Der 53-jährige Fischer Madhusudan hat vor drei Monaten seinen dritten Tiger-Angriff überlebt. Seine linke Schulter ist von Narben gezeichnet. Er sagt:
"Das war ein riesiger Tiger. Ich habe in meinem Leben schon sehr viele Tiger gesehen, aber noch nie einen so starken. Mein Freund, der vorne im Boot saß, wog bestimmt um die 90 Kilogramm. Der Tiger hat ihn einfach mit seinem Maul weggeschleppt."
Der überlebende Madushudan musste seiner Nachbarin Sunita die Todesnachricht überbringen. "Ich habe immer zu unserer Göttin Bonbibi gebetet", sagt Sunita. "Aber sie hat mir nicht zugehört. Ich weiß nicht, welchen Fehler ich gemacht habe."
Im Reich der Tiger
Eine Entschädigung vom Staat bekommt Sunita nicht. Ihr getöteter Mann war mit Madhusudan in verbotenen Gewässern fischen. Im Schutzgebiet. Im Reich der Tiger. Madhusudan erklärt:
"Schauen Sie sich hier in unserem Dorf um. Hier gibt es keine Arbeit. Also gehen wir alle in den Dschungel und fischen. Wir müssen das machen."
Sie legen ihre Leben in die Hände von Bonbibi. Hindus, Muslime und Christen verehren die Schutzpatronin der Sunderbans gleichermaßen. Sie schreiben ihr die Kraft zu, es mit dem Tiger aufnehmen zu können, wie Madhusudan sagt:
"Ich werde Bonbibi immer verehren. Sie ist für uns die einzige Göttin. Alle, die in den Dschungel gehen, beten zu ihr. Bonbibi kann nicht alle gleichzeitig schützen. Natürlich verlieren die, denen etwas zustößt, zwischendurch den Glauben. Das ist normal."
Sunita wünscht sich mit leiser Stimme den Tod aller Tiger. Ein paar Häuser weiter lebt Kaushalya. Sie saß gemeinsam mit ihrem Mann im Boot, als der König des Dschungels angriff, sagt sie:
"Ich konnte nur wie erstarrt zusehen. Wir waren zu dritt. Wir wurden alle aus dem Boot geschleudert, keiner konnte meinem Mann helfen. Der Tiger packte ihn einfach und schwamm mit ihm weg. Bonbibi hat meinen Mann nicht beschützt. Trotzdem glaube ich, dass sie allmächtig ist. Was sie entscheidet, ist gut und richtig. Unser Leben und unser Tod liegen in ihrer Hand."
Der Tiger als Freund und Feind
Trotz allem wünscht Kaushalya den Tigern nicht den Tod. Sie hat Kontakt zu Umweltaktivsten, die auf den 54 bewohnten Inseln im indischen Teil der Sunderbans unterwegs sind. Sie erklärt:
"Wenn wir den Tiger töten, werden die Sunderbans nicht überleben. Dann werden die Menschen den Wald zerstören. Es gibt die Sunderbans nur noch, weil es den Tiger gibt, der den Menschen Angst einflößt. Ohne Tiger verschwindet die Angst. Und wenn die Angst der Menschen verschwindet, verschwindet der Wald. Ohne Wald können wir hier nicht mehr leben."
Das Leben in den einzigartigen Sunderbans ist eine große Herausforderung für Mensch und Tier. Göttin Bonbibi hat noch nicht entschieden, wie der Überlebenskampf in den Mangroven am Ende von Indiens heiligstem Fluss ausgeht.