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Gleichberechtigung in Schweden (2/5)
Warum "MeToo" in Schweden so heftig einschlug

In der MeToo-Debatte berichteten in Schweden von der Politikerin bis zur Soldatin Tausende Frauen von Machtmissbrauch und sexuellen Übergriffen. Die Diskussion wurde in Schweden weit heftiger geführt als etwa in Deutschland. Warum?

Von Victoria Reith |
    Gabriella Olzon, MeToo-Aktivistin in Schweden, auf einer Kundgebung in Stockholm
    Die MeToo-Debatte, in Schweden losgetreten von Gabriella Olzon, schlug in dem Land hohe Wellen (Sputnik)
    "Du bist eine verdammte Hure. Wir werden dich umbringen und wir werden dich finden. Heute Nacht werden ich und meine Freunde in dein Zimmer kommen und wir werden dich würgen und wieder und wieder vergewaltigen und keiner wird dich schreien hören. Ich verspreche dir, Linnéa, wir sehen uns heute Abend."
    Von wem die Drohung kam, weiß Linnéa Claeson nicht. Die 25-Jährige mit den Regenbogenhaaren – so bezeichnet sie selbst ihre bunt gesträhnte, lange Mähne - kann die Zeilen, die ihr jemand auf Englisch geschickt hat, auswendig. Sie haben sich eingebrannt in das Gedächtnis der Jura-Studentin und Profi-Handballerin.
    Claeson beklagt seit Jahren öffentlich, dass für Sportlerinnen sexuelle Belästigung zum Alltag gehört und forderte eine Änderung des Sexualstrafrechts. "MeToo" verschaffte ihr Einladungen sämtlicher Fernsehsender – schnell wurde Linnéa Claeson eines der Gesichter der Debatte, manche sagen: die Galionsfigur.
    Auf dem Stockholmer Forum für Geschlechtergerechtigkeit schildert die junge Aktivistin ihre Erfahrungen.
    "Ich habe Angst bekommen, aber ich habe trotzdem entschieden, mutig zu sein, weiterzumachen, weil ich glaube, dass eine andere Welt möglich ist."
    "Wer nun wegsieht, entscheidet sich bewusst, nichts zu tun"
    Claeson trägt einen weißen Hosenanzug, einen weiß-schwarzen Mantel mit Leopardenmuster und weiße Stiefel. Sie wird von der EU-Kommission und dem schwedischen Parlament zu Diskussionen eingeladen, sie hat eine Kolumne in Schwedens größter Boulevardzeitung Aftonbladet und einen Instagram-Account namens "assholesonline" mit 250.000 Followern, auf dem sie postet, wie sie selbst beschimpft, angemacht oder bedroht wird. Auch ihre Antworten stellt sie online: humorvoll, ironisch, oft drastisch:
    "Ich verstehe, dass du grantiger Tastatursoldat dich mit deinen niederen Werten und deinen frauenverachtenden Interessen von der Ausrottung bedroht siehst. Aber das Patriarchat wird noch während deines Lebens fallen. Also entwickle dich mit – oder stirb."
    Die Handballerin und Jurastudentin Linnéa Claeson wurde zum prominenten Gesicht der Debatte in Schweden
    Die Handballerin und Jurastudentin Linnéa Claeson wurde zum prominenten Gesicht der Debatte in Schweden (Deutschlandradio / Victoria Reith)
    Wenn Männer ihr Nacktfotos schicken, postet sie die im Gegenzug auf deren Facebook-Chroniken. Manchmal leitet sie auch den Müttern weiter, was ihre Söhne so verschickt haben. Das gebe Ärger, egal wie alt die Männer seien, sagt Linnéa Claeson.
    "MeToo war eine Revolution für mich. Es ging nicht länger, zu sagen, dass man von nichts wusste, dass man keine Ahnung hatte. Alle, die nun wegsehen, entscheiden sich bewusst dafür, nichts zu tun. Das ist auch ein Statement."
    "Es hat Schweden grundsätzlich verändert"
    Fast jede Branche veröffentlichte ihren eigenen MeToo-Appell. 4.600 Frauen aus dem Baugewerbe, 1.700 Frauen aus der Armee, 10.000 Ärztinnen unterschrieben. Der erste Aufruf stammte aus der Film- und Theaterbranche. Dort, im Stockholmer Kulturbetrieb, ist auch Svante Weyler seit Jahrzehnten zu Hause. Der stets lächelnde, groß gewachsene 64-Jährige hat in Stockholms Altstadt seinen kleinen Verlag, in dem er Bücher aus dem Ausland auf Schwedisch herausgibt. Weyler hat hunderte Gespräche zur MeToo-Debatte geführt.
    "Um das ein bisschen vulgär auszudrücken, das war ein Riesending. Eins der wichtigsten Dinge in meinem Erwachsenenleben. Es hat Schweden verändert, grundsätzlich verändert. Wir sind natürlich überrascht über die Breite, über die vielen Fälle."
    Und das ausgerechnet in Schweden – einem Land, das in Europa und der Welt eigentlich als Vorbild in puncto Frauenrechten gilt.
    "Ab und zu kann man das Gefühl bekommen, wieso streiten sie sich so in Schweden? Alles ist doch zum Besten. Wenn es um Gehalt geht, nee! Da gibt es noch unerklärbare Unterschiede. Die sind nicht so groß, die sind vielleicht fünf oder zehn Prozent. Aber der kleine Unterschied schmerzt viel mehr als der große Unterschied."
    Eben weil man in Sachen Gleichstellung schon so weit gekommen sei, sagen viele, sei die MeToo-Debatte in Schweden so groß und heftig gewesen. Eine andere Erklärung: Die Schweden haben traditionell starke Gewerkschaften und Frauenrechts-Aktivistinnen; sie sind gewohnt, aufzubegehren.
    Diskussion um den Suizid eines Theaterchefs
    An der uneingeschränkt positiven Wirkung von Metoo gibt es allerdings auch in Schweden Zweifel. Spätestens seit dem Suizid von Benny Fredriksson, einem bekannten Theaterchef. In der Zeitung Aftonbladet hatten 40 Kulturschaffende ihm im Dezember einen autoritären Führungsstil vorgeworfen. Und mehr noch: Eine Schauspielerin habe er quasi zur Abtreibung gezwungen und zudem sexuelle Übergriffe in seinem Haus vertuscht, lauteten die Vorwürfe.
    Benny Fredriksson trat zurück; drei Monate später, im März, nahm er sich das Leben.
    Gegen Fredriksson selbst war keine Anklage wegen sexueller Belästigung erhoben worden. Der Abschlussbericht der Stadt Stockholm bestätigte nach seinem Tod die Unzufriedenheit mit seinem Führungsstil, fand aber keine Belege für sexuelle Belästigung.
    MeToo habe Schweden grundsätzlich verändert, sagt der Stockholmer Verleger Svante Weyler
    MeToo habe Schweden grundsätzlich verändert, sagt der Stockholmer Verleger Svante Weyler (Deutschlandradio / Victoria Reith)
    Verleger Svante Weyler, der Fredriksson gut kannte, unterstellt der Boulevardzeitung Aftonbladet, sie habe die MeToo-Welle benutzt, um mit Fredriksson abzurechnen, zu dem sie auch schon zuvor kein gutes Verhältnis gehabt habe.
    "Das war wahnsinnig tragisch, aber manche sagen, das war eine Folge der Metoo-Debatte. Was total falsch ist. Nur dass diese Zeitung die Gelegenheit, die etwas erhitzte Stimmung genutzt hat."
    Aktionspläne und schärfere Gesetze
    Dennoch: MeToo hat in Schweden politisch einiges bewirkt. Der Diskriminierungs-Ombudsmann verlangt nun von 40 Unternehmen vom Nationaltheater bis zum Obersten Gerichtshof detaillierte Berichte, was sie gegen sexuelle Diskriminierung im eigenen Haus tun.
    Im Zuge der MeToo-Debatte wurde außerdem ein verschärftes Sexualstrafrecht ausgearbeitet, das im Mai verabschiedet wurde, und ab Juli gilt: Sexuelle Übergriffe können in Zukunft auch dann geahndet werden, ohne dass das Opfer nachweisen muss, bedroht oder gezwungen worden zu sein. Und:
    Dann muss jeder Partner vor dem Sex ausdrücklich zustimmen.