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Glaube an das universale Recht

Er wird "Vater der Bundesverfassung" genannt: Denn Hans Kelsen war einer derjenigen, der das österreichische Bundesverfassungsgesetz geschrieben hat. Gelesen wurde Kelsen eigentlich immer - doch seit einigen Jahren wird sein Werk wieder entdeckt, nicht nur von Juristen.

Von Alexandra Kemmerer |
    Schon den Zeitgenossen galt Hans Kelsen, 1881 in Prag geboren, als herausragende Gestalt seiner Disziplin. Ein ganzes Leben arbeitete er am Projekt der "Reinen Rechtslehre", einer von Metaphysik und Ideologie bereinigten Rechtswissenschaft, die Recht nicht als politisches Instrument oder von einem höheren Wesen abzuleitende Herrschaftsform versteht. Wirtschaftliche Interessen, moralische Festlegungen und religiöse Vorstellungen werden ausgeklammert – aber nicht etwa, um die Realität auszublenden, sondern um genauer erkennen zu können, wo und wie soziale, kulturelle oder politische Motive die vermeintlich "neutrale" Rechtssetzung und Rechtsfindung beeinflussen. Darum geht es der "Reinen Rechtslehre".

    Hans Kelsens gleichnamiges, 1934 in erster Auflage vorgelegtes Buch zählt zu den rechtstheoretischen Schlüsselschriften des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit seiner strikten Trennung des Rechts von Politik und Moral entzauberte Kelsen den mythisch überhöhten Staat, der sich als gefährliche Brutstätte nationalistischer Aufladungen erwiesen hatte. Die "Reine Rechtslehre" versteht sich als Projekt der wissenschaftlichen Moderne, die auf logische Analyse setzt statt auf unwissenschaftliche Vorannahmen, Intuitionen und Mythen.

    Denn Wissenschaft hat als Erkenntnis das immanente Streben, ihren Gegenstand zu enthüllen. Ideologie aber verhüllt die Wirklichkeit, indem sie sie, in der Absicht, sie zu konservieren, zu verteidigen, verklärt, oder in der Absicht, sie anzugreifen, zu zerstören und durch eine andere zu ersetzen, entstellt.
    Als "blutleer" und "wertlos" wurde die "Reine Rechtslehre" von Kritikern gebrandmarkt, weil sie die Realität außen vor lasse. Tatsächlich ging es Kelsen aber um das Gegenteil: Durch eine präzise Trennung des Rechts von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Religion wollte er die außerrechtlichen Gegebenheiten, die politischen Antriebskräfte des Rechts, besser sichtbar machen. In der auch vom Bundesverfassungsgericht mitgetragenen Naturrechtsrenaissance der 50er und 60er-Jahre geriet er dann als Vertreter eines vermeintlich relativistisch überspannten Positivismus in Misskredit. Eine strikte Trennung von Recht und Moral könne, so der Vorwurf, dazu beitragen, dass Deutschland wieder in den Totalitarismus abgleite.

    Dabei ging es dem überzeugten Demokraten und Volksbildner Kelsen gerade um jene rationale Aufklärung, die Freiheit erst ermöglicht und den Bürger zu kritischem Urteil befähigt. In seinen Schriften zur Demokratie zeigt er sich nicht nur als deren Theoretiker, sondern auch als ihr Anwalt.
    Als Mitgestalter der österreichischen Verfassung von 1920 konnte Hans Kelsen seine Überlegungen in die Praxis umsetzen. Seine Konzeption einer zentralen Gerichtsinstanz als "Hüter der Verfassung" wurde später Gegenstand des berühmten Schlagabtauschs mit Carl Schmitt: Während Carl Schmitt die Verfassung in die Hände des Reichspräsidenten, also der Exekutive, legte, setzte Kelsen auf die Judikative, auf ein starkes Verfassungsgericht. Seine Konzeption sah Kelsen im Wiener Verfassungsgerichtshof verwirklicht, dem er selbst angehörte. Politische Querelen und antisemitische Ressentiments veranlassten 1930 den Wechsel nach Köln, bevor Kelsen durch die nationalsozialistische Entrechtung in die Emigration gezwungen wurde. Nach Stationen in Genf, Prag und Harvard lehrte er ab 1942 in Berkeley.

    Intensiv wandte sich Kelsen nun dem Völkerrecht zu, seine "Reine Rechtslehre" legte er 1960 noch einmal neubearbeitet vor. Doch schon in der ersten Auflage von 1934 finden sich Überlegungen zur internationalen Rechtsordnung. Darin relativiert Kelsen den Staat, indem er ihn als Teil einer universalen Völkerrechtsgemeinschaft versteht. Er wendet sich gegen die Verabsolutierung staatlicher Souveränität, auf die sich Staaten immer wider berufen, um sich internationaler Kooperation zu verschließen.

    Hinter der "Reinen Rechtslehre" des leidenschaftlichen Kosmopoliten Kelsen steht, so hat es der Völkerrechtler Jochen von Bernstorff formuliert, ein fester "Glaube an das universale Recht", an eine globale Rechtsordnung mit universell geltenden Normen. Angesichts einer internationalen Rechtsordnung, die zunehmend fragmentiert und ausdifferenziert ist, die unter Demokratiedefiziten ebenso leidet wie unter einer Tendenz zu expertokratischen Herrschaftsstrukturen, eröffnet Hans Kelsens analytischer Blick auf das Recht heute einen einzigartigen Raum des Nachdenkens über das Verhältnis und die Wechselwirkungen von Recht und Politik.


    Hans Kelsen: "Reine Rechtslehre – Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik". Verlag Mohr Siebeck, 181 Seiten, Euro 19, ISBN: 978-3161497032