Wolfgang Hochstrate, 1952 in eine Handwerkerfamilie in Haina in Süd-Thüringen geboren, wollte eigentlich nach dem Abitur Medizin studieren. Das wurde nicht genehmigt. Er studierte Evangelische Theologie, zum Entsetzen seiner Familie, wurde Pfarrer. Was keiner wusste: Die Stasi hatte ein Auge auf ihn, und er konnte nicht aus ihrem Blick geraten.
"Die Situation der Kirche in der DDR war – verglichen mit anderen Ostblockstaaten – recht gut, aber wenn man genauer hinschaute, da war es eben oft eine Politik der kleinen Nadelstiche gegen aktive Christen. Aktive Christen konnten sich bestimmte Karriere-Möglichkeiten abschminken oder die Möglichkeit, bestimmte Bildungswege zu gehen. Also offiziell gab es immer wieder das gute Miteinander von Christen und Marxisten, aber auf der unteren Ebene der Gemeinden war oft ein ganz schwieriges Verhältnis zwischen den einzelnen Funktionsträgern und der Kirche. Manchmal waren auch die Pfarrer schwierig zu nehmen, es kam immer ganz auf den einzelnen Menschen an, wie die kirchliche Situation vor Ort war. In der Regel aber schwierig."
"Möglichst gut durchkommen durch dieses Leben"
Als er sich zum Theologie-Studium entschloss, hatte er von alldem keine Ahnung – genauso wenig wie von Theologie. Es war mehr eine Verlegenheitslösung, in erster Linie wohl aus Interesse an dem, was in der Schule nicht vorgekommen war.
"Man hat sich fast dafür geschämt, dass der Wolfgang jetzt Theologie studiert. Und das berührt ja auch die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder nicht. Es war einfach ein Staat, wo Recht keine Kategorie war. Ich hatte erst Medizin studieren wollen, bekam keinen Studienplatz, weil mein Vater als Handwerker nicht in das Arbeiter- und Bauernschema passte. Ich habe das immer so verstanden: Ich lebe wie in einem Gefängnis, aber ich will wenigstens einige Freiräume ausschöpfen und will noch möglichst gut durchkommen durch dieses Leben. Und bin dann auch relativ bald in die Fänge der Stasi gekommen, die mich da rekrutiert hat. Und trotzdem wollte ich noch das Beste, nicht nur für mein Glaubensleben, auch für meine Familie."
Schuld als existenzielles Problem
Eine schwierige Situation. Wolfgang Hochstrate war seit Kurzem verheiratet, das erste Kind war bereits unterwegs. Seine Frau wollte Pädagogik studieren und Lehrerin werden.
"Dann hat man sich natürlich gefragt, wie weit muss man mit dem System mitschwimmen, dass meine Frau später Lehrerin sein kann, dass meine Kinder mal studieren können – es war immer wieder schwierig, aber der Glaube hat mir geholfen, hat mich gestärkt. Aber ich habe mich da auch von Anfang an stark mit dem Problem Sünde und Schuld auseinandergesetzt.
Als ich dann später Pfarrer war, und es war Konvent, Dienstbesprechung und ich habe eine Andacht gehalten, kam ich immer auf das Thema Sünde und Schuld zu sprechen; die Kollegen haben schon die Augen verdreht: 'Ach, der Kollege Hochstrate fängt schon wieder mit Sünde und Schuld an'. Das war einfach mein existenzielles Problem, mit dem ich mich da auseinandergesetzt habe."
Viele Jahre später erst, nachdem Wolfgang Hochstrate sich zu Sünde und Schuld bekannt hatte, haben sie es verstanden.
"Was ich hier tun soll, ist Unrecht"
Aber was hieß das eigentlich, "in die Fänge der Stasi geraten"?
"Die Situation, als ich angesprochen wurde, war im 2. Semester des Theologiestudiums. Meine Frau und ich wohnten in einer Abrisswohnung ohne staatliche Zuweisung, der erste Sohn war schon unterwegs und immer die Frage: Wie soll denn das mal werden? Da bekam ich eines Tages eine Vorladung auf ein Volkspolizei-Kreisamt in Leipzig West - ich wohnte in Leipzig Ost. Ich habe noch gedacht, geht’s vielleicht um diese Wohnungsproblematik. Kam ich da hin, saßen da drei Herren, haben sich so vorgestellt, schon als Ministerium für Staatssicherheit, und sie hätten bei der Karl-Marx-Universität, wo ich studierte, meine Akten durchgelesen. Und ich sang damals gerade auch im Universitätschor, und der plante gerade eine Reise nach Leningrad. Und da war der erste Aufhänger, das müsste doch abgesichert werden, dass keiner aus der Reihe tanzt.
Das ging im ersten Gespräch noch gar nicht so auf die kirchliche Studentengemeinde-Schiene, was sich dann später herausgestellt hat, sondern es waren erst mal so eigentlich lapidare Anliegen. Und trotzdem habe ich von der ersten Sekunde an nicht das Gefühl gehabt, ich könnte jetzt einfach Nein sagen und rausgehen. Ich habe später gesagt, 'ich bin rekrutiert worden.' Die haben meine Kaderakte gelesen und waren sich wahrscheinlich sicher, der Mann hat schon so viel versucht und begonnen und es ist alles nichts geworden – ich hatte zwischendurch mal ein Semester Schauspiel studiert – also, ich war für die Herren da ein gefundenes Fressen und habe aber trotzdem von der ersten Sekunde an das Gefühl gehabt, ich bin in eine Verstrickung hineingeraten, ich bin in Sünde und Schuld gefallen, das, was ich hier tun soll, ist Unrecht. Ich habe vom ersten Moment an mit mir gekämpft, wie komme ich da wieder raus ohne familiären Schaden für meine Frau und meine Kinder."
"Die Stasi wollte, dass ich Karriere mache"
Wolfgang Hochstrate war kommunikations- und kontaktfreudig, er war immer bei den Partnertreffen der evangelischen Studentengemeinden aus West und Ost dabei, sollte von dort berichten. Dann gab es plötzlich keine innerdeutsche Grenze mehr und auch keine Stasi.
"Zu DDR-Zeiten habe ich gedacht, ich wäre als einziger in eine Verstrickung geraten, warum hat das ausgerechnet mich getroffen, welches Schicksal hat mich ereilt; um dann nach der Wende, auch im Zuge der Aufarbeitung – ich habe mich da in Jena engagiert in so einem Aufarbeitungskreis – und dann habe ich mitgekriegt, dass das so viele waren. Mir wurde mal gesagt, dass von zwölf Oberkirchenräten acht als IMs geführt wurden, dass ich dachte, da bin ich doch gar nicht nötig gewesen, warum wollten die da an mir festhalten, obwohl ich so eine Art Bummelstreik gemacht habe, mich aus allem raushalten wollte, nach Möglichkeit die Erwartungen nicht erfüllt habe, warum halten die trotzdem an mir fest? Aber die Stasi wollte, dass ich Karriere mache, eines Tages selbst Oberkirchenrat oder vielleicht Bischof werde. Also mein Nutzen muss da gering gewesen sein, aber die Hoffnung, eines Tages wird der Hochstrate was, und dann werden wir von ihm Nutzen haben."
"Es gibt einen Gott der Geschichte"
Im Herbst 1990 wird das Thema Kirche und Stasi zum ersten Mal öffentlich. Der Bischof fordert auf: ‚Wer beichten will, dem wird vergeben‘. Wolfgang Hochstrate bittet um einen Gesprächstermin.
"Ich bin zur Landeskirche gegangen, habe ein Gespräch mit dem zuständigen Oberkirchenrat und dann mit dem Bischof geführt und war dann unendlich glücklich, dass ich es schon hinter mir hatte. Habe dann auch in dem Bischofsgespräch so freimütig alle meine Verstrickungen erzählt, dass der Bischof mich dann noch gefragt hat, ob ich noch stolz drauf wäre. Ja, das war ein bitterer Moment.
In der Wende, da war ich mir theologisch bewusst, es gibt einen Gott der Geschichte, der mächtig eingreift, der ganze Machtblöcke zersprengen kann, dem ich unendlich dankbar sein kann, dass er mich frei gemacht hat durch die äußeren Umstände, dass er mir die innere Kraft gegeben hat, auch die verschiedensten Beichten durchzustehen, nach dem Wort: 'Nur die Wahrheit wird euch frei machen.' Dann kamen aber die Zweifel über das Handeln der Kirche."
Es wird Pfarrer Hochstrate empfohlen, selber seine Entlassung aus dem kirchlichen Dienst zu beantragen, nach einer Karenzzeit könne er einen Antrag auf Rückkehr ins Pfarramt stellen. Er fühlt sich von seiner Kirche fallen gelassen, verdient sein Geld als Hausmeister und Nachtportier in Hotels, putzt schließlich in einem Luxushotel die Schuhe der Gäste.
"Die Wende hat mich frei gemacht"
Eine geistliche Heimat findet er in der Gemeinde Herleshausen, er leitet den Kirchenchor und spielt die Orgel. 1998 stellt er den Antrag auf Wiederaufnahme in den kirchlichen Dienst, 1999 wird er wieder Gemeindepfarrer.
"Ich muss fast mit einer Prise Humor sagen: In den 90er-Jahren, als ich nicht im kirchlichen Dienst war, ist einiges an mir vorbei gegangen, was andere Pfarrer zum Teil kaputt gespielt hat bis zum Burnout – die ganzen neuen Strukturfragen, neue Gemeinderegelungen, das ganze Problem Religionsunterricht, Wehrdienst-Verkündigung, das ist alles an mir vorüber gegangen. Und das hat vielleicht auch einen Teil dazu beigetragen, dass ich diese ganze Geschichte psychisch gesund, munter und fröhlich – frisch, fromm, fröhlich frei, das war mein Motto."
Wolfgang Hochstrate ist ein sehr beliebter Gemeindepfarrer in verschiedenen thüringischen Gemeinden bis er 2016 in den Ruhestand geht. Er ist glaubwürdig, denn er ist ehrlich und offen.
"Die Wende hat mich frei gemacht. Nicht nur äußerlich, dass ich plötzlich mit meiner Familie in die Alpen oder an den Rhein oder sonst wohin fahren konnte, sondern sie hat mich vor allem innerlich frei gemacht, dass ich frei wurde von meinen Verstrickungen, frei von meiner Schuld und Sünde – das ging bis in meine Träume hinein. Zu DDR-Zeiten, im Status der Verstrickung, was habe ich da für Träume gehabt: dass ich hingerichtet werde, dass ich gerade sterbe, dass ich irgendwo runter stürze. Und in dem Moment, wo ich frei wurde, da habe ich mich wie ein Vogel gefühlt, der fröhlich zwitschernd zum Himmel aufsteigt, wie schön ist das Leben, ich bin frei und fröhlich."