Thomas nimmt all diese Chancen und Aussichten recht gelassen - durchaus eine Qualität des Alters.
“Ich verspüre nicht viel Erwartungsdruck, um ehrlich zu sein. Ich will einfach die Gelegenheit nutzen. Eine Menge Leute haben mich schon abgeschrieben. Aber schon letztes Jahr habe ich sie eines Besseren belehrt. Das hier ist meine Bonusrunde sozusagen. Ich erfreue mich einfach daran, mein Rad zu fahren. Es ist auch so, dass du erst, wenn sich deine Karriere dem Ende zuneigt, bemerkst, wieviel Glück man hat, mit dem Rad den Lebensunterhalt verdienen zu können. Und du bemerkst auch, dass das nicht ewig so weiter gehen wird. Und deshalb willst du das Beste daraus machen. Dafür bin ich jetzt hier.“
Das ist eine gute Einstellung, um in den Giro zu gehen. Denn der ist die verrückteste der drei großen Rundfahrten. Die Berge sind oft die steilsten, weil die Organisatoren den Exzess suchen. Hinzu kommt das Wetter, mit Kälteeinbrüchen, Regenfällen und damit verbunden auch Stürzen. Einige Favoriten sind bereits ausgeschieden, teils wegen Stürzen, teils wegen Erkältungen, teils auch aufgrund von Covid.
Thomas profitiert von Erfahrungsschatz
Thomas hat gelernt, damit umzugehen. Die Covid-Welle im Peloton macht ihn nicht panisch.
“Ich denke, wir müssen uns dessen wieder stärker bewusst werden, was wir machten, als Covid da war, 2020 und 2021. Wir waren in unserer Blase, trugen Masken. Als Team greifen wir wieder auf diese Strategie zurück. Und wenn alle anderen das auch machen, dann kann man die Ausfälle stoppen, denn jeder Fahrer, der nach Hause muss, ist ein massiver Verlust.“
Seinen Erfahrungsschatz an Stürzen hat er auch, gerade beim Giro. In der Wertung der kuriosesten Sturzopfer hier rangiert Thomas sogar ziemlich weit vorn. Zum Beispiel bei der neunten Etappe des Giro 2017:
„Das Polizeimotorrad bringt das ganze Sky Team zu Fall. Geraint Thomas am Boden. Er sieht verletzt aus und ich weiß nicht, ob er diesen Giro d’Italia noch fortsetzen kann..."
Das Polizeimotorrad stand am Straßenrand. Das Sky-Team um Geraint Thomas konnte nicht mehr ausweichen. Thomas stürzte und verlor an diesem Tag mehr als fünf Minuten. Einige Tage quälte er sich noch beim Giro, dann stieg er aus, körperlich angeschlagen und mental ausgelaugt.
2020 reiste er mit den Meriten eines Tour de France-Siegers nach Italien. Und wieder stürzte er, sogar noch kurioser:
Es war die Trinkflasche eines Kollegen, über die Thomas stürzte. Er verlor an diesem Tag mehr als zwölf Minuten. Tags darauf trat er nicht mehr an. Röntgenaufnahmen zeigten einen Beckenbruch. Hoch zum Ziel am Vulkan Ätna war der hart gesottene Waliser dennoch gefahren.
Ruhe und Gelassenheit im Team Ineos
Den Giro 2020 gewann schließlich Teamkollege Tao Geoghegan Hart. Der wiederrum ist bei diesem Giro gestürzt und bereits ausgeschieden. Deshalb ist Altmeister Thomas der Boss beim britischen Rennstall Ineos. Er führt dort mit Reife, Ruhe und Freude am Job.
“Der Giro ist einfach schön. Ich musste die letzten beiden Male mit Stürzen raus, deshalb wollte ich auch zurückkehren. Das dritte Mal bringt vielleicht Glück. Ich will das Rennen zumindest zu Ende fahren und es genießen. Und dann natürlich sehen, was ich erreichen kann.“
Ruhe und Gelassenheit ist momentan die erste Rennstallpflicht bei Team Ineos. Das war früher ganz anders. Als der Rennstall noch Sky hieß und die großen Rundfahrten dominierte, herrschte Siegeswille pur. Alles musste perfekt sein. Marginal Gains, die Summe der Minimalvorteile, war der Leitspruch. Inzwischen aber sind die Fahrer, die das Talent für einen Tour de France-Sieg haben, bei anderen Rennställen unter Vertrag.
Und Team Ineos wirkt eher wie eine alte Rockband, mit der Erfahrung von unzähligen Gigs in verräucherten Kneipen. Die Rolle als Backstagemanager hat Rod Ellingworth inne. Der neue Rennstallchef wurde bei Kneipenrennen groß, die sein Vater organisierte. Selbst wollte er lange Zeit Feuerwehrmann werden, bevor er dann doch die Trainerlaufbahn einschlug. Er ist ebenfalls ein Muster an Gelassenheit.
“Beim Giro weißt du nie so genau, was passiert. Deshalb musst du mit den Füßen auf dem Teppich bleiben, das mitnehmen, was du bekommen kannst und einfach jeden Tag hart arbeiten. Das ist alles, was du tun kannst. Und vor allem nicht zu euphorisch werden. Das ist das, was ich sagen würde.“
Letztes großes Rennen in Rosa
Nicht zu euphorisch werden, nicht überziehen, sparsam mit den Kräften umgehen. Thomas nutzte nach einigen Tagen der Glorie im Rosa-Trikot dann auch gleich die erste beste Gelegenheit, das Trikot wieder loszuwerden und dadurch seine Teamkollegen etwas schonen zu können. Sie ließen eine Fluchtgruppe auf über 20 Minuten davonziehen. Als gute Entscheidung verteidigte Thomas dies.
Rosa will er vor allem am Ende des Rennens, der vermutlich letzten großen Rundfahrt seiner Karriere. Mit dem Giro hat er inzwischen seinen Frieden gefunden, obwohl ihn früher hier das Pech schier verfolgte. Eine Radsportgeschichte mit vielen Tiefen steuert auf ein mildes Ende zu.