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Gipfel im Kanzleramt
"Erwartungen werden enttäuscht"

Der Bundesvorsitzende der FDP, Christian Lindner, hat das Spitzentreffen der Großen Koalition als "gescheitert" bezeichnet. Es habe keine Signale für mehr Wachstum und gegen Eingriffe in die Wirtschaft gegeben, sagte Lindner im DLF. Der Mindestlohn zeuge von einer "Misstrauensbürokratie".

Christian Lindner im Gespräch mit Sandra Schulz |
    Der FDP-Bundesvorsitzende, Christian Lindner, sitzt am 06.08.2014 in Erfurt (Thüringen) bei einer Wahlkampfveranstaltung vor einem Wahlplakat der Thüringer FDP auf dem steht: "Wir sind dann mal weg. Genauso wie der Mittelstand"
    Der FDP-Bundesvorsitzende, Christian Lindner, vor einem Wahlplakat der Thüringer FDP (2014): "Wir sind dann mal weg. Genauso wie der Mittelstand" (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    Er fürchte, so Lindner, dass sich mit dem Mindestlohn in Zukunft die gesamte Tarifpolitik in Deutschland ändern werde. Auf dem Arbeitsmarkt erwarte er eine Abkoppelung der Lohnentwicklung von der Produktivität und damit "Gefahren für die Wettbewerbsfähigkeit". Der Mindestlohn erzeuge hohe Bürokratiekosten, die einem Misstrauen der Politik gegenüber der Wirtschaft geschuldet seien. Dieses Misstrauen sei aber unangebracht. Stattdessen müsse die Flexibilität gestärkt werden.
    Der "gescheiterte Gipfel" der großen Koalition hat für Lindner gezeigt: "Erwartungen werden enttäuscht, dass mehr getan wird für Wachstum und Eingriffe in Wirtschaft ausbleiben."

    Das Interview in voller Länge:
    Sandra Schulz: Sechs Stunden lang haben am Abend bis tief in die Nacht die Spitzen von SPD und Union, der Großen Koalition zusammengesessen. Spargel gab es und um Mitternacht hat die Runde auf SPD-Fraktionschef Oppermann angestoßen. Der wird heute nämlich 61. Das war aber nicht der Anlass für das Treffen, denn eigentlich sollten Konflikte um Mindestlohn, Betreuungsgeld und Bund-Länder-Finanzen beigelegt werden. In der Sache gab es jetzt allerdings so gut wie nichts Neues und darüber wollen wir jetzt sprechen. Am Telefon begrüße ich den FDP-Vorsitzenden Christian Lindner. Guten Morgen!
    Christian Lindner: Guten Morgen, Frau Schulz.
    Schulz: Beim Mindestlohn, einem der wichtigsten Konfliktthemen, da ändert sich jetzt erst mal nichts. Da hat sich offenbar die Aufregung ein bisschen gelegt über den Mindestlohn. Bei Ihnen auch?
    Lindner: Ich nehme wahr, dass es große Klagen über die Bürokratie im Alltag gibt. Es ist auch eine Misstrauensbürokratie, Frau Schulz, wenn morgens in Bäckereien der Zoll einfällt, um die Verkäuferinnen nach dem Stundenzettel zu fragen. Ich halte das für ein falsches politisches Signal, eine unnötige Belastung mit Bürokratie. Und ob es nicht noch auch Risiken am Arbeitsmarkt gibt - es sind ja 200.000 Minijobs, also auch Einstiegsjobs jetzt weggefallen -, das wird man erst noch mal sehen.
    "Gefahren für die Wettbewerbsfähigkeit"
    Schulz: Aber letzten Endes gilt der Mindestlohn jetzt seit Anfang des Jahres. Der Stand der Arbeitslosen, der war im März der niedrigste seit 25 Jahren. Was ist das Problem?
    Lindner: Ich befürchte, dass insgesamt die Tarifpolitik in Deutschland sich verändern wird. Der Mindestlohn ist eines der Beispiele, wo die Politik jetzt sehr stark in die wirtschaftliche Freiheit eingegriffen hat, mit dem Ergebnis am Arbeitsmarkt, dass möglicherweise sich die Lohnentwicklung über die ganze Bandbreite der Tarifgruppen entkoppeln könnte von der Produktivität und dass wir eine starke Orientierung an die allgemeine Preisentwicklung bekommen. Das bedeutet am Ende aber Gefahren für Wettbewerbsfähigkeit, die man erst in einigen Jahren sehen wird. Bereits jetzt sehen wir …
    Schulz: Genau! Darauf wollte ich Sie gerade ansprechen. Sie sprechen ja im Konjunktiv. Jetzt hat die Bundesregierung ihre Wachstumsprognose ja erst mal deutlich nach oben korrigiert.
    Lindner: Das deutsche Wachstum wird gegenwärtig auch stark gestützt durch den außerordentlich niedrigen Außenwert des Euro. Wir haben dort ungelöste Probleme in der Eurozone. Das drückt sich für Deutschland jetzt positiv im Export aus, auch übrigens für Wolfgang Schäuble im Haushalt. Aber das ist kein Grund, in dieser Ausnahmesituation jetzt darauf zu hoffen, dass die gegenwärtige deutsche Stärke quasi garantiert sei. In sie müsste schon investiert werden. Ein wichtiges Feld, wo unsere Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden kann und muss, ist die Flexibilität der Wirtschaft. Und konkret, Frau Schulz, sehen wir negative Auswirkungen des Mindestlohns, wie ich eben sagte, bereits bei Minijobs. Das ist nicht alles prekäre Beschäftigung, das sind auch Einstiegsjobs, das sind auch Gelegenheiten zum Beispiel für Studenten oder für Rentner, etwas dazuzuverdienen. Und wir sehen erhebliche bürokratische Fesseln bei Praktika. Ganz abgesehen davon: Viel Bürokratie auch für Handwerksbetriebe, die oberhalb des Mindestlohnniveaus zahlen und trotzdem jetzt ins Visier des Zolls, ins Visier von Andrea Nahles geraten, hohe Bürokratiekosten haben. Dieses Misstrauen ist völlig unangebracht und es belastet.
    "Wir sehen negative Auswirkungen des Mindestlohns"
    Schulz: Herr Lindner, jetzt habe ich das Wort Bürokratie bei Ihnen, glaube ich, drei oder viermal gezählt. Aber es geht ja nur darum, die Arbeitsstunden aufzuschreiben. Die Arbeitgeber, die müssen eine Buchhaltung machen, die müssen Lohnabrechnungen machen. Warum soll ausgerechnet diese Stundenabrechnung da ein so zentrales "bürokratisches Problem" sein?
    Lindner: Nach den Zahlen der Bundesregierung selbst, nämlich ihres Normenkontrollrats, beansprucht der Mindestlohn etwa zehn Milliarden Euro Bürokratiekosten im Jahr. Und ich sage das auch noch ein fünftes oder sechstes Mal: Es ist überflüssige Bürokratie, die wir nicht brauchen.
    Schulz: Herr Lindner, aber der Normenkontrollrat hat ja auch gesagt, dass in dem Fall "Bürokratiekosten" als Personalkosten anfallen. Es heißt, zehn Milliarden Euro werden sozusagen irgendwo verdient und kommen so ja auch in den wirtschaftlichen Kreislauf. Ist das Argument mit der Bürokratie in dem Fall nicht wirklich reine Polemik?
    Lindner: Der Normenkontrollrat hat nicht von Lohnkosten, die jetzt steigen, gesprochen, sondern vom Erfassungsaufwand und auch von Fragen der Administration auf staatlicher Seite. Ich merke bei Ihnen ein gewisses Verständnis für die Große Koalition in dieser Frage. Da kommen wir beide, Frau Schulz, nicht zusammen. Ich halte es für überflüssig. Dass der Koalitionsgipfel nichts daran verändert hat, ist für mich ein Zeichen, dass all die Erwartungen enttäuscht werden, dass jetzt in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode mehr getan wird für Wachstum und dass die Eingriffe in wirtschaftliche Freiheit unterbleiben. Diese Erwartungen sind alle enttäuscht worden, auch die Hoffnungen, die die CDU geschürt hat.
    "Mindestlohn könnte Standortnachteile bringen"
    Schulz: Herr Lindner, jetzt versuche ich ja gerade erst mal, Sie und Ihre Argumente zu verstehen, und da möchte ich wissen: Sie wollen die FDP neu ausrichten. Die FDP ist nach wie vor auf Bundesebene in der Sonntagsfrage unter der Fünf-Prozent-Hürde. Mit Ihrer scharfen Kritik am Mindestlohn, sind und bleiben Sie da nicht eine Partei der Besserverdienenden?
    Lindner: Kein bisschen! Meine Sorge gilt nicht den Besserverdienenden. Entschuldigen Sie bitte mal. Kein Besserverdiener ist von 8,50 Euro Kraft Natur der Sache betroffen. Jeder Facharbeiter in Deutschland verdient mehr. Meine Sorge beim Mindestlohn ist, dass die Tarifpolitik sich insgesamt verändert, zum Nachteil des Standorts. Das wird man erst in einigen Jahren sehen. Und vor allen Dingen geht es mir um die Leute, die Einstiegsgelegenheiten brauchen. Die sind nämlich in besonderer Weise betroffen, wovor ja nicht nur die FDP, sondern auch die Caritas warnt.
    Wenn Sie über die FDP sprechen, Frau Schulz, da ist das Thema Mindestlohn nun wirklich nicht das Zentrum dessen, worum es uns politisch geht. Wir nehmen wahr, dass der Einzelne in dieser Zeit abkassiert, bürokratisiert, bevormundet und mit der Vorratsdatenspeicherung künftig auch wieder bespitzelt werden soll. Dagegen wenden wir uns insgesamt, weil wir wollen den Einzelnen stark machen und nicht den Staat allein groß.
    Schulz: …, sagt der FDP-Chef Christian Lindner hier heute in den „Informationen am Morgen“ im Deutschlandfunk. Danke Ihnen!
    Lindner: Danke Ihnen, Frau Schulz. Schönen Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.