni di Lorenzo (l.) und Bernhard Pörksen streiten in der Sendung "Streitkultur" über Streitkultur
    Giovanni di Lorenzo (l.) und Bernhard Pörksen streiten in der Sendung "Streitkultur" über Streitkultur (picture alliance / dpa / Horst Galuschka / Frank Pusch )
    Christiane Florin: Guten Tag – oder besser willkommen auf dem Meinungskorridor! Der ist angeblich schmal, gesäumt von Verbotsschildern, überwacht von einer links-grün-feministischen Sprachpolizei. Und wer von diesem Pfad der Tugend abweicht, wird geächtet.
    Aber Halt! Stimmt das? Ist nicht dieser Korridor des Sagbaren nur ein Hirngespinst, ein Vorwand, um diese Demokratie als "Meinungs- oder Gesinnungsdiktatur" diffamieren zu können?
    Ein Jahr nach der ersten Ausgabe dieser Sendung "Streitkultur" fragen wir, wie gelingt Streit, was macht einen produktiven öffentlichen Streit aus? Und daran beteiligen sich Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit". Er ist aus Hamburg zugeschaltet. Guten Tag, Herr di Lorenzo!
    Giovanni di Lorenzo: Schönen guten Tag, Frau Florin!
    Florin: Und in einem Studio in Stuttgart begrüße ich Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler an der Uni Tübingen. Gerade ist sein Buch "Die große Gereiztheit" erschienen. Guten Tag, Herr Pörksen!
    Bernhard Pörksen: Ich grüße Sie auch, hallo!
    Florin: Wie gelingt Streit? Herr di Lorenzo, bitte bestreiten Sie die ersten 60 Sekunden!
    Der Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit", Giovanni di Lorenzo, hält am 02.04.2014 im Schauspielhaus in Hamburg eine "Zeit"-Ausgabe mit einem Lokalteil für Hamburg. Die "Zeit" erscheint am 3. April erstmals mit einem Lokalteil für Hamburg.
    di Lorenzo: Streit gelingt, wenn die Streithähne nach dem emotionalen Ausbruch noch ein Minimum an Bereitschaft zu erkennen geben, dass sie die Argumente des jeweils anderen zumindest auf sich wirken lassen wollen. Dieses Prinzip kennt jeder auch aus privaten Beziehungen. Wenn es nur noch darum geht, dem anderen die eigene Wut entgegenzuschleudern, dann ist das Ende der Beziehung meistens nicht mehr weit. Diesen Aspekt betone ich deswegen so, weil er für mich das am schwersten zu lösende Problem darstellt. Es wird im Land zurzeit weniger miteinander gestritten und mehr aneinander vorbei beschimpft, polemisiert, denunziert. Das eine, Streit, kann erkenntnisreich und befreiend wirken, das andere vertieft den Graben nur, der zwischen den mittlerweile verfeindeten Teilen der Gesellschaft liegt. Und so ist die Frage zurzeit nicht, wie gelingt Streit, sondern wie gelingt es, die Parallelwelten, die aneinander vorbei kommunizieren, wieder miteinander ins Gespräch zu bekommen.
    Florin: Herr Pörksen, falsche Frage also, Ihr Einspruch, Ihre Ergänzung?
    Bernhard Pörksen bei einer Talksendung
    Pörksen: Meine Ergänzung lautet: Ich glaube, wir werden uns klar darüber, wie Streit gelingt, indem wir zunächst die Bedingungen des Misslingens studieren und uns damit auseinandersetzen, wie kann Streit garantiert misslingen. Die zentrale Bedingung, auf die ich beim Nachdenken über diese Frage, wie gelingt Streit, oder vielmehr wie misslingt Streit, um ihn dann vielleicht besser zu machen, gekommen bin, ist: Es braucht die pauschale Abwertung dieses, was man aus Beziehungsdynamiken kennt, "immer bist du", oder dann, wenn wir in die politische Arena überwechseln, die diffamierende Entwertung der gegnerischen Position. Diese diffamierende Entwertung lässt jede Auseinandersetzung sofort zu einer fruchtlosen eskalieren. Das entsprechende Vokabular – Sie haben es in der Anmoderation zitiert – liegt bereit: "Gesinnungsdiktatur, Gutmensch, Rechtsextremist, Nazi", was auch immer. Also das erste Gebot auf dem Weg zu einem fruchtbaren Streit lautet aus meiner Sicht, du sollst nicht vorschnell generalisieren.
    Florin: Herr di Lorenzo, das Ende der Beziehung fürchten Sie, also dass man eigentlich gar nicht mehr in der Lage ist, miteinander zu sprechen, sondern von vornherein davon ausgeht, der andere könne gar nicht recht haben. Wie verhindern Sie, dass die Beziehung schon zu Ende ist, bevor sie wirklich angefangen hat?
    di Lorenzo: Na ja, erst mal gibt es eine ganze Menge von Vorgeschichten, die die Beziehung auch vergiftet haben, daran kann man sich jetzt auch nicht vorbeimogeln.
    Florin: Zum Beispiel?
    di Lorenzo: Dass man den jeweils anderen einfach in die falsche Ecke gestellt hat. Und das Etikett Rechtsextremist, Nazi, AfD- oder rot-grün Versiffter, das sind ja ganz bequeme Abwehrmechanismen, um sich nicht mit dem Argument auseinandersetzen zu müssen. Wenn man weiß, der gehört in die Ecke, dann ist alles, was derjenige dann auch sagt, sinnlos. Und ich stelle fest, auch bei Menschen, die ich selber kenne und die so abgedriftet sind in letzter Zeit, nach links oder nach rechts, dass die auch gar nicht mehr sich für einen Kontext entscheiden. Dank der sozialen Medien schicken die sich nur noch Artikel, manchmal auch nur noch Teile von Artikeln zu, die die jeweilige Meinung bestätigen oder die Empörung entfachen, und sehen gar nicht mehr, wie der Zusammenhang ist. Und dann kann man gleich sagen, dieses Blatt ist rechts oder links und das war doch klar und das ist doch das Übliche. Das ist die Gegenwart. Aber davor gab es eine Reihe von Faktoren, die die Auseinandersetzung vergiftet haben. Darüber, denke ich, sollte man sprechen.
    Florin: Welche Faktoren meinen Sie? Sie haben einige sehr selbstkritische Leitartikel geschrieben, in fast allen kam vor, dass wir Journalisten die Willkommenskultur zu sehr bejubelt haben. Meinen Sie das?
    Di Lorenzo: "Kriegt ihr eigentlich eure Anweisungen vom Kanzleramt?"
    di Lorenzo: Das ist ein Aspekt. Nun kann man auch nicht sagen, alle Journalisten, aber muss sagen, dass in den Monaten nach der Öffnung der Grenze, also September, Oktober, November 2015, es eine Bundeskanzlerin und eine Bundesregierung gab, die etwas beschlossen haben, was nie diskutiert worden ist. Im Parlament hatten wir nur Parteien, die das im Großen und Ganzen gutgeheißen haben, und dann wurde das Ganze auch noch von den meisten Medien begrüßt. Und da ist etwas entstanden, was in der Analyse falsch ist, aber ich kann verstehen, wie es zu dem Eindruck kam. Also wenn wir, auch wir bei der "Zeit", uns gelegentlich mit dem Vorwurf der Leser auseinandersetzen müssen oder mit der Frage auseinandersetzen müssen: Kriegt ihr eigentlich eure Anweisungen vom Kanzleramt? Dann ist das natürlich absurd, weil es so was nicht gibt und auch nie geben wird in einer Demokratie, aber wenn ein so geschlossenes Meinungsbild entsteht, dann kann man zu diesem falschen Eindruck kommen. Und so ist das in vielen anderen Punkten auch. Es gibt gesellschaftliche Koordinaten, wenn du die verschiebst, dann vergiftet das das Klima in einer Gesellschaft, und sicherlich war der Zuzug von Hunderttausenden von Flüchtlingen in den letzten Jahren einer solcher Faktoren.
    Florin: Herr Pörksen, die "große Gereiztheit", die Sie in Ihrem Buch beschreiben ist mehr als ein Medienthema, das ist ja eigentlich ein gesellschaftlicher Umbruch, den Sie da feststellen, eine Neuordnung von Öffentlichkeit.
    Pörksen: Absolut.
    Florin: Was ist grundsätzlich anders?
    Pörksen: Ich glaube, das andere ist tatsächlich, dass wir heute nach dem Muster der Sofortkonfrontation unter Umständen kontextfrei, wie Giovanni di Lorenzo das erwähnt hat, miteinander kommunizieren. Wir sehen alles, und zwar sofort – das Banale, das Bestialische, die relevante Enthüllung, die völlig irrelevante Geschichte –, und wir sind gleichsam auch im eigenen Kommunikationsradius mit den unterschiedlichsten Stimmen und Stimmungen konfrontiert. Und diese Sofortkonfrontation, die löst etwas aus, was ich die große Gereiztheit nenne: Man kann sich nicht mehr distanzieren, die Behaglichkeitszonen schwinden, die Idylle des Rückzugs schwindet, es erreicht einen die Meinung oder die Auffassung – über die AfD, über die Flüchtlingsdebatte, über die Ukrainekrise, den Germanwings-Flugzeugabsturz oder was immer wir an Reizthemen aufzählen und nennen mögen – in einer radikalen Unmittelbarkeit. Und das ist aus meiner Sicht neu.
    Florin: Und diese Vergiftung, von der Giovanni di Lorenzo vorhin sprach, sehen Sie die auch, also gab es Themen, Positionen, die sofort diffamiert wurden, Stimmen, die unterdrückt wurden?
    Pörksen: "Flüchtlingsdebatte zeigt Mechanik der Abwertung in Reinkultur"
    Pörksen: Ich glaube tatsächlich, dass man am Beispiel der Flüchtlingsdebatte diese Mechanik der Abwertung wie in Reinkultur, wie unter einem Brennglas studieren kann. Ich stimme nicht ganz zu, dass es ein sehr stark monolithisches Bild gegeben hat, ich hab es etwas anders erlebt – eine manchmal überengagierte Positionierung, aber kein völlig monolithisches Bild –, und ich hab lange drüber nachgedacht, woran es eigentlich lag. Gab es vielleicht in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Erschrecken bei Journalisten im Nachgang, wie weit ist man eigentlich gegangen: "Spiegel"-Titel "Das Boot ist voll", dann die Attacken in Rostock-Lichtenhagen, die Auseinandersetzung in Hoyerswerda. Also mein Punkt ist, vielleicht hat der Journalismus in dem Gefühl, in den 90er-Jahren etwas mitgezündelt zu haben, in der aktuellen Debatte dann vielleicht sich manchmal überengagiert positioniert, aber ich denke, es gibt diese Polarisierung auf beiden Seiten. Wir haben auf der einen Seite die Position, die man als Willkommenskultur etikettiert, Imperativ der Humanität. Dann lautet die Mechanik der Abwertung, was ihr da wollt, ist doch nur blauäugiges Gutmenschentum, in Wahrheit ist das Multikultichaos. Und dann gibt es die andere Position, die sagt: Ja, wir sind für eine harte Abgrenzung, wir brauchen unbedingte nationalstaatliche Kontrolle, und auch die wird nach dem Muster der entwertenden Übertreibung sehr schnell abgewertet als gleichsam fremdenfeindliche Beschwörung nationaler Reinheit. Also man kann eigentlich an diesem Beispiel der Flüchtlingsdebatte sehen, wie die Mechanik der Polarisierung und wie die Mechanik der Abwertung funktioniert, nach dem Motto: Übertreibe die gegnerische Position in diffamierender Weise. Und das haben wir erlebt.
    di Lorenzo: Wobei, es ist richtig: Nichts ist monolithisch. Aber ich spreche von dem Gesamteindruck, und der war dann doch ein sehr euphorischer, also in Hinblick auf die Willkommenskultur. Nun darf auch die Willkommenskultur nicht in Bausch und Bogen jetzt diffamiert werden. Das, was da an Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung kam, das war ja auch beeindruckend und großzügig und gut. Aber ich finde, dass Medien nicht die Aufgabe haben, etwas besonders zu feiern. Sie müssen eine kritische Distanz zu allen Dingen behalten. Was die Leute aufgebracht hat, war der offensichtliche Gegensatz zwischen dem, was gesagt wurde, und dem, was sie auch aus eigener Erfahrung wissen oder was sie selbst gesehen haben. Sie erinnern sich an das berühmte Politikerwort: "Die Flüchtlinge sind ein Geschenk": Oder: "Es kommen jetzt gut ausgebildete Ärzte und Ingenieure." Oder: "Es kommen vornehmlich Frauen und Kinder aus Bürgerkriegsgebieten, denen die meisten Deutschen helfen wollen." Oder ich finde es ist eine politische Instinktlosigkeit sondergleichen, den Leuten zu sagen: "Grenzen kann man nicht schützen." Das hat die Leute aufgebracht, und wenn es sie aufgebracht hat, dann sind sie in der Tat, wie Herr Pörksen sagt, sehr schnell in eine Ecke geschoben worden, in die viele von denen einfach nicht hingehören. Diese Auseinandersetzung um die Flüchtlinge, die findet ja wiederum vor einem bestimmten Hintergrund statt, und das ist eine Vertrauenskrise gegenüber Menschen, denen man früher vertraut hat oder die man hoch angesehen hat.
    Di Lorenzo: "Es ist eine mühsame Arbeit, die GEsellschaft wieder zusammenzubekommen"
    Florin: Journalisten, Politiker, meinen Sie?
    di Lorenzo: Lassen Sie uns einmal wegkommen jetzt von den Journalisten, sondern denken Sie nur dran an die beiden Crashs an den Finanzmärkten, denken Sie daran, wie Manager, die ganz offensichtlich versagt haben, dann mit hohen Pensionszusagen und vor allen Dingen mit Bonizahlungen rausgegangen sind. Ich glaube, das waren Dinge, die das Gerechtigkeitsgefühl der Leute zutiefst verstört haben. Dann gab es – es ist schon ein längerer Prozess –, es gab Gewerkschaftsskandale, es gab die furchtbaren Missbrauchsfälle in den Kirchen. Also das Ganze findet statt vor einer allgemeinen Entwertung und vor einem allgemeinen Vertrauensverlust gegenüber ganz wichtigen Institutionen in einem Land. Insofern ist es eine mühsame Arbeit, die Gesellschaft wieder zusammenzubekommen.
    Pörksen: Wir haben ja als einen Grundmechanismus von Polarisierung und schlechten gewissermaßen Kommunikationsverhältnissen diese entwertende Übertreibung, das In-die-Ecke-Stellen, die Sofortetikettierung festgemacht, und gleichzeitig – und dafür hab ich im Grunde genommen keine Lösung, außer es ist eine individuelle – muss man ja sagen, der Streit ist auch nur dann sinnvoll, wenn es eben ja nicht nur die Würdigung der anderen Seite – wunderbar, was man gesagt hat, wunderbar, was Ihr Beitrag war – gibt, sondern wenn es so eine Dialektik gibt, so eine Dialektik von Zuwendung, Würdigung, prinzipiellem Respekt, Wertschätzung, aber eben auch Abgrenzung und Konfrontation, also diese Gleichzeitigkeit von Gesprächs- und Konfrontationsbereitschaft. Und da hab ich im Grunde genommen keine ganz klare Lösung, denn wir müssen ja sagen, es gibt Menschen, die gegen Merkel protestieren und die das nicht aus einem berechtigten Unbehagen tun, sondern weil sie glauben, sie lebten in einer Gesinnungsdiktatur und in einer Merkel-Diktatur. Es gibt Menschen, bei denen wir in der Kommunikation, im Streit, in der Auseinandersetzung auch rote Linien, Klarheit der Abgrenzung und Klarheit der Konfrontation definieren müssen. Also wie findet man den Entscheidungspunkt, um zu sagen, etwas ist einerseits pauschale Abwertung, schlecht, aber andererseits, wir brauchen auch gewissermaßen das geistige Fortbewegungsmittel, das diskursive Fortbewegungsmittel der unmittelbaren Konfrontation von schlicht und einfach menschenverachtenden Standpunkten.
    Florin: Weil jetzt schon mehrmals diese Formulierung gefallen ist, "in die Ecke stellen", ist es nicht so, dass manche auch tatsächlich da stehen?
    Pörksen: "Ich glaube, dass manche in der rechten Ecke stehen"
    Pörksen: Ich glaube, ja. Ich glaube, dass manche natürlich auch in dieser Ecke stehen, und das macht es so schwierig. Die Leute, die die AfD gewählt haben, 60 Prozent, sind nicht von der Kompetenz des politischen Personals überzeugt. Es wäre vollkommen falsch und fatal, die nun in irgendeiner Weise pauschal zu etikettieren, aber ich hab meine Schwierigkeiten, wie das jüngst ein Schriftsteller im "Spiegel" getan hat, einen Alexander Gauland zu loben, der sehr, sehr merkwürdige, seltsame Positionen vertritt, die Leistungen von deutschen Soldaten in zwei Weltkriegen lobt. Also da braucht es aus meiner Sicht die Gleichzeitigkeit von Gesprächsbereitschaft und Auseinandersetzungsfähigkeit auf der einen Seite, aber auch Konfrontationsbereitschaft auf der anderen Seite.
    di Lorenzo: Ich finde ja, das Fatale ist, dass ja während ein Teil der Gesellschaft nach rechts rückt, sagen wir mal, die sich für die moralisch Besseren halten, Teile des linksliberalen, des linken Milieus, da zu gucken, was haben wir dazu beigetragen, dass dieser Graben, dieser gesellschaftliche Graben in der Bevölkerung tiefer geworden ist, selber sich dann sich ein Stück weit radikalisieren, also auch weiter nach links rücken, statt zu sagen, vielleicht haben wir uns in dem, womit wir uns beschäftigt haben in den letzten Jahren, zu sehr entfernt von dem, was ein großer Teil der Leute eben beschäftigt. Das sind zum Teil ganz banale Sachen – das ist die Angst, dass die Sozialsysteme nicht mehr richtig tragen, das ist die Angst, dass zu viele Fremde ins Land kommen, das ist aber auch die Angst vor Einbrüchen, dass die Polizei den Sachen nicht richtig nachgeht, das ist der Stau für die Pendler, das sind die Schulen, die in schlechten Zuständen sind, also die Vernachlässigung der ganz elementaren Bedürfnisse, Sorgen und Wünsche von Leuten.
    Florin: Aber das würde doch heißen: Wir streiten eigentlich über die falschen Themen. Wir haben an der Grundschule meiner Kinder schon für die Renovierung der Schulklos bezahlt, da war noch kein Flüchtling in Deutschland oder jedenfalls nur sehr wenige. Also müssten wir nicht eigentlich über die Rente streiten, über die Sozialversicherungssysteme streiten, über die Pflege streiten, über die Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr in ländlichen Regionen, anstatt zuzulassen, dass die Flüchtlinge oder die Journalisten oder wer auch immer für alles verantwortlich gemacht werden?
    Di Lorenzo: "Medien sind auch lernende Systeme"
    di Lorenzo: Das ist viel zu viel Opferhaltung, dass Journalisten jetzt für alles verantwortlich sind. Es hängt alles mit allem zusammen. Ich finde auch, dass Journalisten, um das auch mal klarzustellen, das sind auch die Medien, unsere Medien sind auch lernende Systeme. Nach der unglaublichen Blamage der viertägigen Verzögerung nach den Ereignissen auf der Kölner Domplatte, wo wir vier Tage gebraucht haben, bis wir da erstmals drüber berichtet haben, hat sich auch einiges geändert, und der Ton ist heute ein viel nüchternerer. Natürlich erfüllen Flüchtlinge für viele so eine Art Sündenbockfunktion: "Wenn es die nicht gäbe, ginge es mir besser" – was in vielen Fällen und für viele Probleme natürlich überhaupt nicht stimmt. Aber es gibt eben Auslöser für gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die dann ein ganzes Land ins Kippen bringen. Dazu kommt dann auch immer die Angst vor der Globalisierung, die Angst vor der Digitalisierung, alles Dinge, die den Menschen ganz viel abverlangen, nur kann man nicht das eine vom anderen trennen und sagen, weil es die Globalisierung zum Beispiel gibt oder die Digitalisierung, sind all deine Ängste in Bezug auf zu viele Flüchtlinge auf einmal einfach nur banal, vergiss es.
    Pörksen: Etwas, was mich im Moment beschäftigt, ist im Grunde genommen, dass wir nicht nur etwas erleben, was man Hypersensibilität nennen könnte, also eine übertriebene Moralisierung und auf der richtigen Seite stehen wollen, das ist die eine Seite. Es gibt gewiss Milieus, in denen eine manchmal peinliche Hypersensibilität gepflegt wird, dann gibt es aber andererseits in Unternehmen, in Schulen nach meiner Beobachtung zunehmende Bereitschaft auch zur wertschätzenden Kommunikation. Und dann gibt es ja gleichsam mit der digitalen Netzöffentlichkeit auch eine Sphäre, in der fast alles sagbar geworden ist. Also wir haben so eine paradoxe Gleichzeitigkeit des Verschiedenen: übersteigerte Hypersensibilität, elementare Diskursverwilderung, Bemühen um Wertschätzung. Und das ist ein Befund, warum mir auch die Rede, die jetzt in der Debatte um Tellkamp oder Grünbein aufgekommen ist, von einer "Gesinnungsdiktatur" so ganz und gar falsch erscheint, weil Diktatur ja hieße, man dürfe tatsächlich nicht sprechen – man darf nicht an jedem Ort sprechen, in jeder Sphäre sprechen, sondern es gibt ganz unterschiedliche, wenn Sie so wollen, im Moment Kommunikationsinseln, die relativ unverbunden nebeneinander existieren.
    Pörksen: "Pauschalurteil über den Diskurs trägt zum Ruin des Kommunikationsklimas bei"
    di Lorenzo: Tellkamp oder Grünbein, diese Auseinandersetzung, die ist ja gerade das Gegenbeispiel für einen angeblichen Meinungskorridor …
    Pörksen: Absolut, ja!
    di Lorenzo: ... Gesinnungskorridor, denn die Resonanz auf beide war ja enorm.
    Pörksen: Aus meiner Sicht ist daran auch interessant, wenn wir um eine gute, weiterbringende, um Gottes Willen nicht total harmoniesüchtige Streitkultur ringen, dass wir es vermeiden müssen, nun die Diskurs- und Streitverhältnisse in diesem Land vorschnell mit Pauschalurteilen zu belegen – auf der einen Seite zu sagen Gesinnungsdiktatur und auf der anderen Seite zu sagen, Vorsicht, nur Political Correctness und verspannte Moralisten. Mir ist daran klar geworden, auch das Pauschalurteil über den Diskurs trägt eigentlich zum Ruin oder zum möglichen Ruin des Kommunikationsklimas mit bei.
    di Lorenzo: Ja, aber eine übertriebene Political Correctness natürlich auch.
    Florin: Wo ist die denn, die übertriebene Political Correctness?
    di Lorenzo: Das ist die Haltung …
    Florin: Das Gedicht steht ja wieder da, nur an einem anderen Gebäude zum Beispiel.
    Pörksen: Aber es wurde abgemacht.
    Di Lorenzo: "Ich finde es richtig, dass es gewise Tabuzonen gibt!"
    di Lorenzo: Das finde ich ein besonders schlimmes Beispiel dafür. Political Correctness ist da, wo man dir zu verstehen gibt oder auch ganz offen sagt, ja, mag ja sein, dass dieses Problem existiert, aber das thematisieren, das gibt den Falschen Auftrieb. Das ist die falsche Correctness, die es gegeben hat in den letzten Jahren, ich glaube aber, dass durch das Benennen von Problemen populistische Strömungen nie größer werden, sondern nur durch das Verschweigen oder Kleinreden. Da sind sicherlich auch Fehler gemacht worden. Ich befürworte sehr eine bessere und größere Streitkultur, ich finde auch, man sollte auch nicht so viel Angst haben, sich mit fremden Meinungen auseinanderzusetzen, ich finde aber auch, es gibt Grenzen. Und da finde ich es richtig, dass es auch gewisse Tabuzonen gibt, also die Verständigung, einer Öffentlichkeit zu sagen, das wollen wir nicht, das ist eine rote Linie. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich fand diesen Satz der früheren Integrationsbeauftragten, dass sie nicht wüsste, was außer der Sprache deutsche Kultur sein sollte, entsetzlich, grauenvoll, grundfalsch. Das, finde ich, darf man auch alles sagen. Ihr aber dann sozusagen aufgrund ihrer Herkunft die Rückkehr nach Anatolien zu wünschen, das, finde ich, ist etwas, was unerträglich ist. Diese Art von Auseinandersetzung, die sollten wir uns im Interesse aller ersparen.
    Florin: Aber dafür gab es sehr viel Applaus, für diesen Vorschlag, sie nach Anatolien abzuschieben.
    di Lorenzo: Es gab Applaus, aber auch sehr viel Kritik, meines Erachtens auch völlig zu Recht.
    Pörksen: Ich stimme vollkommen zu. Man kann ja sehen, es gibt vielleicht keine Fertigrezepte des Miteinanderstreitens, aber das genaue Hinschauen, das Fragen, was ist die Konsequenz, auch das Dechiffrieren von womöglich aggressiv-rassistischer Botschaft, das gehört alles dazu. Also Würdigung, Abgrenzung, Annäherung, diese Mischung, diese Dialektik, das kann vielleicht einen Streit gelingen lassen.
    "Mal richtig zur Brust nehmen"
    Florin: Letzte Frage an Sie beide: Wenn es stimmt, dass wir in einem sehr erhitzten Kommunikationsklima leben, ist es dann ein gutes Mittel, für eine Abkühlung zu sorgen, oder braucht es nicht, sagen wir mal, Leidenschaft für die Mitte?
    Di Lorenzo: Da fragen Sie den Falschen, ich hab gerade ein flammendes Plädoyer geschrieben für eine leidenschaftliche Mitte, die blass geworden ist und die defensiv geworden ist. Ich glaube, dass die meisten Menschen in Deutschland nach wie vor ganz vernünftige Menschen sind, die sich auch mit der politischen Mitte identifizieren. Schauen Sie, wenn im Wahlkampf die Kanzlerin niedergebrüllt und niedergepfiffen wird und sie sagt kein Wort, aus der Haltung heraus, dann mach ich ja meine Gegner noch stärker, dann ist das für mich kein Zeichen von Souveränität, sondern von Schwäche. Ich wünsche mir eine offensivere Auseinandersetzung, wie man sie manchmal jetzt auch schon im Bundestag beobachtet, da gab es ganz gute Beispiele. Ich hab vor einiger Zeit mal den wunderbaren Schauspieler Matthias Brandt interviewt und hab ihn gefragt: Was würde wohl Ihr Vater – er ist ja der jüngste Sohn von Willy Brandt –, was hätte wohl Ihr Vater gesagt, wenn er jetzt dieses Aufkommen der Populisten miterlebt hätte? Und da sagte er: Wissen Sie was, die Generation meines Vaters und mein Vater, die haben ganz andere Sachen erlebt, die würden die sich auch mal richtig zur Brust nehmen. Das, finde ich, ist die richtige Haltung, und gleichzeitig muss auch die Mitte erkennbarer werden in den Differenzen und meines Erachtens ein besseres Sensorium entwickeln für das, was die Leute wirklich beschäftigt, damit sie nicht abdriften.
    Florin: Herr Pörksen, "mal richtig zur Brust nehmen"...
    Pörksen: Mal richtig zur Brust nehmen, auf jeden Fall, also nur Stuhlkreis wäre absolut falsch, und trotzdem eine Form des Streits wählen, die eben nicht auf eine aggressive, nur im sinnlosen Getümmel endende Polarisierung zielt, sondern die etwas leisten könnte. Und ich glaube, das wäre tatsächlich eine Aufgabe der gesellschaftlichen Mitte, was man programmatische Polarisierung nennen könnte. Das Sichtbarmachen von Alternativen, des Denkens, des Handelns, davon lebt Demokratie. Ich meine, Peter Glotz, dieser wunderbare SPD-Intellektuelle, hat von der Arbeit der Zuspitzung gesprochen, und diese Arbeit der Zuspitzung, die fehlt aus meiner Sicht der gesellschaftlichen Mitte – der seriösen Zuspitzung, um über eine positive Vision von Integration, über eine positive Vision digitaler Mündigkeit, eine positive Vision von Europa zu reden und eben auch zu streiten.
    Florin: Programmatische Polarisierung, wir haben an den Rändern angefangen und sind bei der Mitte gelandet. Ich danke den beiden Diskutanten, ich danke Giovanni di Lorenzo …
    di Lorenzo: Sehr gerne!
    Florin: … und ich danke Bernhard Pörksen!
    Pörksen: Danke auch!
    Florin: Mein Name ist Christiane Florin, danke fürs Zuhören, danke fürs innere Mitstreiten, ich wünsche Ihnen einen kommunikativen Samstagabend!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.