Archiv

Glaubensgeschichten von 89ern, Teil 2
"Ein Ereignis der Befreiung"

Frank Richter war 1989 katholischer Priester in Dresden. Er betete dafür, dass die Revolution friedlich blieb. Mittlerweile ist er kein Geistlicher mehr, sondern SPD-Abgeordneter im sächsischen Landtag. Sein Glaube gebe ihm seelische Stabilität, sagt er. "Politik kostet seelische Stabilität".

Frank Richter, protokolliert von Angelika Schmidt-Biesalski |
Montagsdemo in Dresden am 23. Oktober 1989. Menschen halten ein Banner mit dem Spruch "Neuverfassung der Verfassung" hoch.
Als Priester in der Hofkirche Dresden war Frank Richter 1989 im Zentrum der politischen Auseinandersetzungen - Aufnahme vom 23. Oktober 1989 (imago/Ulrich Hässler)
Frank Richter, 1960 in Meißen geboren, studierte nach dem Abitur katholische Theologie und wurde 1987 zum Priester geweiht. Er arbeitet in den ersten Jahren in Dresden, dann auch in anderen Gemeinden, bis er 2006 sein Amt aufgibt, weil er heiraten will. Seitdem engagiert er sich politisch, ist seit 2019 Abgeordneter im Sächsischen Landtag für die SPD.
Er erzählt: "Mein Leben in der DDR war ein sehr ambivalentes. Weil einerseits lehnte die Familie, in der ich groß geworden bin, die Kirchgemeinde, in der ich aufgewachsen bin, eine kleine katholische Gemeinde in Rosenheim bei Meißen, sehr eindeutig das politische und staatliche System der DDR ab. Also, es gab bei uns zuhause und auch kirchlicherseits überhaupt keinen Zweifel daran, dass dieser atheistische, marxistische, leninistische Staat, der ja von sich behauptete, im Alleinbesitz einer wissenschaftlichen Weltanschauung zu sein, die atheistisch sein musste, dass wir den ablehnten, da gab es keinen Zweifel.
Andererseits erinnere ich eine glückliche Kindheit. Ich hatte eine wunderbare Großmutter, bin viele Jahre bei ihr auch aufgewachsen, weil meine Eltern sehr viel zu tun hatten, erinnere mich daran, wie die mit mir gebetet hat, das hat mich tief geprägt. Die hat mit mir abends immer diese 14 Englein aufgerufen, aus Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel, die um das Bett herum standen, und ich habe die da stehen sehen, wenn meine Großmutter mir von denen erzählte. Ich habe einen sehr intelligenten, klugen katholischen Pfarrer gehabt, der uns als Jungens erzogen hat, kirchlich sozialisiert hat, mit einer großen Liberalität – ein alter Herr, der aus dem Westen in den Osten gekommen war, der als junger Mann gegen die Nazis gekämpft hat, deshalb für ein paar Monate mal im Konzentrationslager war usw. Das heißt, ich habe den Staat abgelehnt und gleichermaßen in diesem Staat in Familie, in Kirche, auch in Schule sehr viel Schönes erlebt. Übrigens auch im Blick auf humanistische Bildung. Unterhalb der Decke der Ideologie gab es in der DDR durchaus viele gute Lehrer, die geeignet waren, uns humanistisch zu erziehen. Also in dieser Ambivalenz bin ich aufgewachsen."
"Im Zentrum der Auseinandersetzungen"
Frank Richter durfte Abitur machen, obwohl er die Jugendweihe verweigert hatte. Er erklärt das damit, dass seine ländlich geprägte Schule Oberschüler geradezu suchte, um ihre leeren Plätze zu füllen. Trotz exzellenter Noten durfte er aber nicht Lehrer werden. Als er nach 1990 seine Stasi-Akte einsah, wusste er warum. Zwei Lehrer und auch zwei Mitschüler hatten als IM über ihn an die Stasi berichtet.
"Glück im Unglück, oder man kann aus allem auch was Gutes machen. Ich hab dann Theologie studiert, nachdem ich noch vorher 18 Monate meinen Dienst als Bausoldat, also ohne Waffe, ableisten musste, und bin dann später Priester geworden. Ich bin 1987 hier in Dresden zum Priester geweiht und meine erste Kaplan-Stelle war sofort in Dresden und auch die zweite dann direkt in der Hofkirche hier in Dresden, das heißt, ich kam im September 1989 direkt ins Zentrum der Stadt Dresden und damit auch in das Zentrum der politischen Auseinandersetzungen, die sich ja in vielen anderen Städten in der DDR auch abspielten."
"Drei historische Ereignisse"
Frank Richter ist Priester in einem der Zentren der Friedlichen Revolution, als am 9. November 1989 die Mauer fällt und es im folgenden Jahr zur Wiedervereinigung kommt.
"Mir ist wichtig, drei historische Ereignisse zu unterscheiden, drei Ereignisse, die man nicht trennen kann, aber unterscheiden muss, weil man ansonsten post factum politisch-ideologisch wird. Das erste: Die Friedliche Revolution in der DDR, die stattfand bevor die Mauer fiel und bevor es eigentlich denkbar war, dass die Mauer so schnell fallen wird.
Das heißt, wir können doch jetzt nicht im Nachhinein so tun, als habe es eine Zwangsläufigkeit gegeben, die hat es nicht gegeben. Zunächst haben Menschen in der DDR, und da waren Christen sehr maßgeblich beteiligt, ja die Machtfrage gestellt, sie sind auf die Straße gegangen, sie haben gesagt, wir wollen ein anderes, ein freies, ein demokratisches Land. Dann kam der 9. November, damit der Fall der Mauer – der Begriff ist übrigens auch nicht sehr glücklich, die ist nicht gefallen, sie öffnete sich. Nicht nur die Mauer, sondern auch die innerdeutsche Grenze. Und auch damit war noch nicht zwangsläufig an Wiedervereinigung zu denken.
Wiedervereinigung wurde nun plötzlich denkbar und der Weg ging in diese Richtung, aber zunächst war es einfach ein Ereignis der Befreiung. Und dann schließlich nach einem Jahr kam es zur Wiedervereinigung Deutschlands, über die ich mich sehr gefreut habe. Gleichwohl muss man konstatieren, dass der Begriff wohl eher ein Blockierungsbegriff ist, weil er etwas andeutet, was nicht der Fall war. Wiedervereinigung insinuiert Augenhöhe, es hat keine Augenhöhe gegeben, sondern es war letztlich dann schon ein Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, das heißt, ein Staat gibt seine Existenz auf und übergibt sich ganz und gar in die Hände eines anderen Staates, weil es die Mehrheit wollte, jedenfalls in der DDR. Aber gleichwohl, wie sagt man so schön: Manchmal will man etwas, und wenn man’s hat und sich das noch genauer anschauen kann, überlegt man schon mal, ob man es hätte wollen sollen. Aber das ist nun vorbei – drei Ereignisse, die zusammenhängen, und das Jahr 1989 bis zum Oktober 1990 gehört zu den großartigsten und glücklichsten Jahren der deutschen Geschichte."
"Ein anderer großer Mitspieler"
Frank Richter ist da noch lange, bis 2006, Priester. Hat die Friedliche Revolution, die Wiedervereinigung Einfluss auf seinen Glauben gehabt, ihn vielleicht sogar verändert?
"Diese Ereignisse haben meinen Glauben in einer unglaublichen Weise verstärkt und vieles von dem, was ich vorher so theoretisch im Kopf trug oder im Herzen hatte, hat sich dann einfach bewahrheitet. Vor allen Dingen dahingehend, dass ich erlebt habe, es kann gut werden, wenn man sich gewissenhaft, gut, ehrlich verhält. Es gibt offenbar Fügungen in der Geschichte, die so großartig sind, dass man sie sich gar nicht ausdenken konnte – also da ist immer noch ein anderer großer Mitspieler, mit dem wir rechnen sollten und der hat sich für mich persönlich in diesen Monaten offenbart in einer Weise, wie ich es vorher gar nicht ahnen konnte.
Ich erinnere mich sehr gut daran, wie intensiv, wie ehrlich, wie extensiv übrigens auch 1989 gebetet wurde und wie sehr ich auch gebetet habe. Die Seligpreisungen der Bergpredigt waren sozusagen das tägliche gedankliche Brot, das wir alle miteinander aßen in diesen Monaten der Friedlichen Revolution. Wenn in den Kirchen gebetet wird "Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben" und die entsprechenden Taizé-Gesänge immer wieder gesungen und gesummt werden und dann draußen auf der Straße gerufen wird "Keine Gewalt!" dann besteht ein Zusammenhang. Vorsicht mit Kurzschlüssigkeit, aber es liegt doch auf der Hand, dass damals die Ideen des Jesus von Nazareth politische Realität wurden.
Für mich war das geistlich durchdrungen und folglich hat sich mein christlicher Glaube damals einfach nur verstärkt. Und ich könnte nicht mehr in den Spiegel schauen, wenn ich das vergessen würde. Das geht auf das Konto des Dreifaltigen Gottes, das hat der meiner festen Überzeugung nach mit uns gemeinsam bewirkt, er ist der Herr der Geschichte, das glaube ich, und insofern werde ich das bis zu meinem Lebensende nicht vergessen."
Ganz neue Aufgaben
2006, nach 19 Jahren als Priester in verschiedenen Gemeinden, gibt Frank Richter sein Priesteramt auf. Er will heiraten und nicht in Unehrlichkeit leben. Das bedeutet nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch geistliche Heimatlosigkeit. Eine, zumindest vorübergehende Heimat findet er in der Altkatholischen Kirche, die sich ihm als "geistliches Asylbewerberheim" darstellt. Nach kurzen Stationen als Lehrer für Latein und Ethik im hessischen Offenbach und in Langen kehrt er zurück nach Dresden und findet eine ganz neue Aufgabe.
"Ich habe dann acht Jahre lang von 2009 bis 2017 gearbeitet als Direktor der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung und hab die weiter aufgebaut und in dem Zusammenhang bin ich ja auch sehr stark in diese Debatten um Pegida hineingeraten, weil das schlicht auch unsere Aufgabe war in dieser Institution, den demokratischen Diskurs voranzubringen. Pegida hat den demokratischen Diskurs ja 2014 in einem unglaublichen Maß vergiftet. Das heißt, wir mussten da ran, ich bin da auch sehr kritisiert worden, das konnte ich zum Teil verstehen, aber zum Teil auch nicht, weil wir – nicht nur ich alleine, sondern das ganze Team – schlicht nur unseren Job gemacht haben, als wir versucht haben, mit den Demonstranten hier und anderswo ins Gespräch zu kommen."
"Politik kostet seelische Stabilität"
2019 zieht Frank Richter als parteiloser Abgeordneter für die SPD in den Sächsischen Landtag ein. Das Priesteramt hatte er lange zuvor aufgegeben, aber "Priester" bleibt man sein Leben lang, sagt er. Was hat also sein Glaube mit der Politik zu tun?
"Ich hatte von Kindheit an in einer kirchlichen, in meinem Falle katholischen Erziehung das Glück, dass christlicher Glaube und politisches Engagement niemals als Gegensätze aufgefasst worden sind, sondern als die zwei Seiten der selben Medaille. Das, was im Inneren ist, muss nach außen, das Christentum hat einen Welt-Auftrag. Christentum ist nicht Politik, Christentum ist aber politisch relevant, weil es die Werte verkörpert, die in der Öffentlichkeit wirksam werden sollen. Das ist mir von vornherein klar gewesen. Außerdem relativiert der christliche Glaube auch jeden politischen Absolutheitsanspruch. Er ist also immer ein Stachel im Fleisch der Diktatoren dieser Welt.
Und jetzt, da ich nun eher im politischen Bereich tätig bin, merke ich, wie sehr mir mein christlicher Glaube hilft, weil er mir eine seelische Stabilität verleiht. Wer in der Politik seelische Stabilität sucht, wird sie vergeblich suchen. Politik erzeugt keine seelische Stabilität, Politik kostet seelische Stabilität. Also ist es wünschenswert, dass jeder Politiker auch über andere Ressourcen verfügt, als ausschließlich über den politischen Abraum. Insofern ist das Wort Jesu 'Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist' tief eingeprägt in mein Verständnis von der Verhältnisbestimmung zwischen christlichem Glauben und politischem Engagement."