"Wer ruft denn mitten in der Nacht an?"
"Achtung! Ihr Roman "Schreie hinter Klostermauern" hat die kritische Abbruchquote erreicht. Auf Seite 13 stellen 25 Prozent Ihrer relevanten Zielgruppe – weiblich, 40 bis 50 Jahre – die Lektüre ein. Ich wiederhole. Ihr Roman "Schreie hinter Klostermauern"."
"Nicht schon wieder."
Noch werden keine Autoren nachts aus dem Bett geklingelt, weil ihr Roman eine zu hohe Abbruchquote hat. Aber: Solche Daten lassen sich bei E-Books inzwischen genau bestimmen.
Werbebasierte E-Book-Leseflatrate
Miriam Behmer ist Geschäftsführerin des Start-ups "Readfy". Eine App, die werbebasiert eine E-Book-Leseflatrate anbietet. Und dabei sammelt sie fleißig anonymisiert alle möglichen Daten, um sie dann den Verlagen zur Verfügung zu stellen.
"Ein Thema sind zum Beispiel Zielgruppenanalysen. Also wer liest eigentlich das Buch. Sind das Frauen, sind das Männer, welches Alter? Kommen die vielleicht aus bestimmten Regionen? Ein ganz wichtiges Thema: Wie lesen Kunden? Also zum Beispiel Wieviel Prozent von dem E-Book wird denn eigentlich gelesen? Wird dieses E-Book eigentlich nach 20 Prozent immer abgebrochen. Was sehr spannend ist - nicht aus Verlagssicht, sondern aus Händlersicht – solche Daten sind die Chance, den einen Nachteil, den man gegenüber stationären Buchhandlungen hat, auszubügeln, und das ist der fehlende Kontakt zum Kunden."
Es gibt jetzt Informationen, welche Bücher besonders schnell und bis zum Ende gelesen wurden. Oder welche sehr früh abgebrochen wurden. Diese Daten sollen helfen neue, erfolgreiche Buchprojekte anzustoßen. Oder Nutzer mit gezielter Werbung zu bespielen.
"Es sind schon eher Mainstream-Titel, die generell in diesen Flatrate-Modellen gut funktionieren. Die aber auch generell gesagt im E-Book-Markt gut funktionieren."
"Datensammelei" wichtig für Selfpublisher
Auf Readfy etwa ist jedes fünfte gelesene Buch ein Erotikschmöker. Ansonsten viele Thriller und Science-Fiction. Verfasser dieser Mainstream-Titel sind zunehmend Selfpublisher. Miriam Behmer glaubt, dass die Datensammelei gerade für diese Autoren wichtig sei, um ihre Bücher zu optimieren:
"Es gibt schon sehr sehr viele Selfpublishing-Autoren, die zum Beispiel bei Google gucken, was wird denn bei Google gerade viel gesucht oder bei Amazon oder bei Facebook. Und dann um diese Suchbegriffe herum eine Story schreiben. Und dann ist es eigentlich nur der konsequente nächste Schritt, dass man sich als Autor damit auseinandersetzt: Wie gut ist denn mein Buch eigentlich angekommen?"
Das aber ist erst einmal nicht die Strategie von avancierten Literaturverlagen. Hier vertraut man mehr auf die literarische Neugierde der Leser.
Florian Kessler ist Lektor des renommierten Hanser Verlags. Er glaubt ans Chaos. Daran, dass es Leser-Stimmungen gibt:
"Ich bin immer sehr optimistisch, was Leser angeht. Und ich glaube, Leser wollen gar nicht immer nur ein Schema haben. Und diese Stimmungen. Da bin ich mir sicher, dass die nicht komplett durchzurechnen sind."
Dennoch: Auch bei Verlagen mit einem Programm avancierter Literatur steigt das Interesse an solchen Nutzerdaten:
"Die Zahlen werden halt immer nackter. Man bekommt immer klarer mit, was überhaupt wirklich geschieht. Wer liest. Was gelesen wird. Das ist etwas Neues. Und wie wirkt sich das dann auf eine Branche aus? Das bedeutet natürlich, dass man immer stärker auch über diese Zahlen nachdenkt."
Was nicht genutzt wird, verschwindet
Und gerade auf dem Sachbuchmarkt versprechen solche Zahlen Umsatz. Miriam Behmer:
"Bei Kochbüchern machen wir das viel. Welche Rezepte werden eigentlich in einem Kochbuch gelesen und welche nicht. Es ist natürlich so, dass wir die Daten an unsere Partnerverlage zurückspülen, so dass der Verlag die Chance hat, seine Content Produktion auf das direkte Userverhalten auszulegen."
Auf Deutsch. Rezepte, die nicht genutzt werden, verschwinden aus dem Kochbuch. Oder Themen in Sachbüchern, die auf besonderes Interesse stoßen, sind dann Anlass für eine neu herausgebrachte Monografie.
Übertragen auf Literatur hieße das: Kapitel, die nicht funktionieren, könnten rausgeschmissen oder geändert werden. Besonders gelungene Schemata würden immer wieder angewandt. Florian Kessler kann mit solchen Ideen nur wenig anfangen.
"Ich wäre sehr enttäuscht, wenn ich beim Roman wüsste, wie er funktionieren muss. Ich möchte auf jeden Fall, dass ich nicht die Bausteine und Bauformen kennen kann. Und ich glaube, auch dafür gibt es viele Leser, die genau das suchen und wollen."
Am Thema der Leseranalyse lässt sich ganz klar ablesen, dass der Buchmarkt gespalten ist. Zwischen der Literatur, die gefällig sein will. Und solcher, die ihren literarischen Wert auch in der Irritation sucht und an eigenen ästhetischen Konzepten arbeitet. Bei den anderen klingelt vielleicht irgendwann nachts das Telefon:
"Achtung! Ihr Roman "Mord in Mainz" hat die kritische Abbruchquote erreicht."