Deutschlands christliche Kirchen hatten ihre beste Zeit in den 1940er- und 1950er-Jahren. Städte lagen in Schutt und Asche, die Zahl der Opfer des mörderischen Krieges ging in die Millionen, traumatisiert suchten Überlebende Hilfe und Orientierung bei den großen Konfessionen. Und fanden sie auch. Die Gotteshäuser waren voll, was Pfarrer sagten, hatte Gewicht. Ein Einfluss, den die Kirchen nutzten: Geschickt verbanden sie religiöse Werte mit politischen, wirtschaftlichen und nationalen Interessen. "Funktionale Diffusion" nennen Religionssoziologen diesen Prozess. Doch nach dem Aufstieg folgte der Fall, den Soziologen mit dem Begriff "Funktionale Differenzierung" umschreiben. Sobald die Ziele erreicht waren - also mit Beginn der 1960-Jahre - flaut das Interesse für Religion und Kirche ab. Ein Vorgang der bis heute anhält, so Detlef Pollak, Professor für Religionssoziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Autor der Studie "Religion in der Moderne - Ein internationaler Vergleich".
"Unsere Erklärung ist vor allem die, dass wir sagen, dass die moderne Gesellschaft in Deutschland und in Westeuropa insgesamt komplexer geworden ist, differenzierter, dass es immer mehr Angebote gibt an Freizeitaktivitäten, Unterhaltungsmöglichkeiten, Mobilität und so weiter, und dass diese Vervielfältigung der individuellen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten dazu beiträgt, dass man, wenn man religiöse Angebote unterbreitet, unter Konkurrenzdruck steht, und dann gewissermaßen das Interesse und die Aufmerksamkeit sich von den religiösen auf die säkularen Angebote verschiebt."
Vor allem Bildung spiele eine große Rolle. Sie gehe regelmäßig einher mit Wohlstand und liberalen Einstellungen zur Sexualmoral mit der Folge, dass die Geburtenrate sinkt. Dieser Zusammenhang - je höher der Lebensstandard, desto geringer die individuelle Religiosität - lasse sich zwar länderübergreifend nachweisen, so Gergely Rosta, Religionssoziologe an der Universität Münster und Mitautor des Buches "Religion in der Moderne", trotzdem gebe es aber auch Gegenbeispiele:
"Wie zum Beispiel im 19. Jahrhundert, unter den Arbeitern im damaligen England war gerade Religiosität unter den unteren Schichten, die mit sehr vielen Problemen zu kämpfen hatten, gerade nicht unbedingt willkommen."
"Entkirchlichung" Europas
Die "Entkirchlichung" der letzten 50 Jahre lasse sich in allen Ländern Europas beobachten. In Irland und Spanien verloren die Kirchen auch deshalb an Bedeutung, weil sie keinen Schutzwall gegenüber fremden Kulturen mehr sind. Prozess, die sich auch in Osteuropa nachweisen lassen. Viele Menschen wenden sich von den als autoritär und geldgierig empfundenen Kirchen ab und befürworten säkulare Strukturen. Nun bedeuten diese Resultate aber nicht, dass Religion gänzlich aus dem gesellschaftlichen Leben verschwindet. Die großen Kirchen schrumpfen zwar, gleichzeitig entstehen an den Rändern kleine religiöse Gruppen:
"Und zum Teil, das war eines der Ergebnisse unserer Studie, auch auf Kosten der Mehrheit! Man kann von den großen Religionsgemeinschaften, zum Beispiel von den großen Evangelischen Landeskirchen, dann unzufriedene Mitglieder abziehen, und die engagieren sich in den kleinen Gruppierungen und können dort auf der einen Seite ihre Unzufriedenheit gegenüber den großen Konfessionen zum Ausdruck bringen und zum andern sich aber auch stärker engagieren."
Hinzukommen esoterische Strömungen und Gruppen - häufig zusammengehalten durch das Internet - die aber alle einen entscheidenden Mangel haben: Ihnen fehlt der organisatorische Überbau, eine "Kirche", auf die sie sich orientieren können. So bunt und vielfältig alternative religiöse Gruppen auch sein mögen, gesellschaftspolitisch haben sie kaum Einfluss.
Religiöse Pluralität
Und noch eine weitere These stellt die Studie "Religion in der Moderne" infrage. Die Vermutung von der im Vergleich zu Europa größeren religiösen Pluralität der Vereinigten Staaten habe wissenschaftlich keinen Bestand, so Gergely Rosta.
"Einerseits hat sich diese Aussage relativiert, der Unterschied zwischen den USA und Europa sieht überhaupt nicht so gravierend aus, wie das oft vermutet wird, und zweitens - das war vielleicht noch wichtiger - dass diese vielleicht etwas höhere Pluralität an Religiosität bzw. an konfessioneller Zugehörigkeit in den USA gerade einen negativen Zusammenhang zur individuellen Religiosität hat, also, Menschen, die in einem pluralen Umfeld leben, mit niedriger Wahrscheinlichkeit religiös sind in den USA."
Dieses Ergebnis habe auch deshalb weitreichende Bedeutung, weil eine zweite häufig kolportierte These wankt: Der Einfluss religiöser Gruppen auf die aktuelle Politik schwächt sich auch in den USA ab. Detlef Pollak.
"Wir haben in den USA tatsächlich eine starke Polarisierung auf dem religiösen Feld. Auf der einen Seite die stark evangelikalen Gruppierungen, die eben auch politisch aktiv sind, moralisch, in Fragen der Abtreibung und so weiter, da werden religiöse Fragen mit anderen Problemen vermischt, und die anderen sagen, das sollte man nicht vermischen, und die dann, weil das vermischt wird, sagen, ich bin dafür, eher auf Distanz zu gehen zur Religion insgesamt."
Religionen verlieren zunehmend ihre soziale Funktion
Erschwerend komme das erstaunlich geringe Mobilisierungspotenzial der Kirchen hinzu. Was immer sie auch tun, wie sehr sie ihre Angebote dem Zeitgeist anpassen, die Zahl der Kirchenaustritte klettert unaufhaltsam nach oben, während die Zahl die Kirchgänger auf niedrigem Niveau stagniert: Aktuell besuchen nur noch etwa 17 Prozent der Katholiken regelmäßig den Gottesdienst, bei den Protestanten sind es gerade mal rund fünf Prozent.
"Das ist auch ein wichtiger Punkt unserer These, dass dieser Rückgang der Religiosität nicht unbedingt auf eine bewusste Entscheidung gegen Religion zurückzuführen ist, sondern vielleicht darauf, dass Religiosität langsam als schleichenden Prozess eine immer geringere Rolle für das Leben des Einzelnen spielt."
Religionen verlieren zunehmend ihre soziale Funktion! Von einer "Rückkehr der Götter" könne man in dieser Situation auf keinen Fall sprechen, Religion komplett abzuschreiben, dürfe man aber auch nicht, so Detlef Pollak.
"Sie hat Zukunft, aber ganz gewiss nicht als etwas, was unser ganzes Leben in der Lage ist, zu bestimmen!"